Zwei auf einen Streich

Zwei auf einen Streich

Susanne Konrad im Gespräch mit Stefanie Gregg
Stefanie Gregg | © Wikimedia commons

Zwei Bücher sind in diesem Jahr von Stefanie Gregg erschienen; in beiden geht es um seelische Verletzungen, also ums Verletzen und Verletztwerden. Mal wird das Trauma über Generationen hinweg weitergereicht, mal steckt es im eigenen Leben und bringt nicht mehr erklärbare Reaktionen hervor, die destruktiv in jede Beziehung eingreifen. Susanne Konrad sprach mit der Autorin über psychologische Romane und ihre Verlage.

Susanne Konrad: Liebe Stefanie, nach den Bänden „Nebelkinder“ und „Die Stunde der Nebelkinder“ ist der dritte und letzte Band, „Die Hoffnung der Nebelkinder“ im Aufbau-Verlag erschienen. „Nebelkinder“, so erklärst du es selbst in deiner Danksagung, „so nennt die moderne Psychologie die Generation der Kriegsenkel, die scheinbar nichts mehr mit dem Krieg zu tun haben und dennoch so viel auf den Schultern tragen müssen.“ Im Fall deiner Geschichte ist das Lilith, die Tochter von Ana(stasia), die ihrerseits als Kind an der Seite ihrer Mutter Käthe aus Breslau geflohen war. Lilith hat den Zweiten Weltkrieg zwar nicht unmittelbar erlebt, doch die transgenerationalen Traumata machen auch vor ihrer Seele nicht halt. Als junge Frau verliebt sie sich in den unsteten Akademiker Robert, der ihr genauso tiefe Gefühle entgegenbringt, wie sie ihm und der doch keine konstante Beziehung mit ihr aufbauen kann, weil er selbst traumatisiert ist: Als Kind wurde er von seinem Vater regelmäßig geschlagen. Als Lilith Ende Vierzig ist und eine kinderlose Ehe mit einem Mann namens Tobias hinter sich hat, bittet Robert sie, seinen Sohn Aaron bei sich aufzunehmen, dessen Patin sie ist und dessen Mutter, eine frühere Freundin von Lilith, verstorben ist. Dieser Schritt, den Lilith anfangs nicht gehen will, erweist sich in der Tat als schwierig: Der dreizehnjährige Aaron ist verschlossen und einsam. Er scheint in einer anderen Welt zu leben als die in kühlem Chic eingerichtete Architektin Lilith. Eine gemeinsame USA-Reise von Robert, Lilith und Aaron bringt einige Klärung, aber ob sie als Familie zueinanderfinden, möchte ich an dieser Stelle offen lassen.
Liebe Stefanie, ich erlebe deinen Roman als eine explosive Mischung aus psychologischem Realismus und aus Elementen des Schicksalsromans mit quasi magischen Fügungen und schicksalhaften Zusammenhängen. Siehst du das auch so? Ist diese Mischung beabsichtigt?
 
 
Stefanie Gregg: Wie überraschend – „psychologischer Realismus, Schicksalsroman und quasi magische Fügungen“ – so hätte ich meinen Roman nie beschrieben. Wenn ich aber darüber nachdenke, hast du wohl recht.
Mich interessieren in allen meinen Büchern die psychologischen Hintergründe von Menschen: Was treibt sie an, warum gehen sie welche Schritte, oft ohne selbst die Gründe zu kennen, wie entwickeln sich Charaktere und Lebenswege, meist aus einer spezifischen Kindheit heraus. Und ja, hier versuche ich aufzuzeichnen, was im realen Leben sogar oft geschieht, ohne dass man sich selbst dessen bewusst ist. „Nebelkinder“ sind die Kriegsenkel, die so viel von den Geheimnissen der Familie in sich tragen und dies nicht wissen.
Der Schicksalsroman ist jener, bei denen den Figuren etwas geschieht, das außerhalb ihrer Entscheidungsmöglichkeiten liegt. – Dies ist das Leben. Dinge geschehen, Familienkonstellationen, historische Geschehnisse, ein zeitgenössisches Umfeld – das Individuum muss sich darin zurechtfinden – und jeder reagiert anders auf „sein Schicksal“.
Schließlich: magische Fügungen. Mir liegt eigentlich Magie und Esoterik fern; doch oft mögen es solche Momente sein, die uns uns selbst hinterfragen lassen, hinter die Kulissen sehen lassen, Dinge zulassen, die man ansonsten als „irreal“ davonwischt, und die man eben doch als innere, manchmal vererbte, manchmal erlebte und tief verschlossene, weggeschlossene, Erfahrungen in sich trägt. Und ja, deswegen sind mir diese scheinbar „magischen Momente“ auch wichtig. Wenn eine Schamanin in meinem Roman dem zwölfjährigen Aaron einen Traumfänger überreicht, dann heißt dies, dass sie gesehen hat, dass er schwere Träume hat, Dinge, die ihn belasten, und dass sie versucht, diese von ihm fernzuhalten. Und über diesen scheinbar ‚magischen‘ Traumfänger versteht dies auch seine Umgebung, und er selbst und kann es akzeptieren und zulassen. Ja, diese „Magie“ ist es, die mir wichtig ist, und von der ich glaube, dass sie existiert.
 
 
Etwa gleichzeitig mit der „Hoffnung der Nebelkinder“ ist ein weiteres Buch von Dir erschienen, „Koffer voller Briefe“ im Verlag edition federleicht. Auch hier geht es um Schicksal, allerdings weniger durch die Generationen hindurch, sondern innerhalb einer Generation. Dem Protagonisten Elias, einem jungen, attraktiven Witwer, wird ein Koffer mit Briefen überstellt, die eine Jugendfreundin fast täglich an ihn gerichtet hatte, bis sie sich schließlich das Leben nahm. Elias wirft sich vor, dafür verantwortlich zu sein, weil er das Mädchen seinerzeit zurückgewiesen und sein Schicksal nicht weiter verfolgt hatte. Er beginnt nun, seine Schuld abzutragen und zu versuchen, zwischen Freunden Streit zu schlichten, sich um eine verarmte Bekannte zu kümmern und weiteren Menschen aus seinem Umfeld zu helfen. Dabei findet er unbemerkt zu seiner eigenen Liebe und wird von der Schuld freigesprochen: Isabella, die Absenderin der Briefe, hatte ihr eigenes Trauma und hatte Elias mit ihren vielen Briefen als Projektionsfläche für sich genutzt. Auch dieser Roman enthält sowohl viel psychologischen Realismus, als auch schicksalhafte Fügungen, so die Freundschaft der Reiseunternehmerin Rosie mit Elias‘ Tochter Anne, die noch sehr um ihre verstorbene Mutter trauert. Schicksalhaft ist daran, dass auch Elias selbst sich für Rosie interessiert, seine Tochter aber eine neue Frau im Haus noch ablehnt.
Während es in der „Hoffnung der Nebelkinder“ wechselnde zeitliche Ebenen gibt, ist dieser Text nach den Namen der Personen, denen Elias Gutes tut, gegliedert und dazwischen werden die jeweiligen Briefe von Isabella eingeblendet. Dadurch haben die beiden Romane eine unterschiedliche Struktur. Wie hat die parallele Arbeit an diesen beiden strukturell so unterschiedlichen Projekten ausgesehen?
 
 
Ich danke ich Dir zuerst einmal für deine Interpretation – es ist ein wundervolles Gefühl für eine Autorin, wenn man spürt, dass dies angekommen ist, was man so sehnlichst erzählen wollte.
Tatsächlich habe ich an diesen zwei Geschichten nicht parallel gearbeitet.
Den ‚Koffer voller Briefe‘ habe ich 2019 begonnen zu schreiben, als mir ein Bekannter seine Geschichte, die Anfangsgeschichte erzählt hat, dass eine Frau seit dreißig Jahren jeden Tag einen Brief an ihn geschrieben und nie abgesandt hat. Es war eigentlich nach den Nebelkindern I, die damals ja gar nicht als Trilogie geplant waren (und ich bin so dankbar, dass die anfangs gestrichenen 400 Seiten dann doch noch ins Leben kommen, und ich alle Geschichten der Figuren zu Ende erzählen durfte.).
Doch – für mich unverständlicherweise – wollte man diese Geschichte nicht: Mein Stamm-Verlag, der Aufbau Verlag, fand, es passe nicht in meine „Schiene“, die man für mich aufgebaut habe: psychologischer Familienroman. Und meine Literatur-Agentur wollte den Roman erst gar nicht den Verlagen anbieten, denn ein Roman solle keinen männlichen Protagonisten haben, so sagte sie.
Ich war entsetzt und traurig, dass dieser Roman zu einem „Schubladen-Manuskript“ wurde. Denn ich fand diese Geschichte wunderbar und wichtig. Und ich wollte sie erzählen, weil der Mann, dessen wahre Lebensgeschichte es ist, schwer an Krebs erkrankt ist.
Als ich durch einen Zufall auf der Frankfurter Buchmesse die Verlegerin der edition federleicht, Karina Lotz, kennenlernte und sie sofort begeistert von dieser Geschichte war, machte mich das sehr glücklich. Ich wollte, dass diese Geschichte leben darf.
 
 
Konntest du in „Koffer voller Briefe“ etwas schriftstellerisch verwirklichen und ausleben, was in den „Nebelkindern“ vielleicht nicht möglich war? Oder umgekehrt?
 
 
Natürlich – in jedem meiner Werke steckt etwas, das ich unbedingt erzählen will. Sonst könnte ich nicht schreiben. Die Geschichte der Kriegs-Enkel, die auch meine ist, war mir sehr wichtig zu erzählen. Und die überwältigende Flut an Leserbriefen spiegelt mir wider, dass sie für viele andere auch sehr wichtig war.
Beim ‚Koffer voller Briefe‘ habe ich eine Geschichte gehört, die so außergewöhnlich ist und die absolut erzählt werden muss, so fand ich, weil jeder ihre Aussage versteht. Jeder von uns hat schon einmal seine Mitmenschen verletzt. Und jeder hat die Möglichkeit, sein ganzes weiteres Leben, seinen Mitmenschen gut zu tun. Eben immer soweit es möglich ist. Gerade die Menschen in unserer Zeit, geprägt von Pandemie und Krieg, verstehen sofort, dass es wichtig ist achtsam zu sein, zu sich und zu seinen Mitmenschen. Und dass es eigentlich so leicht ist.
 
 
Wie kam es zu der Zeitgleichheit (8. August bzw. 19. September 2023) dieser beiden Veröffentlichungen?
 
 
Dies war tatsächlich eher ein Zufall. Ein großer Verlag, wie Aufbau, plant etwa ein Jahr im Voraus. Ein kleiner Verlag wie die edition federleicht, ist da flexibler. Die Verlegerin Karina Lotz und ich brannten beide für den Stoff, wir arbeiteten zusammen daran, und dann wurde der schnellstmögliche Drucktermin gesucht – und so entstanden plötzlich zwei Romane in einem Jahr.
 
 
Wie kommt es, dass zwei thematisch nicht ganz unverwandte Bücher in zwei grundverschiedenen Verlagen erschienen sind?
 
 
Auch hier muss ich erst einmal in deine Fragestellung hineindenken. Sind es nicht ganz andere Dinge: die Traumatisierung der Kriegs-Enkel und die Reflektion darüber, dass man achtsam auf seine Taten sein sollte? Doch auch hier hast du recht. Für mich ist es wichtig und richtig, auf sich selbst zu achten, Verdrängtes zuzulassen, sich damit auseinanderzusetzen, sich zu positionieren, und neu zu sortieren. Einen neuen Blick auf das eigene Leben zu finden. Mit dem man besser zurechtkommt.
So kommen tatsächlich wieder ähnliche Dinge zusammen.
Dass sie in zwei verschiedenen Verlagen erschienen sind, liegt einfach an der Buchbranche, die ihre eigenen, wirtschaftlichen Gesetze hat. Da will beispielsweise ein Verlag die Autorin in einer Schiene sehen, die dem Leser, der Leserin sofort verständlich ist. Und ein anderer Verlag will einfach die andere, besondere Geschichte.
Und wenn es so wie in meinem Fall läuft – dann ist die Autorin glücklich.
 
 
Welche Vorteile bietet ein Publikumsverlag wie Aufbau und welche Vorteile bietet ein kleinerer, unabhängiger Verlag wie die edition federleicht?
 
 
Ein Publikums-Verlag hat eine große Marktmacht, er bringt die Bücher in Buchhandlungen und den Online-Verkauf. Er hat viele Möglichkeiten, seine AutorInnen optimal zu unterstützen, er hat hervorragende LektorInnen, Marketing-Menschen und Vertriebsleute. Er lässt AutorInnen von Ihrem Schreiben leben. Und, im besten Fall, wie bei mir und dem Aufbau-Verlag, sind dort sehr kluge, belesene, einfühlsame und literaturbegeisterte Menschen, die mit dem Autor, der Autorin zusammenarbeiten. Wie bei mir der wunderbare Verleger Reinhard Rohn und meine Lektorin Christina Weiser, die mit mir gerade die Idee für meinen neuen Roman geboren hat – eine großartige Idee! Dafür bin ich sehr dankbar, sehr glücklich.
Ein kleiner Verlag hat mehr Freiheiten, ist nicht ganz so marktgetrieben, muss nicht jedes Jahr seinen Gewinn erhöhen. Hier gibt es oft Menschen, die ganz in der Literatur aufgehen, wie Karina Lotz von der edition federleicht. Hier geht es weniger um Strategien und noch mehr um das Wort.
Wenn ich dies beides erleben darf, ist es ein ungeahnter Glücksfall.
 
 
Was planst du als Nächstes?
 
 
Mein nächstes Buch werde ich, vertraglich festgelegt, im Mai 2024 an den Aufbau Verlag abgeben, im Herbst wird es erscheinen.
Das neue Buch handelt von einem psychologischen Thema, das erst seit wenigen Jahren überhaupt einen Namen erhalten hat. Seitdem verbreitet sich dieser Begriff mehr und mehr als ein jahrzehntelang übersehenes Problem, das von immenser Wichtigkeit ist und fast jede Familie in näherer oder weiterer Umgebung betrifft.
Mehr wird erst verraten, wenn das Buch im Oktober 2024 erscheinen wird.

Letzte Änderung: 04.10.2023  |  Erstellt am: 04.10.2023

Die Hoffnung der Nebelkinder | © Wikimedia commons

Stefanie Gregg Die Hoffnung der Nebelkinder

Roman
376 S., brosch.
ISBN-13: 9783746639864
Aufbau TB, Berlin 2023

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Koffer voller Briefe | © Wikimedia commons

Stefanie Gregg Koffer voller Briefe

Roman
226 S., brosch.
ISBN-13: 9783946112884
edition federleicht, Frankfurt 2023

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