Und nacktes Nichts drapiert nach letztem Schrei

Und nacktes Nichts drapiert nach letztem Schrei

Michael Mertes’ Neuausgabe der Shakespeareschen Sonette
William Shakespeare | © wikimedia commons

Es geht ein unwiderstehlicher Reiz von diesen Sonetten aus. Sie wurden verboten, erlaubt, umgeschrieben und wiederentdeckt. Etwa 300 Übersetzer haben versucht, den provozierenden Reiz der Dichtung zu fassen. Nun sind William Shakespeares Sonette in der Übersetzung von Michael Mertes in einer erweiterten Neuausgabe erschienen, die Stefana Sabin gerne gelesen hat und kommentiert.

Vielleicht weil seine Stücke so populär sind, wurde seine Lyrik oft vernachlässigt, aber Shakespeares Sonette gehören zu den bedeutendsten Werken der englischen Literatur. Auch deshalb wird er als the Bard, der Dichter, bezeichnet.

Das Sonett ̶ das Wort kommt von italienisch sonetto, ‚kleines Tonstück‘, das seinerseits auf lateinisch sonus, ‚Klang‘ zurückgeht ̶ und entstand in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts am Hof des staufischen Kaisers Friedrich II. Ursprünglich bestand es aus 14 elfsilbigen Versen, die in vier kurze Strophen eingeteilt waren: zwei Quartette, also Vierzeiler, und zwei Terzette, also Dreizeiler. Von Süditalien breitete sich das Sonett als Gedichtform in ganz Europa aus und gelangte im 16. Jahrhundert nach England, als die Übersetzung von Petrarcas Zyklus Il Canzoniere eine regelrechte Mode des sonnetteering am elisabethanischen Hof auslöste.

Dabei wurde die Form des petrarkistischen Sonetts dem Englischen angepaßt: statt zwei Vierzeiler und zwei Dreizeiler hatte das englische Sonett typischerweise drei Vierzeiler und einen abschließenden gereimten Zweizeiler, ein sogenanntes heroic couplet. Das Versmaß war der jambische Fünfheber mit einem meist einsilbigen Versschluss, der auf einer betonten Silbe endete.

Und auch der hohe Ton des petrarkistischen Sonetts wurde der reformatorischen englischen Stimmung angepasst. Die meisten Werke des sonnetteering haben sich am ehesten in Literaturgeschichten erhalten – das herausragende Beispiel des sonnetteering der elisabethanischen Epoche sind die Sonette Shakespeares.

Üblicherweise geht man davon aus, dass Shakespeare sich in Stratford einer Theatertruppe angeschlossen hatte und mit ihr nach London zog – eine Spekulation, die den Vorteil hat, dass sie ihn gleich in der Theaterszene ansiedelt. Aber die erste Buchveröffentlichung, auf der der Name Shakespeare stand, war ein Versepos. Es könnte also auch sein, dass Shakespeare nach London kam, um Lyriker, nicht Theaterdichter, zu werden und dass er das Stückeschreiben nur zum Lebensunterhalt betrieb.

Jedenfalls nutzte er die Theaterpause, die 1593 entstand, als die Theater wegen der Pestgefahr über ein Jahr lang geschlossen blieben, um Lyrik zu schreiben. Und auch nachdem die Theater den Betrieb wieder aufnahmen, schrieb Shakespeare neben Stücken weiterhin Lyrik.

Die Sonette waren Shakespeares letzte nichtdramatische Werke, und sie wurden 1609 veröffentlicht. Die Entstehungszeiten der 154 Sonette können nicht mit Sicherheit festgelegt werden. Man geht davon aus, dass Shakespeare für Freunde und Gönner immer wieder Sonette geschrieben hat – für eine ausgesuchte, private Leserschaft.

Erster Hinweis auf Shakespeares Sonette ist eine Anmerkung in der Sammlung von Alltagsweisheiten, die der Pastor Francis Meres 1598 veröffentlichte. Darin erwähnt er „zuckerige Sonette,“ die Shakespeare unter seinen Freunden zirkulieren ließ. Unter den fünf Gedichten, die ein Jahr später in der Anthologie The passionate Pilgrim, Der verliebte Pilger erschienen, waren zwei dieser zuckerigen Sonette.

Da die Erstausgabe der Sonette ohne Wissen Shakespeares veröffentlicht wurde, entspricht ihre Anordnung höchstwahrscheinlich nicht seiner ursprünglichen Intention. Philologen gehen davon aus, dass Shakespeare zwei Zyklen geplant hatte: einen über die leidenschaftliche Sehnsucht nach einer scheinbar verheirateten Frau mit dunklem Teint (die dark lady) und einen über die Liebe zu einem jungen Mann mit hellem Teint (der fair boy).

Die Sonette handeln von Begehren und Liebe und sind voller erotischer und homoerotischer Anspielungen, deshalb wurde die Erstausgabe eingezogen und verschwand. Erst 1640 wurden die Sonette neu gedruckt und derart überarbeitet, dass die erotischen Anspielungen abgeschwächt wurden und als Adressat der Liebesgedichte durchgängig eine Frau erschien.

Auch so blieben die Sonette für anderthalb Jahrhunderte unbekannt und wurden in den maßgeblichen Shakespeare-Ausgaben des 18. Jahrhunderts übergangen. 1780 erschienen sie als Supplement to the Edition of Shakespeare’s Plays, um dann in der »Gesamtausgabe« von 1793 wiederum ausgelassen zu werden.

Erst die Romantik entdeckte die Sonette neu: als Shakespeares lyrisches Meisterwerk! Der englische Romantiker William Wordsworth (1770-1850) suggerierte in einem eigenen Sonett von 1827 über das Sonette-Schreiben, dass Shakespeare in den Sonetten sein Herz geöffnet habe – „Shakespeare unlocked his heart“. Auch die deutschen Romantiker wollten die Sonette biographistisch begreifen. Immer wieder wurde versucht, die Figuren der Sonette realen Gestalten zuzuordnen, aber diese Zuordnungen waren – wie konnte es anders sein! – nie eindeutig.

Vielleicht ließe sich die Handlung der Sonette, soweit man von einer Handlung sprechen kann, als Autofiktion beschreiben. also als ein kunstvolles Spiel mit biographischen und erfundenen Elementen. Es geht jedenfalls um ein Liebesdreieck: das lyrische Ich wirbt um einen jungen und adligen Freund, der ihm Leid und Freude bereitet und der sich zumindest zeitweise einer adligen Frau, der dark lady, zuwendet, die aber ihrerseits das lyrische Ich begehrt, so dass Geliebte und Rivale nicht immer auseinanderzuhalten sind. Das umso weniger, als immer wieder mit den Geschlechtern gespielt wird: in Sonett 20 wird die Liebesfigur als androgyne Gestalt entworfen:

A woman’s face with Nature’s own hand painted,
Hast thou, the master mistress of my passion ̶

Und im Sonett 144 werden zwei Geliebte beschrieben, ein Mann und eine Frau:

Two loves I have of comfort and despair,
Which like two spirits do suggest me still:
The better angel is a man right fair,
The worser spirit a woman colored ill.

Damit erweitern die Sonette das petrarkistische Modell des heterosexuellen Liebespaars zu einer gemischten Dreierbeziehung, und sie sprengen es auch, indem die umworbene dark lady kein ideales Liebesobjekt, wie Petrarcas Geliebte, sondern eine durchaus irdische Geliebte ist, während umgekehrt der adlige Freund eher ein geistiges Wunschbild ist.

Die Sonette handeln also von Liebe, Begehren und Verrat und immer auch von Vergänglichkeit (vom Vergehen der Liebe, der Schönheit und der Zeit), also vom Tod und zugleich von Ausdauer (vom Bestand der Liebe jenseits der Schönheit, Bestand der Dichtung jenseits der Zeit), also von der Ewigkeit der Kunst.

Es ist die implizite Verbindung dieser poetologischen Dimension und der romantisch-erotischen Spannung, die den Versen eine stilistische Besonderheit verleiht.

Denn diese Sonette sind auf besondere Art nüchtern insofern, als sie frei von Anspielungen auf übersinnliche oder himmlische Kräfte sind und menschliche statt kosmische Gleichnisse aufführen und, wie seinerzeit Friedrich Gundolf schrieb, „gesättigt mit harter irdischer Anschauung“ sind.

Aber diese „harte irdische Anschauung“ der Sonette bedeutet auch, dass sie die seelische und weltliche Erfahrung des lyrischen Ichs reflektieren und eigenwirklich sind, was nicht zuletzt auch stilistisch durch einen Wortschatz wiedergegeben wird, in dem modische Fremdwörter, Fachbegriffe und Wendungen aus verschiedenen Soziolekten miteinander kombiniert werden. Wie keine Verse zuvor nutzen die Sonette den Klang der Sprache, denn als Dramatiker war Shakespeare gewohnt, seine Texte zu hören, und statt Bilder sind es Laute, die er als Gestaltungselemente einsetzte. Lautliche Reprisen strukturieren die Gedichte, und zusammen mit einem anagrammatischen Spiel verleihen sie seiner Sprache ihren besonderen Rhythmus.

Die Lautstruktur und der strenge Reim, vor allem aber auch der breite Wortschatz haben jeden Übersetzer vor die Entscheidung zwischen Formtreue und Treue zum Inhalt gestellt.

Von der ersten Prosa-Übersetzung von Johann Joachim Eschenburg von 1787 an wurde immer versucht, bei großer Nähe zum Inhalt eine klingende Form im Deutschen zu finden. Shakespeares elisabethanisches Englisch, das kein sprachhistorisches Äquivalent im Deutschen kennt, erfordert eine Kenntnis der damaligen Dichtung und der altenglischen Idiomatik. Eine besondere Schwierigkeit sind die vielen einsilbigen Wörter im Englischen, die die Kürze des Ausdrucks begünstigen, außerdem dominieren männliche Endungen, also betonte Silben, so dass Enjambements fließender wirken. Auch werden durch Partizipialkonstruktionen im Englischen die Sätze präziser; dagegen ist das Deutsche stark flektierend, weswegen der deutsche Vers meist weibliche Endungen hat, also unbetonte Endsilben. Das alles macht Übersetzungen schwieriger, als Übersetzungen sowieso sind…

Dass jede Übersetzung ein Versuch ist, wußte schon August Wilhelm Schlegel. „Wenn es nur möglich wäre,“ sinnierte dieser, Shakespeare „treu und zugleich poetisch nachzubilden, Schritt für Schritt dem Buchstaben des Sinnes zu folgen, und doch einen Theil der unzähligen, unbeschreiblichen Schönheiten, die nicht im Buchstaben liegen, die wie ein geistiger Hauch über ihm schweben, zu erhaschen! Es gilt ein Versuch!“

Es gibt etwa 200 Versuche, die Sonette ins Deutsche zu bringen: von Dorothea Tieck und Gottlob Regis über Stefan George und Paul Celan zu Volker Braun und Wolf Biermann und schließlich Simone Katrin Paul und Christa Schuenken. Jede Dichtergeneration und jede Philologengeneration hat sich an Shakespeares Sonetten gerieben!

Nun erscheint in der kleinen Schweizer Edition Signathur mit großzügiger Förderung der Max Geilinger-Stiftung, Zürich, die Übersetzung von Michael Mertes als erweiterte Neuausgabe.

Mertes, der als Karriere-Jurist Staatssekretär in der nordrhein-westfälischen Regierung von Jürgen Rüttgers war, hat nicht nur Essays zu politischer Kultur und zum interreligiösen Dialog veröffentlicht, sondern auch Gedichte von John Donne übersetzt und schon 2006 seine erste Übersetzung der Shakespeare-Sonette vorgelegt. Aber die weitere Beschäftigung mit den Versen, so gesteht er im Vorwort zur revidierten Neuausgabe, hat ihn „dazu veranlasst, jede einzelne Nachdichtung unter der Lupe zu nehmen und, wo nötig, gründlich zu überarbeiten.“ So sei die Neuausgabe „ein Neustart.“

Tatsächlich sind manche Sonett-Übersetzungen revidiert, manchmal gibt es mehrere Übersetzungsversionen, die im Anhang gedruckt sind, so bei Sonett 20:

Das Antlitz einer Frau hast du, gestaltet
von der Natur, Herr-Herrin meiner Liebe;

So die Version, die zuerst erscheint, dann gibt es im Anhang noch zwei weitere Versionen:

Ein Frauen-Antlitz malte die Natur
dir, du Herr-Herrin meiner Leidenschaft;

Und:

Ein Frauengesicht, von der Natur kreiert,
hast, Herr-Herrin meiner innren Glut;

Die ausgewählte erste Version benutzt einen weiblichen Reim, also einen auf einer unbetonten Silbe endenden Vers, wie im Original. Tatsächlich unterscheidet sich dieses Sonett mit seinem weiblichen Reim von allen anderen, die auf einen männlichen Reim ausgehen. Mertes sieht in dieser Abweichung einen intendierten Hinweis auf die im Gedicht gepriesene androgyne Erscheinung der geliebten Figur und will also dem Original gerecht werden, obwohl die anderen Varianten rhythmisch geschickter sind.

Mertes’ Übersetzung von Sonett 66 dagegen wird dem Original und zugleich dem deutschsprachigen Rhythmus gerecht. Schon die Version von 2006 war sehr gut getroffen, nun hat Mertes sie revidiert und bietet im Anhang zwei weitere Varianten, von denen die erste wohl die gelungenste ist:

All dessen müde fleh ich den Tod herbei:
Verdienst zu sehn dem Bettler gleichgestellt
und nacktes Nichts drapiert nach letztem Schrei
und reinste Redlichkeit perfid geprellt
und golden Ehre schändlich falsch platziert
und Mädchentugend mit Gewalt beschmutzt
und rechte Meisterschaft schön abserviert
und Kraft durch lahme Führung abgenutzt
und Kunst von Kontrolleuren stumm gemacht
und Schwachsinn Chef der Qualifikation
und schlichte Wahrheit schlichtweg ausgelacht
und Häftling Gut bei Hauptmann Schlecht in Fron.
 
 
All dessen müde, möchte ich gestorben sein,
ließ ich dann meine Liebe nicht allein.

Mertes schöpft die suggestiven Möglichkeiten der Alltagssprache aus und manchmal, allerdings selten, kann er dem Kalauer nicht widerstehen, so zum Beispiel im Sonett 151, das für seine sexuelle, ja pornographische Anspielung berühmt ist.

No want of conscience hold it that I call
Her love, for whose dear love I rise and fall.

Lobt als gewissenhaft, ihr Kenner alle,
Wie ich für meine Liebste steh und phalle.

Aber diese burschikose Wortspielerei, die Mertes nicht revidiert hat!, mindert nicht den Reiz der Übersetzung, die, wie jede gelungene Übersetzung, ein eigenes literarisches Werk und ein interpretatorisches Angebot ist.

Letzte Änderung: 29.11.2023  |  Erstellt am: 29.11.2023

Aus dem Tinten-Schwarz strahlt meine Liebe | © wikimedia commons

William Shakespeare Aus dem Tinten-Schwarz strahlt meine Liebe

William Shakespeares Sonette
ins Deutsche übertragen von Michael Mertes.
Erweiterte Neuausgabe.
344 S., geb.
ISBN-13: 978-3-906273-70-9
Edition SIGNAThUR, Dozwil 2023.

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