Die Befangenen – Teil 2

Die Befangenen – Teil 2

Essay
Retroritratto. 2013. Öl auf Leinwand | © Andrea Grosso Ciponte

Eine Kinderzeichnung zeigt Tiere, die sich ausschließlich maschinell fortbewegen: Haus- und Landtiere mit Autos und Motorrädern; Vögel und Insekten in Flugzeugen und Hubschraubern; Fische und Meerestiere auf Schiffen und U-Booten – als wolle es fragen, wozu der liebe Gott überhaupt Füße, Flügel und Flossen ausgeteilt hat.

Nicht selten hört oder liest man vom Ausnahmezustand auf den Straßen, ja vom Krieg zwischen Autofahrern auf der einen sowie Unmotorisierten auf der anderen Seite. Natürlich verfehlen derartige Hohlgeschosse ihr Ziel, da für Fußgänger oder Radfahrer körperliche Auseinandersetzungen mit dem Auto grundsätzlich auf dem OP-Tisch oder dem Gottesacker enden.

In Wahrheit findet ein ganz und gar einseitiges Töten und Verwunden statt, begleitet von nie endendem Drohen und Dominieren gegenüber denen, die nicht mit Tonnen von Stahl, der Kraft hunderter Pferde und maximaler persönlicher Panzerung unterwegs sind. Allein die schlichte Tatsache aber, dass die eine Gruppe der Verkehrsteilnehmer in der Lage ist, die andere zu töten, nur umgekehrt nicht, etabliert bereits den größtmöglichen Spagat sozialer Ungerechtigkeit: Der eine kann den anderen töten, aber der andere den einen nicht. Ganze Heerscharen von Juristen und Fachautoren verdienen mit dem radikalen Ausmerzen des sozialen An- und Verstandes ihren Lebensunterhalt. Die automobile Infrastruktur reicht hingegen bis ins Kanzleramt. Auch in Sachen Rhetorik steht dem Hausverstand eine perfekt geschmierte Allianz aus Politik, Industrie und ihr hörigen Medien gegenüber.

Die befangenen Pressevertreter, die in Sachen Straßenverkehr Krieg ausrufen, sind im besten Sinne Befangene. Kriegsbefangene. Sie glauben nämlich, wohl ohne sich dessen je bewusst zu werden, sie könnten schwerlich diejenigen aufs Korn nehmen, die doch nichts anderes tun wie sie selbst. Das gleiche gilt auch für den Polizeibeamten, den Staatsanwalt, den Rechtsanwalt. Auch der Richter hat ein nachvollziehbares Problem damit, motorisierte Rechtsbrecher ordnungsgemäß abzuurteilen. Denn er weiß nun mal, dass auch ihm am Steuer jederzeit ein menschlicher Fehler unterlaufen könnte, in dessen Folge jemand sein Leben lassen muss. Über jeder Fahrt also, egal wie umsichtig man fährt, schwebt das Damoklesschwert des Todes. Doch würde er deswegen auf seinen Wagen verzichten? Niemals! Er geht stattdessen das Risiko ein – das für seine eigene Gesundheit praktischerweise gegen Null tendiert. Zu gut Deutsch: Er riskiert das Leben anderer, nicht das Seine. Und das mit voller Rückendeckung des Staates. Eine derart nachhaltige und lückenlose Umwälzung intellektueller wie sozialer Werte funktioniert in einer Demokratie nur, wenn wirklich alle Gesellschaftsteile an einem Strang ziehen. Man muss diese Unterwerfung wohl als größten Konsens der deutschen Geschichte erachten.

Besagter Richter dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst motorisiert sein; kassiert ein gutes Gehalt und fährt vermutlich Oberklasse. Möglicherweise SUV. So einen wie der Angeklagte, den er soeben nicht wegen Mordes ins Gefängnis schickte, wo er unbedingt hingehört hätte, sondern mit einem temporären Führerscheinentzug und einer Geldstrafe fürstlich belohnte; …den gleichen Mercedes 500 GL etwa, den Werbeguru Jung von Matt als „Großstadtjäger“ bewirbt, ohne je als gewissenloser Hintermann auch nur den Finger gezeigt zu kriegen.

Der Todesfahrer hingegen könnte sowohl besonnener Familienvater sein, aber auch vorsätzlich handelnder Mörder. Wir werden es allerdings nie erfahren. Denn der Richter müsste Fragen stellen…, die Polizei und die Staatsanwaltschaft müssten Fragen stellen…, die Presse müsste Fragen stellen…, empörte Bürger, die Hinterbliebenen und letztlich das Volk müsste Fragen stellen: „War es Mord oder nur Totschlag?“ Was geschah vor dem „Unfall?“ Wie konnte es dazu kommen? Wobei diese Frage schon rhetorischer Natur wäre, denn es konnte prinzipiell nur soweit kommen, weil einer oder alle Beteiligten mit potentiellen Mordwerkzeugen unterwegs waren. Man stelle sich vor, jedes Jahr geschähen hunderttausende Unfälle mit Staubsaugern. Miele dürfte vermutlich Probleme bekommen – VW und Co. hingegen Subventionen.

Staat, Gewerkschaften, die meisten Parteien und Berufsgruppen, Medien und mutmaßlich ein Großteil der Bürger fördert dieses bis ins letzte Detail durchdeklinierte Gebaren des Autofahrens nach allen Kräften: Das Recht des Stärkeren, statt dem des Schwächeren, hat sich zur Gänze etabliert. Die meisten Kfz-Besitzer glauben daher an den motorisierten Individualverkehr wie der Maurer an die Kelle, sie glauben, es ginge nicht ohne, sie glauben, ohne Auto endete der Spaß im Leben und darum sind sie bereit, Mensch und Tier, Natur und Heimat, die wohnliche Stadt, das fürsorgliche Sein, das Andenken an die Vorfahren, die Zukunft ihrer Kinder und letztlich die Existenz des gesamten verdammten Planeten für ihren Fetisch zu opfern.

Letzte Änderung: 30.08.2024  |  Erstellt am: 23.08.2024

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