Die Befangenen – Teil 1

Die Befangenen – Teil 1

Essay
Retroritratto. 2013. Öl auf Leinwand | © Andrea Grosso Ciponte

Eine Kinderzeichnung zeigt Tiere, die sich ausschließlich maschinell fortbewegen: Haus- und Landtiere mit Autos und Motorrädern; Vögel und Insekten in Flugzeugen und Hubschraubern; Fische und Meerestiere auf Schiffen und U-Booten – als wolle es fragen, wozu der liebe Gott überhaupt Füße, Flügel und Flossen ausgeteilt hat.

Vor meiner Wohnung, in einer beschaulichen Gasse in Nähe des Wiener Naschmarktes herrscht kaum Verkehr, dennoch: Mit gut 120 db hupen ganz normal wirkende Bürger Anmutungen wie „Arschloch“ oder „Fahr weiter, du Idiot“ durch die Gegend. Und das x-mal am Tag. Bürger, die sich sonst niemals so exaltiert benehmen würden, verlieren in Personalunion mit dem Auto – in aller Öffentlichkeit – vollständig die Selbstkontrolle; per Megaphon jeden im Umkreis eines halben Kilometer anzubrüllen, weil irgendwer einem grad‘ im Wege steht – das ist, ja, durch und durch geistesgestört!

Diese ansonsten vielleicht ganz normal wirkenden Bürger bemerken ihr aggressives Benehmen natürlich kaum, weil sie sich selber räumlich isolieren und äußere Eindrücke nurmehr stark gefiltert zulassen. Punkt ist: Auch wenn besagte Autofahrer ihre eigene Verhaltensauffälligkeit einsähen, müssten sie das an ihre Familien, Freunde, Arbeitgeber etc. weitergeben. Spätestens ab dieser beliebten wie nachvollziehbaren Unterlassung beginnt die schwere soziale Deformation Befangenheit ihre unseligen Kreise zu ziehen.

Das Schamempfinden wird im Auto ähnlich wie in sozialen Netzwerken weitestgehend ausgeschaltet. Trotz IP oder Nummernschild bleibt man im Wesentlichen anonym. Entweder, weil man gar nicht real am Tatort erscheint oder sich diesen jederzeit durch Flucht – also schlichtem Weiterfahren, vulgo Gasgeben – ganz easy entzieht.

Wenn eines meiner Kids mal wieder mit dem Kopfhörer durch die Gegend wandelt, dann mahne ich es oft, sich mit den lauten Dingern doch nicht einen ganzen Sinn auszuknipsen. Dann meckern die zurück, sie hätten ja noch Augen und Nase, um sich zurecht zu finden. Aber wenn man versteht, warum man keinen Sinn ausschaltet, muss man sich mal die verkrüppelten Restsinne des Autofahrers in seiner quasi luftdichten Kapsel vorstellen. Was er da noch vom Leben mitkriegt und auch was er dem Leben noch beiträgt, hat mit dem Menschen und seiner angedachten Lebensform nicht einmal mehr im Ansatz zu tun.

Ja. Debattiert wird über Antriebsformen, aber Lebensformen bleiben draußen. Wer etwa eine Straße überqueren will, aber ein Auto vorlassen muss, nur weil das stärker ist, spürt die Ohnmacht am eigenen Leibe: Das soziale Tief auf der einen, entspricht dem asozialen Hoch auf der anderen Seite. Das bizarre Ungleichgewicht der Kräfte hinterlässt tiefe Wunden. Unsere Städte haben sich in gewalttätige, intolerante Soziotope verwandelt. In motorisierte Höllen, in denen das Recht des Stärkeren wütet. Doch die Gesellschaft, die darunter leidet, nimmt es in pathologischer Demut hin. Wie kann so etwas möglich sein?

VOM RECHT DES STÄRKEREN

Seine ganz privaten vier Buchstaben mit fremder Energie und erhöhtem Speed zu betreiben, ist zwar leider geil, aber ein Verbrechen an der Natur. Dem widerspräche nur, wer den Lieben Gott für einen Trottel hält oder die Evolution bezweifelt. Denn die Grenze zwischen Raum und Geschwindigkeit verläuft haarscharf – und die Antworten sind immer die gleichen.

„Zwischen dem Starken und dem Schwachen, zwischen dem Reichen und dem Armen, zwischen dem Herrn und dem Diener ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“ (Lacordaire)

Die bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit des Löwen etwa beträgt rund 65 km/h. Seine Lieblingsspeise hingegen, Zebras und Antilopen, können mit Ausnahme alter und kranker noch einen Zahn zulegen. Das ist der Witz! Wären die Löwen allerdings plötzlich 200 km/h schnell, würde das Leben in der Serengeti augenblicklich zerbersten. Alle Balance ginge verloren. Alles Sein müsste sich umgehend nach dem Schnellsten richten, also dem Stärksten. Eine löwengerechte Serengeti entstünde. Exakt das gleiche also, was in unseren urbanen Lebensräumen durch das alles dominierende Auto längst geschehen ist.

Von Großstadtjägern umzingelt pirscht ein Kind zum Wasser, vorsichtig wie die Antilope. Geduckt, ununterbrochen Witterung aufnehmend. Das hat es von der Pike auf gelernt. Begreifen, dass schon ein einziger Fehltritt in seinem jungen Leben ausreicht, es zu beenden. Ganz normal, und schwer vorstellbar, dass es in der Menschheitsgeschichte jemals derart intolerant zugegangen sein sollte. Selbst die verrücktesten Herrscher und Kulturen hätten ihre Kids kaum eines Stockfehlers wegen in den Tod gejagt. Genau dies aber geschähe heut‘ in einer Tour, wenn nicht besorgte Eltern ihren Nachwuchs unermüdlich einbläuten, dem Stärkeren Vorrang zu gewähren. Meine Mom nennt es: „Den Stärkeren gewinnen lassen!“ Die sozialen wie intellektuellen Folgen solch nachhaltigen Gegeneinanderlebens aber sind so gravierend und omnipräsent wie das Fahrzeug selbst.

Die Beschleunigung aller Parameter unseres Planeten lässt ihn umso heller strahlen. Doch die Folgen sind katastrophal. Während wir den Klimawandel immerhin notieren, unterschätzen wir ganz und gar die speziell urbanen psychologischen Folgen des Verkehrs und der schieren Existenz Milliarden tonnenschwerer, glühender, brüllender, Gift emittierender Maschinen mitten unter uns! Das Einstürzen des sozialen Ambientes ist Programm: Das Verschwinden der hergebrachten Lebensräume. Alles Raum verschlingt längst die motorisierte Löwenmeute. Der Rest drängt sich auf zugewiesene Pfade und Reservate. Wie zum Beispiel die Jüngsten mit dem Dreirad nicht mehr auf dem Gehweg fahren können, weil Autos aus immer mehr Einfahrten drängen. Wenn auch der ohnehin mit Halteverbotsschildern zugestellte Gehweg als letztes Biotop des Menschen wegfällt, verbleiben nurmehr zugewiesene Spielplätze und versprengte Parkanlagen. Das fortschreitende Aussortieren von Alten, Kindern, Kranken, Straßenfußballern, Asphalt- und Traumtänzern, ja, Mensch wie Tier überhaupt aus dem öffentlichen Straßenbild ist erschreckend real und eine wirkliche Katastrophe. Denn es bedeutet nichts weniger als das Ende der Zivilisation. Und doch wird dieser Niedergang, den jeder auf den Straßen mit eigenen Augen sehen und erleben kann, kaum reflektiert und kommentiert, – allgegenwärtig auf allen Kanälen sind nur die kreativen Umdeutungen der Wirklichkeit.

Letzte Änderung: 23.08.2024  |  Erstellt am: 23.08.2024

ANMERKUNG DER REDAKTION:

DIE HIER VON DEN AUTOREN GEÄUSSERTEN MEINUNGEN SIND IHRE EIGENEN UND NICHT DIE DER FAUST-KULTUR-REDAKTION.

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