Gombrowicz und Gombrowicz (Teil 2)

Gombrowicz und Gombrowicz (Teil 2)

Aus den Leben der Kosmopolen
Witold Gombrowicz in Vence | © Krzysztof Dybciak, 1981. Aus der Wochenzeitschrift

In dem Gombrowicz-Essay geht es um das Exil-Leben des polnischen Ausnahmeschriftstellers und um die Form, die eine andere Form beherrschen und gestalten will, wie es ihr gefällt, um sie kontrollierbarer zu machen. Witold Gombrowicz nennt diesen Vorgang »das Verpassen der Fresse« einer Person, die jemand mit seiner Vorstellung von dieser, also mit seiner eigenen Form, dann total dominiert, deformiert, ja psychisch terrorisiert und vergewaltigt.

Nach seiner Ankunft am 21. August 1939 in Buenos Aires geriet Gombrowicz in polnische Kreise ‒ zwangsweise ‒, in denen ihm das Verhalten und die Spielregeln unter seinen Landsleuten nicht gefielen. Die Situation war auch dramatisch. Der polnische Staat befand sich nach dem brutalen Überfall durch die deutsche Wehrmacht im Krieg, und die polnische Regierung war auf der Flucht ins Ausland. Aber keineswegs war Gombrowicz, wie manchmal zu lesen ist, vor den Deutschen aus Polen geflohen. Das behauptete auch Herling-Grudziński, der ihn im Sommer 1939 im Warschauer Café Zodiak traf und von seinem Meister vor der kommenden Katastrophe gewarnt wurde – mit der Folgerung, dass man fliehen müsse. Aber bei Gombrowiczs Abschied aus Polen handelte es sich um keine geplante Emigration. Vielmehr wurde er zehn Tage nach seiner Ankunft in Argentinien vom Kriegsausbruch überrascht, und, kaum in Buenos Aires, wandte er sich, schutzsuchend, zuallererst an die Botschaft seines Heimatlands. Rückblickend erwies sich die Schiffsreise mit der MS Chrobry, auf deren Jungfernfahrt er gemeinsam mit dem Schriftstellerkollegen Czesław Straszewicz eingeladen worden war, als seine Rettung vor dem Schlimmsten. Er hätte bei der Bombardierung Warschaus getötet werden oder einer łapanka – einer willkürlichen Straßenrazzia der deutschen Besatzer – zum Opfer fallen, in einem KZ oder beim Warschauer Aufstand 1944 umkommen können. Die Möglichkeit einer gezielten Ermordung als polnischer Intellektueller durch den sowjetischen NKWD hätte nach dem 17. September 1939, dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen, ebenso bestanden.

Apropos Zweiter Weltkrieg: Gombrowiczs vorletzter Roman Pornographie spielt zwar im Kriegspolen, aber schon im Vorwort betont der Autor, dass er diesen nicht erlebt habe und sich lediglich der Fantasie bediene, um ihn zu beschreiben bzw. als Bühne für seine Protagonisten zu benutzen.

In Argentinien empfing er dann nach 1945 polnische Besucher, die zwar gegenüber dem kommunistischen Regime kritisch waren, aber auch sehr verletzlich, voller polnischer Komplexe; die Volksrepublik Polen sei nämlich modern und fortschrittlich, erklärten sie oft, gar nicht rückständiger als Argentinien, wo die Regime und Junten ständig wechselten und das Land beherrschen würden.

Gombrowicz ließ sich auf solche Gespräche und Vergleiche ungern ein, zu sehr ließen sie erkennen, wie verstört, zwiegespalten und versehrt seine polnischen Gäste waren ‒ er las dafür lieber philosophische Schriften und diskutierte gerne mit seinen Freunden über den Existenzialismus, über Husserl und Hegel, über Kierkegaard und Sartre, dem er kein besonders gutes Zeugnis ausstellte, denn in seiner Essaysammlung Argentinische Streifzüge schreibt er: »Für viele ist der Existenzialismus eine Bande marktschreierischer Pariser Schmutzfinken, die Fingernägel kauen und aller Welt verkünden, ›alles ist erlaubt, man darf auch seinem Vater in die Fresse hauen‹. Die dümmlichen Pariser Moden haben den Polen die Vision dieser mächtigen geistigen Strömung verzerrt, die spontan in den fortschrittlichsten Ländern Europas entsteht. Auch wenn der Existenzialismus sich für den Polen nicht in einem langhaarigen und bärtigen Anarchisten personifiziert, dann beginnt und endet er auf jeden Fall mit Sartre, der auch – in dieser Version – ein atheistisch-amoralischer Dummkopf ist und behauptet, alles sei erlaubt, was man will. Stattdessen ist gerade Sartre, wenn auch tatsächlich Atheist, eben Moralist (das eine schließt das andere nicht aus) und versucht, uns neue ethische Nahrung zu liefern.«
Gombrowicz war dem Existenzialismus zugetan, weil er ihn für das Studium des Individuums und der Freiheit benötigte. Im selben Essay schreibt er: »Der Existenzialismus ist also nicht nur ein Nachdenken über das Leben oder die Dinge, sondern auch ein lebendiges, in höchstem Grade ›persönliches‹ Denken, das heißt eines, bei dem die ganze Persönlichkeit engagiert ist.«

Denn was ihn, Gombrowicz (und den Existenzialismus), an einem »Pferd« interessiert, ist nicht der Begriff »Pferd«, der uns, so Gombrowicz, über jedes einzelne lebendige konkrete Pferd, ein Individuum also, nichts sage, sondern die Unmöglichkeit, jede einzelne Form des Pferdes, die einzigartig ist, zu erfassen. In gewisser Hinsicht knüpft er hier an die »negative Dialektik« Adornos an, in der ein Begriff erst »negativ«, also fremd, werden muss, damit man ihn und sein Objekt der Begierde, das er beschreiben will, kritisch betrachten und sozusagen wiederbeleben kann. In dieser epistemologischen Problematik erkennt man auch schon weitere Anliegen des Schriftstellers, der nach seiner Rückkehr nach Europa im Jahre 1963 Polen, immerhin die Quelle seiner Inspiration und seiner Ideen, nicht mehr besuchen sollte. Gombrowicz suchte nämlich sein Leben lang nach Wahrhaftigkeit, nach der wahren Methode, sich selbst auszudrücken, ohne irgendwelche Verfälschungen zu riskieren. Sich zu befreien, sich fallen zu lassen, so zu sein, wie man ist, bevor man von anderen beherrscht wird, indem einem »Fressen« verpasst werden, bevor man wie ein »halbintelligenter« und (unreifer) »Popo« behandelt wird. Darum muss man sich in seinen literarischen Werken austoben, den Kritikern Saures geben, die Welt, die einen einengt, zerstören und allen, die darauf aus sind, andere zu beherrschen, seine scharfen Klauen zeigen und ihnen klare Grenzen setzen.
Diese Klauen zeigte er schon in Warschau und Buenos Aires, denn anders als Czesław Miłosz, war Gombrowicz ein geselliger Mensch, ein Schachspieler eben ‒ das heißt, es gibt den geselligen Gombrowicz und den misanthropischen, Gombrowicz 1 und Gombrowicz 2. Um gesellig zu sein, müsse man erstmal misanthropisch werden, würde er mit Bestimmtheit sagen. In Warschau, wo er Abitur gemacht und Jura studiert hatte, scharte er in den Cafés Zodiak und Ziemiańska Bewunderer um sich, die sogenannten »Kiebitze« (poln. kibice), und er genoss seinen ersten Stammtisch sehr ‒ als unterhaltsamer und intellektueller Rudelführer. Im Zodiak schaute auch Gustaw Herling-Grudziński regelmäßig vorbei, der damals Student der Polonistik war und zu Ferdydurke eine Rezension verfasste, die seinem Meister sogar gefiel.

In Buenos Aires residierte er zusammen mit jungen Künstlern, Schriftstellern und Schwulen im Café Rex, wo seine dortigen »Kiebitze« die von ihm ziemlich grob angefertigte Übersetzung von Ferdydurke in ein lesbares und poetisches Spanisch brachten ‒ begleitet wurde das Ganze oft von heftigen Diskussionen, zumal Gombrowicz in seinem Polnisch Neologismen, verschiedene rhythmisch-phonetische Eigenheiten und vor allem poetisch-symbolische Umschreibungen pflegte, die sich schwer übersetzen lassen.
1963 brach Gombrowicz nach Westberlin auf, da ihm ein Ford-Stipendium gewährt worden war: Und im Café Zuntz traf er sich auch an einem Stammtisch mit seinen deutschen Freunden und Kollegen, obwohl er gesundheitlich mehr und mehr angeschlagen war. Der damals junge Rechtsanwalt Otto Schily, später einer der markanten Gründer der Grünen, danach SPD-Innenminister, dürfte sich vermutlich noch gut an Gombrowicz in diesem Kreis erinnern; viele andere Westberliner Weggefährten sind natürlich nicht mehr am Leben.

Aber bevor Gombrowicz nach Europa zurückkehrte, besserte sich allmählich seine finanzielle Situation. Nach siebeneinhalb Jahren bei Banco Polaco wurden seine Werke in Argentinien und in Europa Buch für Buch veröffentlicht, was allerdings da wie dort nur mit Hilfe vieler Gönner und Unterstützer gelang. Zum Glück konnte er ab 1951 regelmäßig Beiträge in der Kultura publizieren, ehe dann im angeschlossenen Verlag der Pariser Exilzeitschrift von Jerzy Giedroyc auch seine Bücher herauskamen; einige der Erstausgaben aus dieser Zeit besitze ich selbst, darunter Ferdydurke oder die berühmten Tagebücher, sie sind mir kostbar.
Leider konnte Gombrowicz seine Rückkehr nach Europa nicht lange feiern und genießen – bereits während des Ford-Stipendiums, wo er u. a. von Walter Höllerer betreut wurde, plagten ihn Krankheiten, seine Lungenkrankheit aus der Jugend, Grippe und Asthma, zumal er Raucher war. Seine Schwester starb 1961 an Asthma, nur zwei Jahre nach dem Tod der Mutter, die ihm ein Ungeheuer gewesen sein musste, und wie Gombrowicz vermutete, nicht nur für ihn, sondern auch für andere Familienmitglieder. In Westberlin pflegte er weiterhin seinen Skeptizismus gegenüber jedweder Autorität und Institution, auch im Fall des Literarischen Colloquiums, mochte es auch als sein Verbündeter auftreten. In einem Interview, das man in Eine Art Testament liest, deklariert als sein letztes, sagt Gombrowicz: »Als ich vor vier Jahren in Berlin war, war ich Gast in einer Schule für Schriftsteller, und ich sollte eine Rede halten. Ich habe gesagt: ›Als allererstes, wenn Sie Schriftsteller werden wollen: machen Sie, dass Sie hier wegkommen, zu den Türen oder zu den Fenstern hinaus, das ist egal, aber hauen Sie sofort ab, weil Schriftsteller werden, das kann man nicht lernen, einem Schriftsteller ist nicht zu raten, ein Schriftsteller lässt sich nicht ausbilden …‹ Den Schriftsteller gibt es überhaupt nicht, jeder ist Schriftsteller, jeder kann schreiben.«

Hinter Gombrowiczs Schreiben scheint der ewige Skeptiker und Zweifler hervor, der jedoch keine Auseinandersetzungen scheute und mit seinen Werken provozierte, wie es nur ging. Bei allen Nöten war sein Leben dennoch voller Wunder und glücklicher Fügungen gewesen: Wie Miłosz konnte Gombrowicz in seinen jungen Jahren in Paris studieren, obwohl er ein fauler Student war und seinem »genervten« Vater mächtige Sorgen bereitete, der allerdings, Jahrgang 1868, 1933 verstarb. In Warschau schickte der Sohn aus vermögendem Hause den Diener an seiner statt zur Mitschrift zu den Vorlesungen. Und dadurch, dass er die Schrecken des deutschen Angriffskriegs und der Besatzungszeit nicht miterlebt hatte, imaginierte und kritisierte Gombrowicz ein Polen, das in seinen Werken ‒ als wäre der Zweite Weltkrieg gar nicht ausgebrochen ‒ weiterexistieren durfte, eben nicht nur sein Polen zwischen den beiden Weltkriegen, sondern ein Land, das sich ganz anders hätte entwickeln können, geistig und gesellschaftlich, wenn es die Deutschen nicht überfallen hätten.

Ich wage sogar die Behauptung, dass Gombrowicz nur deshalb mehr an Ideen, Verhaltensweisen, Schemata bei der Beschreibung seiner Romanfiguren interessiert gewesen war als an einem realistischen Abbild ‒ bis hin zum Schmerz des Ertragbaren wie bei Ernest Hemingway oder Tadeusz Borowski ‒, weil er eben mit der Zerstörung und Vernichtung, wie sie auf brutalste Art und Weise in Polen stattgefunden hatte, niemals unmittelbar konfrontiert wurde. Die Lesart, dass Gombrowicz mehr an der Entwicklung und Beschreibung der Ideen, die einzelne Figuren tragen und repräsentieren, als an einer realistischen Darstellung interessiert war, teilt auch Marek Zybura in seinem Essay zum hundertsten Geburtstag des Kosmopolen und Autors von Kosmos, nachzulesen in Zyburas Band Querdenker, Vermittler und Grenzüberschreiter von 2007.

Gombrowicz hatte Zeit, sich mit dem Existenzialismus zu beschäftigen, die Herzen der französischen Linken und Kommunisten, der rebellierenden Intellektuellen und Studenten zu erobern ‒ unter anderem das Herz von Daniel Cohn-Bendit ‒, während polnische Dichter, die die Okkupation durchlebt und überlebt hatten, erstmal nach einer neuen Sprache suchen muss ten, um die Gräuel der Nazis zu verarbeiten. Das gilt stellvertretend für Miłosz, Borowski, Jerzy Andrzejewski oder Roman Bratny.

Ende der Sechziger schwamm Gombrowicz auf einer riesigen Erfolgswelle, vor allem in Frankreich, wozu zwei Intellektuelle maßgeblich beigetragen haben, beides Kosmopolen, wie ich sie verstehe: Konstanty Jeleński und François Bondy, die Ferdydurke in den Pariser Kreisen zu einem Kultbuch machen konnten. In Deutschland war es der Verleger Günther Neske, der die Werke des berühmt gewordenen Exilanten herausgab, so auch die Tagebücher. Bezeichnend ist hier, dass Gombrowicz in der jungen Bundesrepublik somit einen Verleger fand, der in den Dreißigerjahren dem von ihm abgelehnten Nationalsozialismus den Rücken gekehrt hatte, indem er es vorzog, ins Ausland zu gehen, der in Basel und später in Rom lebte.
Die Volksrepublik Polen tat sich erwartungsgemäß schwer mit Gombrowicz, und ihre Haltung zu ihm war widersprüchlich und schwankte: Während der Tauwetterperiode wurde Gombrowicz wieder gedruckt, dann wieder nicht mehr, und 1974 tauchte er endlich auf polnischen Theaterbühnen auf. Ab Mitte der Achtzigerjahre erlebte Gombrowicz ein massives Comeback; er wurde in üppigen Werkausgaben veröffentlicht, nachdem bis dahin kleinformatige Samisdat-Drucke kursierten und ihr Publikum fanden, Kosmos zum Beispiel.

Ja, auch ich zähle mich zum Klub der Ferdydurkistki (Ferdy durkistinnen), den die Töchter von Jarosław Iwaszkiewicz ‒ noch vor Kriegsausbruch ‒ nach der Lektüre dieses unberechenbaren Romans im Geiste gegründet hatten, denn ich liebe diesen Roman, genauso wie Kosmos.

Aber ich liebe auch Trans-Atlantik, in dem Gombrowicz für und über Gombrowicz schreibt: Der Erzähler bleibt der barocken Tradition des Geplauders, des kurzweiligen Geschwätzes eines Jan Chryzostom Pasek (1636‒1701), treu, jedoch nur auf den ersten Blick, denn er paraphrasiert diesen Stil; es ist im Prinzip ein langer Monolog des Schriftstellers Witold Gombrowicz, der sich mit den suspekten Ausgeburten des Polentums auseinandersetzt: mit dem Sarmatismus also (»Wir werden den Feind schlagen!«, schreit der Minister Kosiubidzki Feliks in der polnischen Botschaft in Buenos Aires mantraartig immer wieder, womit er die Deutschen des 1. Septembers 1939 meint), und es ist eine Auseinandersetzung mit dem »Sohnesvaterland«, Synczyzna, und mit dem Heimatparadies aus dem Nationalepos Pan Tadeusz (zur Gänze: Herr Thaddäus oder Der letzte Einritt in Litauen) von Adam Mickiewicz, dem romantischen Mythos und Motiv, aber auch eine Auseinandersetzung mit dem modernen Polen, das im Sumpf des Nationalismus feststeckt und nicht vorwärtskommt, was wir leider während der PiS-Jahre wieder beobachten konnten, wobei die Rückkehr des Faschismus heutzutage in ganz Europa als ein Gespenst umgeht.

Gombrowicz setzt in diesem satirischen Roman seine eigene Interpunktion, Orthographie und Phonetik ein, es handelt sich teilweise um eine Prosa, als spräche jemand lange Poeme, natürlich autofiktionale. Heute würde man schmunzeln und sagen: Slam Poetry, Spoken Word. Komplexe der polnischen Nation und ihre Stereotype erscheinen in diesem Buch noch größer und unerträglicher, die Kritik am billigen Polentum wird ebenso übertrieben, und das ist kein Wunder: Erst im Ausland sieht man seine eigenen Landsleute viel kritischer und ist empfindlicher gegenüber nationalen Imponderabilien und Idiosynkrasien, die außer Polen niemand verstehen kann, wobei selbst nur ausgewählte Individuen diese Seltsamkeiten einer »verkorksten« Mentalität wirklich zu verstehen wissen. Aber Trans-Atlantik ist nicht nur eine Parodie auf die polnische Nation und den polnischen Nationalismus, den polnischen Geist, der um jeden Preis überleben will; es ist auch eine Parodie auf das Leben im Exil, und jede Nation und jeder Emigrant kann sich in diesem Buch ein wenig widerspiegeln. Warum? Gombro, wie wir ihn in Polen liebevoll nennen, sagt über sein Werk und sein Anliegen in den fingierten Gesprächen mit Dominique de Roux Folgendes: »Die Menschheit aufzeigen in ihrem Übergang von der Kirche Gottes zu der Kirche des Menschen. Aber diese Idee war meinem Werk nicht von Anfang an gegeben (…)« und »Notwendig war mir hier Wirklichkeit, nicht irgendeine sekundäre ›polnische‹, sondern diese allerfundamentalste, ganz einfach die menschliche Wirklichkeit. Den Polen aus Polen herausbringen, damit er einfach ein Mensch werde. Soviel wie aus dem Polen den Antipolen machen.« Nach dem Motto: Mache aus Homo Polonicus Homo Transcendes.

Das, was Gombrowicz manchmal dialektisch zu sagen hat, erinnert mich gelegentlich daran, was Simone Weil in ihren Cahiers zu bedenken gibt, dass nämlich nur ein Atheist imstande sei, Gott zu verstehen und was es bedeuten mag, wirklich an Ihn zu glauben.
Gombrowicz starb viel zu früh. Mit nur 64 Jahren – das Asthma hatte ihn umgebracht, der anstrengende Lebensstil in den Jahren der Einsamkeit und der Armut. Französische Linke und Kommunisten schlugen ihn für den Nobelpreis vor, und man kann natürlich nur spekulieren, aber angeblich sollte er ihn 1969 kriegen, zumal er zwischen 1963 und 1969 in Europa überall übersetzt und gelesen wurde.

Schade, daß es dazu nicht mehr kam. Elf Jahre später, 1980, wurde der Literaturnobelpreis dafür an seinen Freund Czesław Miłosz verliehen. Und als ich 2021 im Frankfurter Schauspielhaus Yvonne, die Burgunderprinzessin sah (in der Regie von Mateja Koležnik), wobei mich Manfred Mack, der legendäre Exmitarbeiter des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, die linke Hand Karl Dedecius’ sozusagen, ins Theater mitgeschleppt hatte, musste ich innerlich lachen und weinen zugleich. Ich will gestehen, dass ich selten ins Theater gehe, aber das Theater eigentlich liebe; diese Liebe begann im Herbst 1984 nach dem Besuch des Dramas Die Falle von Tadeusz Różewicz im Teatr Polski in Poznań und wurde 1991 fortgesetzt, nachdem ich Die Schuster von Stanisław Ignacy Witkiewicz, genannt Witkacy, ebenso in Poznań gesehen hatte ‒ alles schon lange her. Ich war jedenfalls nach den beiden Theaterbesuchen »richtig high«, damals nahm ich das Gespielte und Gesprochene auf der Bühne wie eine persönliche Nachricht an meinen poetischen Geist, an meine lyrische Stimme in mir, und dachte mir, es sei kein Zufall, dass ich ausgerechnet diese beiden Stücke sehen sollte. Im Schrank saß der verängstigte Kafka, er versteckte sich vor seinem Vater ‒ dieses Bild sah ich bei Różewicz ‒, eine dunkle Szene, eine schwarze Serviette auf meinem Herzen, eine Projektion, die ich später in meinen Büchern auf meine Väter jeglicher Art übertragen konnte. Und Die Schuster von Witkacy erinnerten mich an die Schusterwerkstatt in Bartoszyce, in der mein Großvater väterlicherseits bis 1972 gearbeitet hatte. Die Schuster aus Bartoszyce beschrieb ich dann 2010 in Der Lippenstift meiner Mutter, dem Roman, in dem die Kindheit eines gewissen Artur Bekier autofiktional verfremdet wird, natürlich auf der Suche nach meinen eigenen Zimtläden. Diese Schusterwerkstatt war aber für mich, das Kind, das Zentrum des Universums, dort geschahen all die ungeheuerlichen Dinge, die die private Geschichte und die Weltgeschichte ausmachen, in einem Chor, gesungen von den Schustern und ihren Werkzeugen.

Als ich aber im Frankfurter Schauspielhaus die Tragödie der Burgunderprinzessin Yvonne sah, wurde ich sogar wütend: auf diese dumme hässliche Gans, die sich auf den perversen Prinzen Philip einlässt ‒ auf seine Pseudonächstenliebe ‒, der sich nur öffentlich »befriedigen« will, um seinem narzisstischen Ego zu beweisen, dass er kein Misanthrop sei, sondern der neue Jesus Christus. In Wirklichkeit liebt er das Hässliche, Deformierte, Schwache, über das er herrschen will wie ein Faschist. Aber hören wir, was der Maestro Gombro dazu zu sagen hat, und zwar wieder in den fingierten Gesprächen mit Dominique de Roux: »Yvonne, am königlichen Hof eingeführt als Verlobte des Prinzen, wird zu einem zersetzenden Faktor. Die stumme, verschüchterte Gegenwart ihrer mannigfaltigen Defekte verursacht, dass jedem seine eigenen verheimlichten Mängel, Schmutzigkeiten und kleinen Sünden zu Bewusstsein kommen …, und bald verwandelt sich der Hof zu einer Brutstätte von Ungeheuerlichkeiten. Und jedes dieses Ungeheuer, einschließlich des Prinzen, beginnt vor Begierde zu brennen, diese unausstehliche Zimperliese zu ermorden. Der Hof mobilisiert schließlich all seinen Glanz, alle Pracht und Hoheit, und tötet sie ›von oben her‹.«

Liest man diese Sätze und schaut sich das Stück an, wird man das Gefühl nicht los, die Story um die Burgunderprinzessin Yvonne, also um eine hässliche und langweilige graue Maus aus dem Prekariat, von irgendwoher zu kennen, als hätte man sie schon irgendwo gehört. Aber es ist nicht das Märchen Aschenputtel, sondern vielmehr Georges Batailles Das obszöne Werk. Das Obszöne, Perverse und Groteske der Regierenden und Höher-Gestellten kommt erst dann richtig zum Vorschein, wenn die scheinbar unantastbaren und heiligen Vorhänge ‒ alle Hüllen ‒ fallen und man die Korruption und Verderbtheit der Machthaber sieht, eben wie auf einer Theaterbühne, atmosphärisch beleuchtet, versunken in fesselnde Dialoge, musikalisch hervorgehoben.

Ist Gombrowicz doch ein verkappter Moralist? Er sagt zu seinem Schriftstellerkollegen Dominique de Roux: »Das Moralische an meinen Werken ist stärker als ich ‒ ich suche es nicht, es regiert mich.« Gombro hat ein natürliches Talent, Akte der Hypokrisie gnadenlos aufzudecken, Masken niederzureißen, billige Moralisten, die zur Selbstjustiz und zu faschistischem Verhalten neigen, zu entblößen. Die Cancel Culture hätte sich einen Gombrowicz sicherlich vorgeknöpft, um ihn zu verurteilen, allerdings hätte das den Autor von Pornographie gefreut. Es wäre für ihn eine Bestätigung, dass seine Theorie über die Form, die eine Person beherrschen will, indem sie dieser eine Fresse verpasst und diese dann in die Schublade steckt und kategorisiert, zutreffend richtig ist.

Warum hätte das so geschehen können? Ein Beispiel: In seinem Roman Pornographie (1960) fahren zwei ältere Herren Witold (der Erzähler) und Fryderyk (Kunstliebhaber), die gebildet und distinguiert sind, zu Hipolit S. aufs Land, wo sie ein junges Liebespaar kennenlernen, Henia (Hipolits Tochter) und Karol (Sohn des Gutsverwalters und ehemaliger Partisan) ‒ die beiden Herren sind fasziniert von der Unreife und der Schönheit, dem »Niedriger Stehen«, der beiden jungen Liebenden, die sich heimlich treffen, ist doch Henia mit Wacław (einem Anwalt) verlobt. Fryderyk (Friedrich, der »Übermensch« Nietzsches?) beginnt eine Reihe von Experimenten, eine perverse Kabale, er lässt Henia Karols Hosenbeine hochkrempeln, er beobachtet zusammen mit seinem Freund Witold heimlich den jungen Anwalt und seine Verlobte Henia, er denkt sich eine Sexszene zwischen Henia und Karol aus, um Wacław zu beeindrucken und zu verstören ‒ Morde werden »angestoßen«, und sie passieren dann auch tatsächlich. Die Verkupplung der Jugend mit den Alten gerät außer Kontrolle, vor dem blutigen Hintergrund der deutschen Okkupation Polens.

Ein »anstößiges« Buch, dessen Autor man, bei vordergründiger Lektüre, alles Mögliche unterstellen könnte, zum Beispiel Verherrlichung der Pädophilie – ein Urteil, das im Kontext der Literatur und der Ideen, die Gombrowicz verfolgte und die ihn verfolgten, vollkommen absurd wäre.

Denn man muss Pornographie genauso vielseitig und offenen Geistes lesen wie andere Werke von Gombrowicz ‒ man darf sich nicht einmal von ihm selbst und seinem kritischen Blick auf seine Bücher einlullen lassen, genauso wenig wie von den Kritikern, und wenn man einmal Marek Zyburas Buch Ein Patagonier in Berlin: Texte der deutschen Gombrowicz-Rezeption von 2017 in die Hand genommen hat, lässt man es nicht mehr los ‒ faszinierend ist der Überblick, den man sich bei der Lektüre all der Besprechungen und Kritiken zu Gombrowiczs Œuvre verschaffen kann, die in Deutschland fabriziert wurden: ein geistiger Reichtum, den man gerne teilen möchte, eben nicht nur mit den »Kiebitzen« von Gombrowicz.

Übrigens: Als Miłosz schon im Sterben lag, ließ er sich einen Roman vorlesen und lachte sich dabei kaputt: Die Besessenen, eine Kriminal- und Schlossgeschichte, die den klassischen Schauerroman parodiert, eine scheinbar triviale Romanze zwischen einem zwanzigjährigen Tennistrainer und dem Fräulein Maja aus gutem Hause … Miłosz wollte keine Psalmen mehr lesen, die er ins Polnische übertragen hatte, keine Gedichte und Poeme von T. S. Eliot, keine Romane von Dostojewski oder Die Bekenntnisse von Augustinus, sondern Gombrowicz. Und was für ein Buch werde ich lesen, mein letztes also, wenn ich vor den Toren der Ewigkeit stehen werde? Gombrowicz? Oder Miłosz?

Letzte Änderung: 16.08.2024  |  Erstellt am: 16.08.2024

Artur Becker, Schwarze Servietten auf meinem Herzen | © Foto: Arco-Verlag

Artur Becker Schwarze Servietten auf meinem Herzen

Aus den Leben der Kosmopolen
545 Seiten
978-3965870680
Arco Verlag (1. August 2024)

Hier bestellen
divider

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen