Die Befangenen – Teil 3

Die Befangenen – Teil 3

Essay
Retroritratto. 2013. Öl auf Leinwand | © Andrea Grosso Ciponte

Eine Kinderzeichnung zeigt Tiere, die sich ausschließlich maschinell fortbewegen: Haus- und Landtiere mit Autos und Motorrädern; Vögel und Insekten in Flugzeugen und Hubschraubern; Fische und Meerestiere auf Schiffen und U-Booten – als wolle es fragen, wozu der liebe Gott überhaupt Füße, Flügel und Flossen ausgeteilt hat.

Wenn die Situation verrückt wird, dann werden die Irren zu Profis. Freilich funktioniert privater Autoverkehr nur unter der Maßgabe gegenseitigen Einlenkens. Aber irgendwas, denkt man sich vielleicht, muss doch die Sicherheit geben, dass man nicht zum Beispiel auf den Gehweg totgefahren wird. Ja. Und nochmal ja. Diese Sicherheit gibt es. Und zwar in doppelter Ausführung. Zum einen ist es ohnehin nicht erlaubt, jemanden auf dem Gehweg oder überhaupt totzufahren. Wenn es dann aber eben doch mal passiert, schafft der zirkusreife Begriff „Unfall“ Abhilfe. Zur Rubrik Sprachstörung später mehr. Zum anderen ist es, Vorhang auf für die Mutter der geistigen Umnachtung: Der… Vertrauensgrundsatz!

VERTRAUE

Soll das etwa heißen, dass man jemandem vertrauen muss (!), den man ansonsten möglicherweise unter keinen Umständen vertraut hätte? Genau das heißt es! Ein Geisterfahrer zum Beispiel lässt dieses Vertrauen offensichtlich missen. Ein Falschparker freilich genauso, aber weniger unterhaltsam. Das Opfer jedenfalls gilt es dafür zu begeistern, Benachteiligungen freiwillig in Kauf zu nehmen. Die Benachteiligungen trifft aber nicht nur das soziale Verhalten, sondern aus einer ganzen Palette heraus auch das ökologische. Jemand, der einen Verbrennungsmotor bei sich führt, muss etwa, ob er will oder nicht, auf lokaler Ebene (auf globaler ist er längst ein Big Player) diverse Rückstände wie Abgase, Lärm und Feinstaub erzeugen. Ein Schöpfungsakt der lässigen Regression, der prinzipiellen und vollständigen Verachtung des Mitmenschen und kompletter Beschneidung des gesunden Rechtsempfindens. Menschen mit einem solchen Charakter zu vertrauen, ist optimistisch. Niemand würde Besitzern von Heckenscheren, Elektrobohrern oder Zitronenhainen prinzipiell Vertrauen schenken.

Speziell wir Deutsche glauben gern die Kleinstaaterei und das Kastendenken abgelegt zu haben, dem Sklavendasein entkommen zu sein, den Klerus besiegt zu haben, den Adel geschliffen und mit Einführung der Demokratie das Böse, Niederträchtige und Ungebildete erledigt zu haben, denen möchte man zurufen: Die Zukunft der Menschheit wird daran scheitern, dass selbst die allergrößten Idioten sowohl wählen als auch Autofahren dürfen.

Wie man parkt, so fährt man auch und wie man fährt, so wählt man. Und man wählt, was einen fahren lässt! Nicht nur schnell oder langsam, sondern könig- oder kaiserlich. Das Auto bietet Wohnen und Fahren in einem. Die mobile Immobilie. Praktischerweise weitestgehend mietfrei. Doch was geschieht mit uns, wenn wir beschleunigt werden? Unser Hirnstamm flippt völlig aus! Der reptiloide Annex erzählt von Millionen von Jahren der Evolution, in denen wir als Tiere unter anderen Tieren versuchten, den Energiehaushalt auszutricksen: Mit wenig Energieaufwand größtmögliche Kraft erzeugen. Und heutzutage? Mit der Tretkraft eines Kleinstkindes vermag ein x-beliebiger Trottel, dem man ansonsten keinen Eimer Wasser anvertrauen würde, zweieinhalb Tonnen Stahl in 5 Sekunden auf 100Km/h durch die Wohnstraße zu beschleunigen. Hey, da flippt das Stammhirn aus, da löst sich der Verstand in Wohlgefallen auf – und alle tun gern so, als bliebe diese Art der Fortbewegung gegen jeden Verstand (und der Evolution) ohne allerschwerste soziale, politische und ökologische Folgen.

Und ähnlich wie der Richter ist auch die Polizei per Kraftfahrzeug zum Unfallort unterwegs, der Notarzt, der Journalist, der Tatortreiniger. Ihnen allen ist gemein, dass sie zur Überzeugung gelangt sind, ohne fahrbaren Untersatz ihren Job nicht ausführen zu können. Da kommt ihnen kaum in den Sinn, dass ihr Job ansonsten auch kaum gefragt wäre. Das absolute Gros der Unfallkliniken und seiner morbiden Infrastruktur ist einzig und allein dem privaten Autoverkehr gewidmet. Moderne Arbeitsrichtlinien und Unfallschutz in Betrieben sorgen ansonsten längst dafür, dass Unfälle weitestgehend ausbleiben.

Da sich die potentielle Gefahr, während man mit Tonnen von Stahl zwischen seinen Mitmenschen herumgurkt, aber nun mal nicht weg hupen lässt, wurde im Laufe des Konflikts per Redekunst und Überzeugungsmagie, ausgefuchster Werbung und Marketing in formidabler Ästhetik, grenzenlosem Sponsoring, Markenbotschaften und Mobilitäts-Partnerships, Kino im Kopf und Musik im Herzen, Spielzeug und Prestigevermittlung, Arbeitsplätze sowie autogerechter Stadt- und Weltplanung samt jahrzehntelanger Rund-um-die-Uhr-Hirnwäsche auf allen Kanälen diese kranke Lebensform in jede Birne rund um den Globus gehämmert. Und um für immer gegen jegliche Vernunft gewappnet zu sein, wurden bombensichere Verteidigungsschirme aufgespannt, wie zum Beispiel der allseits beliebte „Unfall“.

UNFALL

Ein Unfall liegt laut Versicherungsunternehmen dann vor, „wenn eine Person durch ein plötzlich von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.“ Dem widersprechend, besonders wenn Unmotorisierte durch einen Kfz-Lenker verletzt werden, neigen die befangenen Frontberichterstatter sämtlicher Nachrichtenkanäle dazu, derartige Ereignisse auch auf Seiten des Verursachers als Unfall zu verbuchen. Doch ein Unfall geschieht, oben zitierter Definition nach, ja allein dem, auf den das Ereignis plötzlich und körperlich einwirkt. Davon kann beim Autoführer, außer vielleicht beim Auto vs. Auto jedoch keine Rede sein. Normal erleidet allein der Unmotorisierte einen Unfall. Und es wäre selbstverständlich auch die Aufgabe der unbefangenen Presse es so darzustellen und nicht, als hätte der Täter einen Unfall gehabt!

Doch auch um diese eindeutige Sachlage sprachlich sofort zu torpedieren, wird der Tatbestand des bedingten Vorsatzes, der sich aus dem Führen eines Fahrzeugs ergibt, schon im Keim verschleiert. In der Regel wird die Führerschaft über das rasende Objekt Richtung einer neutralen Mechanik verschoben, etwa: „Fahrzeug rast in Menschenmenge“, „Auto erfasst Kind“, „Motorrad touchiert Radfahrer“ und so weiter. Großzügig nachgeladen werden plausibel scheinende Begründungen wie „…durch die tiefstehende Sonne geblendet, war das Kind zu spät zu erkennen“, „…wegen schlechter Sicht in Folge des Nebels, war der Radfahrer nicht auszumachen…“. Umstände freilich, die in Wirklichkeit die Schuld verschärften. Ein fähiger Staatsanwalt würde schon mal das „Bedingt“ im Vorsatz streichen. Denn bei Blendung müsste die Geschwindigkeit ja abrupt gedrosselt, beziehungsweise das Fahrzeug sofort gestoppt werden, damit sich die grundsätzliche Gefahr nicht noch weiter erhöht. Doch bei derartigen juristischen Unschärfen bleibt es keineswegs.

Nicht selten wird im nächsten Schritt das Opfer selbst zum Täter erklärt und in die Haftung genommen. Der kriegsbefangene Reporter erklärt dann ungeniert – was mit den alliierten Polizeireports wie aus der gleichen Kanone geschossen klingt – das Kind habe keinen Helm getragen oder die Eltern hätten es an Aufsicht mangeln lassen. Das Opfer muss jedenfalls mit allen Konsequenzen leben. Der Mörder aber etwa, der vor einiger Zeit in Berlin vier Menschen mit seinem Porsche auf dem Gehweg totfuhr, konnte seinen Hals aus der Schlinge ziehen, da er nachweisen konnte, an hochgradiger Epilepsie zu leiden und deswegen in Behandlung zu sein. Und anstatt diesem niederen Subjekt gerade deswegen mindestens viermal lebenslänglich einzuschenken – fährt er längst wieder fröhlich den nächsten Todesautomaten durch die Stadt.

Eine gänzlich autoaffine Binnenjustiz hat sich über die gut bürgerliche Justiz erhoben und führt eine Art Parallelwelt an, in der das Recht des Stärkeren felsenfest etabliert ist. Und so wie der Menschen am Steuer zum Führer wird, so ist es die Mobilitätsindustrie, die das ganze Land am Gängelband führt und die Justiz – wie sie es schon im dritten Reich radikal getan hat – konsequent auf Seiten der Täter wirken lässt.

ROCKY

Nur im Auto kommt der Mensch darüber hinaus, worüber er im wahren Leben niemals hinauskäme. Mit der Zulassung der individuellen Motorisierung wird dem Menschen eine Kraft übereignet, die er weder in einer intakten Natur noch in einer funktionierenden Gesellschaft je erlangt hätte.

Als ein alter Bekannter, Graciano Rocchigiani, genannt Rocky, vor einigen Jahren auf Sizilien von einem Kleinstwagen ins Jenseits befördert wurde, war mein erster Gedanke, dass der Fahrer ohne den Schutz seines Exoskeletts den ehemaligen Box-Weltmeister vermutlich lieber ausgewichen wäre. Und wenn nicht, wie viele mal stärker mochte Rocky körperlich gewesen sein? Doppelt, dreifach? Das wahre Leben in freier Wildbahn ist tatsächlich nicht per se gerecht. Doch niemand ist hundert oder dreihundertmal stärker als der nächste und zudem selbst praktisch unverwundbar. Laut Carabinieri torkelte Rocky nachts betrunken auf die Straße. Wäre er nüchtern gewesen, wäre ihm das Schicksal erspart geblieben. Dem steht gegenüber, dass wenn sein Henker nicht ins Auto gestiegen, sondern wie ein Mensch zu Fuß gegangen wäre, Rocky bestimmt überlebt hätte. Dieser Aspekt jedoch findet sich kaum in den Presseakten, die lediglich hervorheben, der Fahrzeuglenker sei clean gewesen. Denn solange sich ein Führer an die Verkehrsregeln hält, hat er das Recht, seine Maschine im Rahmen der Verkehrsordnung jederzeit und überall, mit oder ohne Grund zu bewegen. Alles von der Haftpflicht gedeckt. Und damit wird auch die Idee des Verursacherprinzips mehr und mehr zugeschüttet.

Befangenheit meint, alle stehen hinter einer Sache. Das gesamte öffentliche wie private Leben ist von einer kulturellen Rahmenbedingung durchdrungen, der niemand entfliehen kann. Sie ist Realität, Physik! Wer heute durch eine beliebige Stadt flaniert, hat sich an eine Flut von Gesetzen, Vorschriften und Geboten zu halten. Ausnahmslos Folgen der Massenmotorisierung. Eine gänzlich auf die Bedürfnisse des Autofahrers (also der Autoindustrie) ausgerichtete Sicht auf die Welt mündet in Lebensbedingungen, in denen sämtliche menschlichen Grundsätze zerbröselt werden: Das Recht des Menschen auf freie Bewegung, saubere Luft, Ruhe oder schlicht körperliche Unversehrtheit – alles fällt der viralen Geistesstörung Auto zum Opfer.

Letzte Änderung: 06.09.2024  |  Erstellt am: 23.08.2024

ANMERKUNG DER REDAKTION:

DIE HIER VON DEN AUTOREN GEÄUSSERTEN MEINUNGEN SIND IHRE EIGENEN UND NICHT DIE DER FAUST-KULTUR-REDAKTION.

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