Die Befangenen – Teil 4

Die Befangenen – Teil 4

Essay
Retroritratto. 2013. Öl auf Leinwand | © Andrea Grosso Ciponte

In Stahl gebettete Menschen besitzen mittels Gesetzeserfindungen im Verfassungsrang reale Macht über andere. Ein Adels-, wenn nicht Samurai-Titel legalisiert in gewissem Rahmen auch das Töten und legt dafür eine durchschnittliche Quote fest. Nimmt man den gegenwärtigen Blutzoll in Deutschland zum Maßstab, dann gelten seit einiger Zeit im Schnitt um die zweieinhalb- bis dreieinhalbtausend Tote pro Jahr als akzeptabel. Also ganz normal.

Wenn die Situation verrückt wird, dann werden die Irren zu Profis. Freilich funktioniert privater Autoverkehr nur unter der Maßgabe gegenseitigen Einlenkens. Aber irgendwas, denkt man sich vielleicht, muss doch die Sicherheit geben, dass man nicht zum Beispiel auf den Gehweg totgefahren wird. Ja. Und nochmal ja. Diese Sicherheit gibt es. Und zwar in doppelter Ausführung. Zum einen ist es ohnehin nicht erlaubt, jemanden auf dem Gehweg oder überhaupt totzufahren. Wenn es dann aber eben doch mal passiert, schafft der zirkusreife Begriff „Unfall“ Abhilfe. Zur Rubrik Sprachstörung später mehr. Zum anderen ist es, Vorhang auf für die Mutter der geistigen Umnachtung: Der… Vertrauensgrundsatz!

VERTRAUE

Das von der kriegsbefangenen Journaille und anderen quasi Autohändlern gern verköstigte Soma, es gäbe beachtliche Fortschritte, nämlich „weniger Tote trotz mehr Verkehr“ besteht allerdings allein darin, dass die Fahrzeuge sicherer wurden, um den Fahrer und andere Insassen selbst zu schonen. Neben der Promillegrenze gelang die sogenannte passive Sicherheit auch wirklich prima: Gurte, verbesserte Knautschzone, Kopfstütze, Kindersitze, Airbag, Rückwärtskamera, Halogen-Scheinwerfer und zahllose Details. An allen anderen Verkehrsteilnehmern, ein anderes Wort für Mitmenschen, jedoch ging und geht diese Entwicklung nicht nur vollständig vorbei, sondern drängt sie im wahrsten Sinne des Wortes immer stärker an die Wand. Denn je sicherer und wohnlicher sich der Wagenlenker fühlt, desto weniger (mit) fühlt und versteht er die Fragilität und Verletzlichkeit der Welt um ihn herum und desto mehr erachtet er seine Umgebung als Transitstrecke, statt wirklicher Lebenswelt.

IDEOLOGIE

Als in den 70ern die letzten verfassungsrechtlichen Hürden hemmungsloser Mobilität ausgeräumt waren, lag die Hinnahme der Opfer noch bei über zwanzigtausend Toten pro Jahr und unübertrieben hunderttausender Verletzter. Und noch nicht einmal mitgezählt freilich die traumatisierten Hinterbliebenen, Verwandten, Mitschüler, Arbeitskollegen, Sportkameraden oder Freunde.

Dass sich jedoch gerade diese mit Verboten nur so um sich werfende Zwangskultur des Automobilismus ungeniert mit Vokabeln wie Freiheit und Fortschritt umgibt, zeigt im Grunde unsere Sorglosigkeit im Umgang mit Sprache und Rhetorik sowie die mangelnde Zeit und Geduld zur philosophischen Betrachtung. Unsere offensichtliche Unfähigkeit, kühl und rational an diesen von Adolf Hitler über die Futuristen sowie Henry Ford und Mussolini perfektionierten Todeskult heranzugehen ist mehr als tragisch. Schlicht wird ignoriert, dass Autos und Autobahnen dem Nazi-Kult entsprechen wie, von Konzentrationslagern und Hakenkreuzen abgesehen, keine andere Produktlinie der NSDAP. Auch, dass Hitler privat und höchstpersönlich VW gründete und sein Kumpel und Partner Ferdinand Porsche noch heute im Klarnamen röhrenden Stolz und Status genießt, dass die Nazis durch Goebbels in das Haus BMW und damit Daimler einheirateten und die Familie Quandt und dann Klatten darum einer der beliebtesten Kriegsgewinnler sind – dann wundert einen das radikale Brennen und Gasen in diesen Höllenpfuhlen kaum.

So gedeiht eine kulturelle Infektion ohne erforschte Historie und Betrachtung, beschränkt auf die billige Wahrnehmung der Dinge durch die Windschutzscheibe. Menschen, die wie Tiere über den Bildschirm huschen. Wie die letzten Rinos in freier Wildbahn. Wie Gestalten aus Reservaten.

Allerdings mangelt es den meisten Autofahrern, was sie als arglos Befangene von aktiven Mitgliedern einer Seilschaft unterscheidet, an krimineller Energie. Den meisten dürfte ihre Verstrickung als ausführende Konsumenten eines Vernichtungsfeldzuges sowohl gegen die Natur als auch gegen die Zivilisation kaum gegenwärtig sein. Das gleiche gilt sogar für die Macher der Katastrophe, die meisten sähen sich selber sicher nicht als Totengräber der westlichen Zivilisation.

Der soziale Spalt zwischen den ohnehin technisch völlig inkompatiblen, jedoch auf das gleiche Spielfeld gezwungene Menschen und Maschinenmenschen, wird durch die E-Mobilität nochmals erhöht. Dem ressourcensparenden Nichtmotorisierten steht ein multidiverser Schwerstverbraucher gegenüber wie ein fluider, an jedem Orte umsatzerwirtschaftender (also Benzin oder Strom tankender) Fels. Wie ein Panzer. Nicht nur als rhetorische Figur, sondern ganz haptisch: Unansprechbar, unnahbar. Fremder als jeder Fremde. Fremder als jede Sprache. Fremder als jedes Tier. Es kann dich anhupen, es kann dir die Lichthupe geben, es kann dich totfahren oder dich am Leben lassen. All das entscheidest aber nicht du da draußen, sondern einzig und allein der im Auto. Der Führer.

Man kann sich kaum unbefangen mit Eltern, Freunden oder Arbeitgebern über das Auto an sich unterhalten. Wer sowas auch nur versucht, der outet sich als Ungläubiger und gerät unter Beobachtung. Denn mit fundamentaler Kritik am Auto verbindet sich automatisch Systemkritik. Eben weil das Auto in seiner Omnipräsens im Mittelpunkt allen gesellschaftlichen Seins steht. Im Gegensatz zu den üblichen, stets die Hand aufhaltenden Göttern, bietet diese Religion allerdings Fun. Denn niemand interessiert sich in Wirklichkeit für Kathedralen, Kirchen, Kraftwerke, Heizöfen oder Pipelines – aber alle, wirklich alle interessieren sich für Autos oder sind von deren Nutzen durchdrungen wie von der Hintergrundstrahlung. Es erinnert an Interviews mit den längst erwachsenen Kindern von SS-Leuten, die auch nach dem Tod ihrer Eltern nie mehr unbefangen über das Thema sprechen konnten. Wie auch? Befangenheit bedeutet auch im historischen Kontext gefesselt zu sein. Historisch und oder religiös. Einzig der Islam dürfte öffentlich noch ähnlich frenetisch wie das Auto besungen werden. Eine Art höhere Macht. Selbstverständlich als eine recht bis rechtsradikale Macht. Niemals anders!

Die Befangenheit lässt sich vermutlich am ehesten im Bereich der Sozialpsychologie analysieren. Zum Beispiel würden meine Eltern, wenn sie diese Zeilen läsen, ausflippen. Sie würden empört von sich weisen, dass irgendwas des hier Geschilderten auf sie zuträfe. Sie halten sich immer an Gesetz und Ordnung, auch im Straßenverkehr. An diesem Punkt würde allerdings spürbar, wie wenig die Gesamtthematik gedanklich durchdrungen ist. Denn die Regeln, die hier aufgestellt sind, sind die gleichen, die das Frettchen im Hühnerstall aufstellt. Es sind nämlich keine Regeln, sondern das Gegenteil davon: Die Aufhebung sämtlicher Regeln, die das friedliche Miteinander zerstören. Der Verursacher wird geschützt und hofiert, das Opfer verhöhnt, bestraft und ausgegrenzt.

Und sobald ich selbst hinterm Lenkrad sitze – und ich fahre für mein Leben gern Auto – mutiere ich unweigerlich und unmittelbar zum anderen Menschen. Zum Führer nämlich, mit allen Attributen. Mit normalen Körpermaßen ausgestattet, ohne besondere Kampftechniken oder Stärken wäre ich zu Fuß einer von Vielen. Und selbst wenn ich ein ansonsten eher rustikaler Bursche wäre, käme ein großer Kerl, breiter und stärker als ich ums Eck, käme ich kaum auf die Idee, ihn etwa, dem Hupen entsprechend, wegzubrüllen oder den Weg zu schneiden, nur weil er mich im Fortkommen auf meiner geraden Linie hindert. Aber auch wenn eine Mutter mit Kinderwagen oder ein älterer Mensch käme, denen ich auch im wirklichen Leben körperlich überlegen wäre, käme ich doch kaum auf den radikal idiotischen Gedanken, diesen einseitigen Vorteil unverzagt auszuspielen. Im Auto hingegen ist das was vollkommen anderes. Jetzt nehme ich Würstchen es sogar mit Mike Tyson in seiner besten Zeit auf – und der hätte nicht den Hauch einer Chance.

Die andere Seite dieses kalten, schwarzglühenden Sterns, nämlich das extreme Schadenspotential des Autoverkehrs in Hinsicht auf Umwelt und Klima, soll extra eingegangen werden, schwingt aber quasi ununterbrochen mit, eben weil es ja auch ununterbrochen rund um den Erdball wirkt. Zählte man Lkw, Zweiräder, Bau,- und Militärfahrzeuge mit, dürften deutlich über zwei Milliarden mit Verbrennungsmotor betriebene Vehikel auf diesem Planeten ihre Heimat gefunden haben, und allein rund Hundertmillionen PKW kommen jährlich fabrikfrisch hinzu. Natürlich ist die E-Mobilität für bestimmte Aspekte ein Segen, aber keine Lösung. Auf absehbare Zeit jedenfalls addieren sich all diese Antriebsformen, statt sich auszuschließen oder wenigstens zu ergänzen. Doch auch wenn die Gesellschaft Großteils die Unmöglichkeit des friedlichen Zusammenlebens zwischen Menschen und maschinengetriebenen Menschen nicht begreifen, die Folgen kommen rasend schnell auf uns zu. Die Gesetze, die ja eigentlich dazu da wären, den Schwächeren zu schützen, tun genau das Gegenteil. Industrie und Staat postulieren seit Jahrzehnten den Begriff „Freiheit“ im Zusammenhang mit dem Konsum. Doch dieser Idee liegt eine prinzipielle Lüge zugrunde.

Um es mit dem französischen Philosophen Jean Baptiste Henri Lacordaire zu sagen: „Zwischen dem Starken und dem Schwachen, …dem Reichen und dem Armen, …dem Herrn und dem Diener ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“

Es wäre darum Aufgabe des Staates den Stärkenunterschied zwischen Motorisierten und Unmotorisierten, zwischen Bewaffneten und Unbewaffneten auszugleichen.

Autofahren ist nur für Fußgänger gefährlich. Autofahrer riskieren im schlimmsten Falle Unannehmlichkeiten oder Gewissenskonflikte. Physisch jedoch genießen sie hundertprozentige passive Sicherheit gegenüber Fußgängern. Von allen Aspekten, die gegen das private Automobil sprechen, ist die Erniedrigung des Schwächeren im öffentlichen Raum, die verheerendste. Wie kommt irgendjemand dazu, dreihundertmal stärker zu sein als der andere? Welche von allen sozialen Maßstäben und Hausverstand befreite Politik lässt sowas zu? Antwort: Die faschistoide! Sie begrüßt, fördert, finanziert und rechtfertigt auf multiple Weise dieses Missverhältnis. Privates Autofahren ist die am nachhaltigsten auf die Verfassung des Staates, die allgemeine Sicherheit sowie die soziale Intelligenz mit dem Vorschlaghammer einprügelnde Niedertracht – die darum auch die Folgen des Klimawandels nicht begreift und falls doch, dann verleugnet.

Noch zu Goethes Zeiten hing am Stadttor zu Erfurt, verziert von einem Galgen, sinngemäß folgende Warnung: „Wer Wasser, Boden und Luft mit Vorsatz verunreinigt, wird bis zum Tode am Halse aufgehängt.“ Und zu Recht! Wer möchte schon freiwillig verunreinigtes Wasser trinken, auf giftigen Böden leben oder schlechte Luft einatmen? Dass es also tatsächlich überhaupt eine Diskussion darüber geben kann, ob irgendwer, warum auch immer, die Luft überhaupt, aber speziell im dicht besiedelten Stadtgebiet verpesten darf, sollte umgehend und mit allen Konsequenzen nach Erfurt verwiesen werden. Was für eine unglaublich irrationale, wahrhaft irrsinnige Idee, es auch nur einem einzigen gottverdammten Nichtsnutz, geschweige denn, jedem beliebigen Privatmann zu erlauben, multiple Verschmutzungen in Wohngebieten zu verursachen: Lärm, Abgas und Staub; Emissionen, die jede für sich und erst recht in ihrer Addition der Gesundheit, der Natur und der lokalen Ökonomie zutiefst abträglich sind; Emissionen, die allesamt vom Verursacher nicht beseitigt werden können, aber von allen finanziell und mit der Gesundheit bezahlt werden. Ein Kutscher konnte früher immerhin noch die Pferdeäpfel von der Straße räumen, ja, musste er sogar. Der Autofahrer aber, selbst wenn er wollte, hätte keine Möglichkeit, seine allfälligen Emissionen zu beseitigen, die er wie ein Pferd seine Äpfel einfach fallen lässt und in alle Winde zerstreut. Was ihn, mit allem Respekt, zu einer absolut asozialen Drecksau macht!

Letzte Änderung: 13.09.2024  |  Erstellt am: 23.08.2024

ANMERKUNG DER REDAKTION:

DIE HIER VON DEN AUTOREN GEÄUSSERTEN MEINUNGEN SIND IHRE EIGENEN UND NICHT DIE DER FAUST-KULTUR-REDAKTION.

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Kommentare

Christa Burr schreibt
Sehr eindrucksvolle Darstellung! Das Autofahren als einfachstes, allen über 18 zur Verfügung stehendes Mittel, über den Anderen, den Fußgänger und den Fahrradfahrer, über seine Gesundheit und sein Leben zu verfügen, zumindest ihm Angst einzujagen. Aber auch damit andere Autofahrer zu jagen. Allerdings ist der Motorradfahrer - stilisiert in Ritteruniform - mit seinem Machtzuwachs sicht-- und spürbar noch zum Selbstmordattentaeter mutiert. Der Hinweis auf den Galgen bei Ehrfurt passt meiner Meinung nach nicht zu dieser luciden Darstellung: die Todesstrafe ist - zumindest bei uns - abgeschafft. Es gäbe andere Möglichkeiten, so die Politiker und die Gesellschaft es wollten, klare Grenzen zu setzen und den Schwächeren zu schützen. allerdings

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