Gombrowicz und Gombrowicz (Teil 1)

Gombrowicz und Gombrowicz (Teil 1)

Aus den Leben der Kosmopolen
Witold Gombrowicz in Vence | © Krzysztof Dybciak, 1981. Aus der Wochenzeitschrift

In dem Gombrowicz-Essay geht es um das Exil-Leben des polnischen Ausnahmeschriftstellers und um die Form, die eine andere Form beherrschen und gestalten will, wie es ihr gefällt, um sie kontrollierbarer zu machen. Witold Gombrowicz nennt diesen Vorgang »das Verpassen der Fresse« einer Person, die jemand mit seiner Vorstellung von dieser, also mit seiner eigenen Form, dann total dominiert, deformiert, ja psychisch terrorisiert und vergewaltigt.

Unter den Kosmopolen war der polnische Romancier adliger Herkunft Witold Gombrowicz vermutlich der Originellste und Unangepassteste, sowohl in Polen wie auch im argentinischen und zum Ende seines Lebens französischen Exil. Er wurde 1904 auf dem Landgut des Dreiseelendorfs namens Małoszyce in der Woiwodschaft Heiligkreuz geboren und erlangte in seinem viel zu kurz dauernden Leben, starb er doch bereits 1969, späten Weltruhm und Kultstatus. Im Prinzip kann man in einem Atemzug unzählige, zugleich einander ausschließende, jedoch den außergewöhnlichen Autor und seinen Charakter korrekt beschreibende Begriffe nennen, was ich hiermit versuchen will: Provokateur, Antimoralist, Moralist, ein notorischer Lügner, Wahrheitssuchender, Wahrheitsfanatiker und Demaskierer, ein hinter Masken sich versteckender Narr, ein die Verführung fördernder Experimentator, Egozentriker, Narzisst, Misanthrop, ein Kenner der menschlichen Schwächen und Leidenschaften, Humanist, Atheist, Propagandist, Voyeur, Betrüger, Meister der Groteske und des Absurden, Meister der Mimikry und der Erotik, Nörgler, Connaisseur, Manipulator, mit einem Wort ‒ ein geschickter Spieler und Analytiker der menschlichen Psyche, der menschlichen Abgründe und Machtgelüste. Und so weiter. Diese Liste könnten seine treuen Leser und Kritiker mit Leichtigkeit fortsetzen.

Im Mai 1967, als Gombrowicz schon seit fast drei Jahren mit der einunddreißig Jahre jüngeren, in Montreal geborenen Literarturwissenschaftlerin Rita Labrosse, seiner späteren Frau, in Vence lebte, wo es dem Asthmakranken im milden Klima der Provence-Alpes-Cote d’Azur gesundheitlich besser ging als in Paris, besuchte ihn Czesław Miłosz vom kalifornischem Berkeley aus ‒ der andere große polnische Dichter im Exil. Wie lebendig der Mythos des ewigen Provokateurs Gombrowicz damals war, zeigt der Umstand, dass viele Freunde Miłosz vor diesem Besuch gewarnt hatten ‒ so zum Beispiel auch Zbigniew Herbert, der befürchtete, sein älterer Kollege Miłosz (im Prinzip Herberts Meister) würde bei Gombrowicz, dem prominenten Europarückkehrer, der von 1939 bis 1963 in Argentinien gelebt hatte, in Vence unter die Räder geraten, der enigmatischen und verführerischen Persönlichkeit des Autors von Ferdydurke und Kosmos verfallen und wie ein Blinder folgen. Er warnte Miłosz vor der Gefahr der D e p r a v a t i o n. Herbert war konservativ, in gewisser Hinsicht auch Nationalist, obwohl seine Gedichte in Westeuropa bis heute als ein Tor zur demokratischen, vor universellem Ideenreichtum strotzenden Welt gelten, in der die Freiheit der Bürger und des Individuums das höchste Gut sind, zumal der Mensch eine Tendenz zum ethischen Scheitern zeigt, ja, zum Verbergen und Verdrängen seiner Schwächen angesichts der metaphysischen Sorgen um sein endliches Dasein.

Für Herbert war seine geliebte Heimat »Polen« eine heilige Bestimmung und Aufgabe: wegen der Geschichte des schrecklichen Naziterrors und wegen des Ausblutens seiner Generation im okkupierten Warschau während der beiden Aufstände, des jüdischen 1943 und des polnischen 1944.

Seine Heimat war für Gombrowicz dagegen die Quelle vieler Missverständnisse und unlösbarer Probleme; so spricht er in Trans-Atlantik (1953), seinem Roman aus dem argentinischen Exil, von der Synczyzna, dem »Sohnesvaterland«, einem subversiven Äquivalent zum Vaterland, was schon auf den Konflikt des kritischen Schriftstellers mit dem Patriarchalen und der polnischen Tradition der unbedingten Vaterlandsliebe hinweist. Jedenfalls schrieb Herbert tief besorgt und wie ein Moralist in einem Brief an seinen älteren Freund Miłosz: »Dein geistiger Austausch mit Gombrowicz beunruhigt mich sehr, obwohl es solche Dinge schon immer gegeben hat, vide Conrads seltsame Freundschaft mit Gide. Sei bitte vorsichtig, denn er ist ein Verführer, obgleich ein Künstler …«

Ich möchte an dieser Stelle nicht die Historie des »geistigen Austauschs«, wie Herbert schreibt, zwischen Gombrowicz und Miłosz repetieren. Es kommt mir für meine polnischen Augen und Ohren wie eine Wiederholung von Hausaufgaben vor. Aber für den nicht eigeweihten Leser, der in dieser polnischen Thematik nicht bewandert ist, sei gesagt, dass Gombrowicz und Miłosz eine Art Hassliebe verbunden hat, die ziemlich produktiv und voller Respekt voreinander war. Sie begann mit dem Text »Gegen die Dichter«, den Gombrowicz 1951 in der polnischsprachigen Paris-Exilzeitschrift Kultura publizieren konnte. Deren Herausgeber, Jerzy Giedroyc, wusste übrigens, wie schwierig die Lage des Emigranten Gombrowicz in Buenos Aires war. Dieser hatte kurz vor Hitlers Überfall auf Polen eine Schiffsreise nach Buenos Aires angetreten und blieb infolge der Entwicklungen bis 1963 dort. Seine finanzielle und literarische Kondition glich seit Jahren einer Achterbahnfahrt, und so schlug der umsichtige Giedroyc dem Meister der Groteske vor, ein Tagebuch zu führen. Damit beabsichtigte er, den Exilanten psychisch zu stärken und seinem Schreiben einen Impuls zu geben. Der Vorschlag entpuppte sich als ein Volltreffer, das Tagebuch wucherte über die Jahre monströs ins Uferlose und gehört zu den wichtigsten Werken dieses literarischen Genres im 20. Jahrhundert.

Auf den Text »Gegen die Dichter«, in dem Gombrowicz den polnischen Dichtern, vor allem den Klassikern, provokativ Indolenz und Impotenz im Kontext der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und dem Dasein vorwirft, antwortete Miłosz ebenso in der Kultura mit einem »Brief an Gombrowicz«: Der kalifornische Exilant schrieb ihn im gleichen Stil, in dem das Pamphlet »Gegen die Dichter« verfasst worden war, nämlich im verspielten, barocken und ironischen Ton, und er gab seinem Herausforderer aus Buenos Aires sogar recht. Aber er schrieb ihm auch, dass ‒ kurz gesagt ‒ die Aufgabe der Dichtung eine andere sei als die der Prosa und dass die Atavismen und Krankheiten der Romantik, sozusagen das Fehlen des roten Fadens, in der modernen Dichtung bekämpft werden können und sogar müssen. Die Freude am Dasein, an Liebe und Affirmation, am Besingen unserer Dramen und Komödien dürfe dennoch nicht als belanglos, etwas für die Literatur Triviales abgestempelt werden, möge es auch zuhauf plebejische Gedichte oder langatmige Balladen geben. Denn dennoch gehe es in erster Linie um Schönheit und Eros, um rhetorische Figuren und Rhythmus, um das im Gedicht verborgene Lied, die Inkantation, die Wiederholungen und Symmetrien. Miłosz zitiert in polnischer Übersetzung das Lied »The bonny hind«, eine, wie er schreibt, »altenglische Volksballade«, die von der Liebe, vom Tod und von der Suche nach Liebesglück erzählt; vom Verlust des Kostbarsten, vom Vergehen, von der Sehnsucht und Täuschung in der vergänglichen, aber wunderschönen Natur; von der Täuschung in der Liebe.

Es entstand zwischen den beiden herausragenden Persönlichkeiten der polnischen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein intensiver Dialog zum Thema der Ästhetik, der Form und philosophischen Ideen, wobei dieser ideologische, ideengeschichtliche Dialog seinen Höhepunkt in dem Essayband Das Land Ulro fand, in dem Miłosz lange nach dem Tod seines Freundes und Herausforderers die groteske und absurde Welt der Romane und Theaterstücke, in denen Gombrowicz mit jeglicher Form, jeglichem Ausdruck der menschlichen Existenz hart ins Gericht geht, kritisch beleuchtet und auf ihre Tauglichkeit im Kontext unserer Daseinskonditionen (Geburt, Suche nach Erlösung, Tod ‒ Eschatologie) hin prüft: Was hat uns die Absurdität unserer Existenz ‒ vorausgesetzt, sie ist wirklich absurd ‒ epistemologisch zu bieten?

Aber war denn Gombrowicz wirklich ein Bewohner des Landes Ulro, in dem nach der Poetik und Symbolik William Blakes verlorene, gequälte Geister wohnen, die dem kalten Verstand und dem Atheismus huldigen, dem Dasein zugleich jegliche Transzendenz absprechen, da sie keinen Ausweg aus der Todesfalle des Planeten Erde sehen? Sie sehen ihn weder in der Religion noch in solchen Welten, die für uns unsichtbar sind, aber angeblich in höheren Dimensionen existieren, wo der Tod nichts zu suchen hat: im Himmel. Angesichts solchen Leids, denn der Mensch besitzt ein endliches bzw. sterbliches Bewusstsein und ist zu allem fähig, was bedeutet, dass er auch der Schöpfer seiner eigenen Theodizee ist – im Guten wie im Bösen, sic! ‒, kann das Leben absurd und grotesk erscheinen: der Mensch als Sklave seiner Unvollkommenheit, Dialektik, Leidenschaften und diverser Abgründe, wenn die Liebe und rechtschaffenes Verhalten letztendlich immer wieder scheitern. Der Mensch als Sklave seiner eigenen Form …

Wir nähern uns hier bereits Gombrowicz und seinem Verständnis von Theodizee, es reicht nur, in seinem Roman Ferdydurke von 1937, der ihn weltweit bekannt machte und der auf Deutsch in der schönen Übersetzung von Walter Tiel aus dem Jahre 1960 vorliegt, das Kapitel »Vorwort zu Philidor mit Kind durchsetzt« aufzuschlagen, und schon blicken wir in den dunklen Abgrund des menschlichen Versagens, der menschlichen Dialektik und Tragikomödie. Gombrowicz schreibt in diesem Kapitel: »O Macht der Form! Durch sie sterben Völker. Sie ruft Kriege hervor. Sie verursacht, dass in uns etwas entsteht, das nicht aus uns kommt. Wenn ihr sie missachtet, werdet ihr nie die Dummheit, das Böse, das Verbrechen verstehen. Sie regiert unsere kleinsten Reaktionen. Sie ist ein Grundbestandteil unseres gemeinsamen Lebens. Aber für euch ist Form und Stil immer noch ein Begriff aus dem strikt ästhetischen Gebiet – für euch ist Stil lediglich der Stil auf dem Papier, der Stil eurer Erzählungen. Meine Herren, wer wird den Popo ohrfeigen, den ihr den Menschen zuzukehren wagt, wenn ihr vor dem Altar der Kunst niederkniet? Die Form ist für euch nichts Lebendiges und Menschliches – ich möchte sagen – Praktisches und Alltägliches, sondern festtägliches Attribut.«

Ferdydurke, ein Roman über die Unreife und Reife der Jungen und Alten, über das Beherrschen und Vergewaltigen, über die Abhängigkeiten, in die wir uns begeben oder von anderen gebracht werden, erzählt die fantastische Geschichte eines Dreißigjährigen namens Józio Kowalski, dem Ungeheures passiert ‒ wie in einem Sci-Fi-Film; er macht eine Zeitreise zurück in seine Schulzeit, wo er wieder mit der Adoleszenz konfrontiert wird. Sein Lehrer Professor Pimko holt ihn eines Tages ab und bringt ihn zurück in die Schule, wo er wieder ein Teenager sein muss und Teenagern begegnet. Er wird mit seiner eigenen Unreife und der Unreife der Mitschüler konfrontiert, er wird Zeuge der Beherrschung durch andere Personen und durch die ihn umgebende Wirklichkeit, die Schule und das Lehrprogramm: Die Vergewaltigung – hier nicht gebraucht als Begriff für sexualisierte Gewalt, sondern im Sinne von Unterwerfung einer Person durch eine fremde –, das Verpassen einer »Fresse« (was bedeutet, dass jemand zu dem gemacht wird, wie er von einem Fremden gesehen wird) ist der Höhepunkt des Terrors durch die Form.

Miłosz beschrieb seine eigene Erfahrung mit dem zarten Bild des Krokodils – er hasste es, wenn man ihn in eine Schublade steckte und aus ihm jemanden machte, der er nicht war: ein Krokodil also. Man kann sich ein anderes Tier denken und fragen: »Warum machst du aus mir eine Katze? Ich bin doch ein Hund!« Gombrowicz geht jedoch noch weiter, er schreibt im erwähnten Kapitel: »Während ihr in Wirklichkeit pausenlos vergewaltigt werdet, tut ihr, als ob nichts geschehen sei. Oh, denn ihr Reifen, ihr verkehrt nur mit Reifen, und eure Reife ist derart reif, dass sie sich nur mit der Reife anbiedern kann!«

Die »Gestaltung« des Älteren durch den Jüngeren und umgekehrt ist eines der dunkelsten Mysterien unserer Existenz, es ist auch ein immer wiederkehrendes Thema im Werk von Gombrowicz. Das »Niedere«, wie er die Jugend, Schönheit und Unreife symbolisch beschreibt, steht als Herausforderung in der Opposition zum Reifen, Durchdachten, aber auch Erledigten, weil die Reife von einer durchkomponierten Form, einem sicheren Stil also, bestimmt wird. In seinem Buch Eine Art Testament von 1969 findet sich das faszinierende und fingierte Interview Gespräche mit Dominique de Roux, in dem Gombrowicz über seine Werke spricht, vor allem über Ferdydurke, Trans-Atlantik, Pornographie und Kosmos, also über die Romane, und auch über die Theaterstücke Yvonne, die Burgunderprinzessin, Operette und Die Trauung. Dort sagt er jedenfalls: »Meine weiteren Erlebnisse mit den zwei Gottheiten, der Jugend und der Schönheit, könnte ich vielleicht in vier Thesen fassen, die für mich sehr relevant sind. / Die erste: Jugend ist ›Niedriger Stehen‹. / Die zweite: Jugend ist Schönheit. / Die dritte (wie erregend!): Also ist Schönheit ›Niedriger Stehen‹. / Die vierte (dialektisch): Der Mensch ist gespannt zwischen Gott und Jugend.«

Man fragt sich, was Gombrowicz mit dem Begriff ‒ und für ihn handelt es sich hier wirklich nur um einen Begriff ‒ »Gott« sagen will, wissen wir doch, dass er ein erklärter Atheist und Linker war. Daran sind zwei Aspekte bemerkenswert: Linker zu sein, vertrug sich für Gombrowicz bestens mit der Ablehnung der kommunistischen Regime im Ostblock. Und sein Gegenüber und »Gesprächspartner« de Roux war nicht einfach eine erdachte Figur, sondern tatsächlich ein Freund von Gombrowicz, der auch selbst Schriftsteller gewesen war, jedoch jung verstarb ‒ mit einundvierzig Jahren. Aber zurück zur Begriffsklärung. Denn der polnische Romancier und Exilant sagt zu seinem französischen Kollegen, der Mensch habe »zwei Ideale, Gottheit und Jugend«. Er wolle »vollkommen sein, unsterblich, allmächtig – wie Gott«. Wir würden »Vollkommenheit begehren« und uns vor ihr »fürchten«, da sie den »Tod« bedeute, während die »Unvollkommenheit«, die wir nicht wollen würden, uns dennoch anziehe, weil sie »Leben und Schönheit« sei – wie »die zerbrechliche Jugend«.

All diese Ausführungen klingen erbauend und esoterisch, aber der erste Eindruck täuscht. Denn in allen Romanen und Theaterstücken Gombrowiczs tauchen Figuren auf, die zwiespältig sind, die grausam agieren, die töten können wie in Pornographie oder Kosmos. Und sie tun es deshalb, weil sie als Gestalter einer eigenen Form eine fremde Form nicht ertragen können oder so sehr begehren, dass sie sie vernichten müssen, um sie zu besitzen und zu beherrschen.

All das Dunkle und Depravierte schleicht sich unbemerkt ein, wie in dem Kurzroman Kosmos, dem letzten von Gombrowicz, der mit einem bösen Omen beginnt: einem toten Spatzen, der an einer Schnur am Baum hängt. Der Handlungsort ist das Wintersportparadies Zakopane, ein Kurort für Touristen, Sportler, Künstler und Prominente in Kleinpolen, nicht weit von Krakau entfernt, aber schon im Tatra-Gebirge. Die verwirrende Story spielt zwischen den beiden Weltkriegen; Witold, der Student und Erzähler (und eigentlich Sherlock Holmes), und sein Freund Fuks (eigentlich Watson) mieten sich in einer Pension ein und beginnen ein rätselhaftes Detektivspiel mit der Besitzerin der Pension und ihrer Nichte Katasia, die einen deformierten Mund hat. Witold tötet die Katze von Lena ‒ Ludwik und Lena sind aber ein Liebespaar und werden von dem Pseudodetektiv Witold heimlich beobachtet ‒, Lena zieht sich aus, Ludwik hält einen Teekessel in der Hand. Zum Schluss hängt auch er tot am Baum. Aber wer hängt da eigentlich?, fragt sich der Erzähler, wer ist eigentlich der Gehängte, bin ich das vielleicht selbst?

Kosmos – für viele Gombrowiczs bester Roman ‒ ist ein Kunststück des Schöpferischen, des Kreativen: ein genaues Studium der Entstehung der Wirklichkeit. Die entstehenden Welten – Kosmen –, Beziehungen, Sternenkonstellationen, Dinge sind lebendig und füllen den kreativen Prozess des Schreibens aus: Alles geschieht vor dem Auge des Lesers und führt Schritt für Schritt zu immer tragischeren und stets unberechenbaren Ereignissen. Vielleicht ganz im Sinne der Entropie ‒ über den Tod eines Spatzen und einer Katze zu einer Leiche. Kombiniert man dieses Menü mit all den Perversionen, Leidenschaften und dunklen Wünschen, die in den depravierten Köpfen so mancher Protagonisten von Gombrowicz schlummern, entsteht ein Kosmos, in dem jede Figur die gleiche Chance hat, weil jeder und jede, wie auch wir, die wir diese Zeilen lesen, im Sinne von Gombrowicz ein potenzieller Täter, ein potenzielles Opfer ist.

Im schon erwähnten Ferdydurke -Kapitel »Vorwort zu Philidor mit Kind durchsetzt« schreibt der Autor: »(…) in der Wirklichkeit verhält sich die Sache folgendermaßen: das menschliche Wesen äußert sich nicht auf unmittelbare und seiner Natur entsprechende Art, sondern stets in irgendeiner bestimmten Form, und diese Form, dieser Stil, diese Verhaltensweise entspringt nicht nur aus uns, sondern wird uns von außen her aufgedrängt – und daher kann derselbe Mensch nach außen hin mal klug, mal dumm erscheinen, mal blutrünstig, mal engelhaft, mal reif, mal unreif, je nachdem, welcher Stil ihn gerade anwandelt und wie er von anderen Menschen beeindruckt ist. Und wie die Würmer und Insekten den ganzen Tag nach Nahrung jagen, so sind wir ohne Rast auf der Jagd nach der Form, streiten uns mit anderen um den Stil, um unsere Verhaltensweisen, und wenn wir mit der Straßenbahn fahren, speisen, uns unterhalten, ausruhen oder Geschäfte erledigen – immer und ohne Unterlass suchen wir die Form und erfreuen uns an ihr oder leiden durch sie und passen uns ihr an oder vergewaltigen und zertrümmern sie, oder lassen uns von ihr formen, Amen.«

So ein Statement – und stilistisch kann Gombrowicz in seiner Prosa auf allen Instrumenten spielen, von Genre zu Genre mit Leichtigkeit springend, den hohen und den niederen Ton beliebig wechselnd – kann schon, mag man auch kein Atheist sein, eine zart besaitete Seele zur Verzweiflung bringen. Ein Putin beherrscht Millionen Russen – mit seiner Form, die nur eine Sprache versteht: die der imperialen Gewalt. Fürwahr – die Form sucht sich selbst ihren Weg zum Ziel, wie ein ungezähmter Fluss, und sie erlaubt eine Theodizee, die dem Bösen und dem nach totaler Macht Trachtenden einfache und klare Gründe liefert, um den Gegner zu entmenschlichen und zu vernichten. Die Form des Faschismus, der zu Anfang des 21. Jahrhunderts mit Trump sowie seinen Wesensverwandten in Europa seine gefährliche Wiedergeburt feiert, ist attraktiv und verführerisch, und der Faschismus liebt es nach wie vor, die Gesellschaft manichäisch in Gute und die Ewigbösen zu spalten, den Feinden menschliche Charakterzüge abzusprechen und an das Unbewusste solcher Menschen zu appellieren, die eine Untertanenmentalität haben. Gombrowicz verlässt hier den Bereich des intimen und profanen Beziehungsdramas innerhalb einer Familie oder eines Freundeskreises und betritt die Weltbühne: Die Form der schwarzen SS-Uniform entspricht auch den Taten, den Verbrechen, die sich aus dieser Form selbst ergeben, unter der Obhut der hässlich grinsenden Totenköpfe.

Doch auch die sattsam bekannten Rituale, die wir alle kennen, können eine quälende, terrorisierende Form annehmen, das gemeinsame Mittagessen in der Familie zum Beispiel, sonntägliche Zwänge, Feiertagsabläufe oder ganz einfach das Ausleben von Machtansprüchen über andere im Alltag: Ein prominenter Schauspieler, der im Hotel Lindley in Frankfurt am Main absteigt, sagt an der Rezeption kein einziges Wort, in seinen Ohren stecken Kopfhörer – seine sehr freundliche und nett lächelnde Frau erledigt den Check-in; der Schauspieler hat es nicht gerne, wenn er mit Banalem belästigt wird: Er beherrscht die Rezeption und die Concierges. Und er findet daran Gefallen. Und den heutigen Postneofaschismus der PiS in Polen, die in acht Jahren an der Regierung Demokratie, Verfassung und Institutionen gezielt unterhöhlt und so fast zerstört hatten, würde Gombrowicz gänzlich demontieren und als grotesk ins Lächerliche ziehen ‒ als eine vulgäre, weil der menschlichen Freiheit schadende Form.

Man könnte allerdings meinen, Gombrowicz muss ein unglücklicher Mensch gewesen sein, denn liest man seine Romane und schaut sich das vergebliche Treiben der Figuren in seinen drei Theaterstücken auf der Bühne an, denkt man als erstes, dass es um die Menschheit ziemlich schlecht bestellt sei; sie mache sich selbst unglücklich und wolle über sich selbst permanent herrschen. Deshalb ist es eigentlich verständlich, dass der polnische Philologe Łukasz Tischner von der Jagiellonen-Universität in Krakau in einem Interview für die konservative Zeitschrift Teologia Polityczna sagt, dass Gombrowicz vermutlich gar kein positives Programm besessen habe: vermutlich ‒ es gibt also Bedenken. Tischner räumt schließlich ein, dass eine andere Sichtweise auf Gombrowicz womöglich schlüssig sein könnte: »Stattdessen überzeugt mich die These von Miłosz, der bei seinem letzten öffentlichen Auftritt in seinem Vortrag ›Der Naturforscher‹ sagte, dass er sich zwar deutlich von Gombrowicz unterscheide, mit ihm aber das Mitgefühl teile. Dieses Mitgefühl ist bei Gombrowicz etwas sehr Positives. Er war der Meinung, dass der Mensch sehr einsam und potenziell sehr destruktiv sei, dass er der Gewalt frönt, sie aber auch anwendet, dass er eher Angst als Bewunderung hervorruft. Was kann man dagegen tun? Mitgefühl empfinden. Mitgefühl für andere Menschen, aber auch für die gesamte Schöpfung. Mitgefühl hat ein wenig etwas Buddhistisches, ein bisschen Schopenhauersches, aber bei Gombrowicz ist das Mitgefühl vor allem in der christlichen Ethik verwurzelt.«

Für mich tickt Gombrowicz noch anders. Ich sehe ihn nicht als einen totalen, das heißt: verlorenen Bewohner des Landes Ulro, in dem es keine Hoffnung und keinen Sinn unserer menschlichen Existenz gibt, sondern nur Gelächter und Grimassen, weil das Dasein absurd und grotesk ist. Der polnische Exilautor verbrachte in Buenos Aires fast vierundzwanzig Jahre – von 1939 bis 1963. Es war ein entbehrungsreiches Leben, er hatte wenig Geld, er musste zeitraubende Arbeiten annehmen, so zum Beispiel als Angestellter in der Bank Banco Polaco. Er geriet bei vielen Zeitgenossen und Landsleuten in Vergessenheit und wurde ignoriert, er saß in Buenos Aires in den Cafés und übersetzte zusammen mit seinen neuen Freunden seine Bücher. Er verbrachte viel Zeit beim Schachspielen, Trinken, in der Bank, wo er sogar während der Arbeit zu schreiben versuchte, aber sobald jemand sein Büro betrat, ließ er die Manuskripte verschwinden – wie ein Schüler, der etwas im Schilde führt und dabei nicht ertappt werden will. Er litt unter Armut, konnte sich nicht ausreichend um seine Gesundheit kümmern, gutes Essen und gute Weine waren zu teuer. Aber er schrieb weiter und verlor nie die Hoffnung, dass es ihm doch gelingen würde, die Bücher zu publizieren, seinen Freunden begreiflich zu machen, wer er eigentlich sei, worüber er eigentlich schreibe. Sich solche Geduld zu bewahren und nicht zu resignieren, weiter fest am Schreiben festzuhalten, sich Überzeugtheit zu bewahren, ist fraglos Zeichen von Stärke.

Darum ist Gombrowicz für mich eigentlich ein positiver Schriftsteller, der in der Republik Kosmopolen wohnt – zusammen mit anderen Kosmopolen: Andrzej Bobkowski (wir erinnern uns: dem Erfinder dieses Begriffs, der polnische Exilanten in ihrem nomadischen Kosmopolitismus erfasst), Stanisław Vincenz, Czesław Miłosz, Gustaw Herling-Grudziński, Jerzy Giedroyc, Zofia Hertz oder Józef Czapski ‒ nur dass Gombrowicz ein elitär denkender, gelegentlich zu einem charmanten Snobismus neigender Zeitgenosse in dieser Freiheitsrepublik ist.

Seine adlige Herkunft, seine hervorragende, auch philosophische Bildung, das schwierige Verhältnis zu seiner wirklichkeitsfremden und exaltierten Mutter, die latente Homosexualität, die Überzeugung, dass sozial und kritisch engagierte Schriftsteller als Künstler nur scheitern können, seine kritische Einstellung zur polnischen Romantik und Geschichte, zu den Anbetern der nationalen Götzen und Traditionen (er war ein Gegner der Idolatrie, klar!), der Kampf um die Freiheit und Individualität, das Bewahren jedweden individuellen Charakters, die Fähigkeit, Armut positiv in schöpferischen Akt zu transformieren ‒ all das macht Gombrowicz zu einem besonders zähen Schriftsteller, der enorme Kraft und Energie aufbringen musste, um sich gegen alle Widrigkeiten zu behaupten.

Es ist also erstaunlich, dass dieser Atheist, der vor dem Glauben an Gott dennoch Respekt hatte ‒ seine Schwester war sehr religiös ‒, den Glauben an sich selbst und an den Fortschritt, geistigen Fortschritt der Menschheit, nicht verlor, ihn immer wieder beschwor. Im »Vorwort zu Philidor mit Kind durchsetzt« lesen wir: »Beschaut das Trugbild dieses Postulats nur genauer. Unser Lebenselement ist die ewige Unreife. Was wir heute denken und fühlen, wird für unsere Urenkel unweigerlich Unsinn sein. Daher wäre es besser, wenn wir schon heute die Portion Unsinn darin erkennen würden, welche die Zeit daraus machen wird … und die Kraft, die euch zu einer vorzeitigen Definition zwingt, ist nicht, wie ihr meint, eine völlig menschliche Kraft. Bald werden wir uns darüber klarwerden, dass nicht mehr dies das Wichtigste ist: für eine Idee zu sterben, für Stile, Thesen, Losungen, Glauben; und auch nicht dies: sich in ihnen zu verschließen; hingegen anderes, nämlich dies: einen Schritt zurückzutreten und Distanz zu allem zu gewinnen, was unaufhörlich mit uns geschieht.«

Also gibt es doch ein positives Programm …, Gombrowicz steht Gombrowicz im Wege, er braucht Distanz, er will sich die Zeit der Epochen wie Henri Bergson oder Walter Benjamin aus der Vogelperspektive der Passagen und Zeiten anschauen. Was wussten die Menschen des 19. Jahrhunderts über das Universum? Seine Größe? Sein Ende und seinen Anfang? Im Vergleich zu uns Heutigen – wenig. Und trotzdem waren sie eifrige Leser der Sonette von Shakespeare wie wir heute. Und wenn es vor uns »Menschheiten« (wie man im Polnischen sagt) gab, die zu fremden Planeten fliegen konnten, ihre Zivilisationen aber auslöschten oder in eine »ätherische« Welt wechselten, in der der Tod nicht existiert ‒ was wissen wir schon heute darüber, wer wir sind und wer die anderen einst gewesen sein könnten?

Doch bleiben wir lieber auf unserer Erde und in unserer relativ überschaubaren Zeit.

Letzte Änderung: 16.08.2024  |  Erstellt am: 08.08.2024

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