Rostrote Chrysanthemen

Rostrote Chrysanthemen

Ursula Ruppels „Ich lebe und ihr sollt auch leben“
Ursula Ruppel

Die deutsche Gesellschaft unter der Herrschaft der Nationalsozialisten wird gern als wachsende Spannung zwischen den Hitleranhängern, den Opportunisten, den Wegsehenden, den Verstummenden und den Opfern dargestellt. Selten, weil schwer zu gestalten, sind die Unpolitischen, die unschlüssigen, indifferenten Deutschen zu Literatur geworden. Ursula Ruppel ruft mit ihrer fein gezeichneten Familiengeschichte diesen mentalen Schwebezustand auf. Marion Victor hat das Buch gelesen.

Das dunkle Rot der Dahlienblüten, das Blau ihrer Schürze, das satte Grün des Gartens – das ist das erste, was den angehenden jungen Malermeister Johann Ritter bezaubert. So beginnt Ediths Geschichte im ersten Roman der Hörspielautorin Ursula Ruppel. Es ist eine einfühlsame, genau geschilderte Familiengeschichte aus der Mitte der deutschen Gesellschaft am Rand einer deutschen Großstadt, die aufgrund weniger einzelner Details als Frankfurt am Main erkennbar ist. Die Genauigkeit der Schilderung kommt nicht rechthaberisch oder laut daher, sondern behutsam mit liebevoller Ironie, die kleinen Gesten beschreibend, den Alltag mit seinen Hoffnungen und Enttäuschungen wie auch der Scham. Erzählt wird die Geschichte von Edith aus einer Distanz, deren Merkmal die fehlende direkte Rede ist, die aber den leisen Humor, den die Schilderung prägt, überhaupt erst ermöglicht. Ediths Geschichte ist die Geschichte einer jungen Frau, die raus wollte aus dem Dorf, die raus wollte aus den traditionellen Furchen, und eines selbstbewußten, jungen Mannes, der auf seine handwerkliche Meisterschaft stolz ist. Das gemeinsame Leben scheint auch erst einmal zu gelingen. Erst viel später wird sich Johann Ritter fragen, warum es ausgerechnet 1933 gewesen sein musste, dass er Edith kennenlernt. Beide haben sie versucht, sich rauszuhalten, sich nicht für Politik interessiert. Aber dann müssen sie doch feststellen, dass die Zeitumstände weit mehr Macht über ihr Leben ausgeübt haben, als sie es sich je hätten vorstellen können.

Dabei liegt der Reiz von Ursula Ruppels Erzählweise in der Aneinanderreihung von kleinen, man möchte sagen, mikrokosmischen Begebenheiten, die zusammengenommen ein treffendes Bild des Ganzen ergeben. So wird zum Beispiel das sich politisch zuziehende Netz deutlich an alltäglichen Begebenheiten: dem Heil-Hitler der neuen Frau Pfarrer, das leidenschaftlicher ausgesprochen wird als jemals das Grüß Gott. Oder wie es Johann erstaunt, als er aus dem Krieg heimkehrt, dass die Gardinen mit den kleinen blauen Papageien immer noch dieselben sind, obwohl doch die Welt in der Zwischenzeit in Flammen stand.

Der Fluss der Erzählung beschleunigt sich nach dem Krieg und dem allgemeinen politischen Aufschwung, er konkretisiert sich in den Fortbewegungsmitteln, die ihr Sohn Paul benützt, erst ein Fahrrad, dann die Vespa und schließlich ein kleines Auto. Aber in die Details der Fortschrittserzählung baut Ursula Ruppel Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten ein, die erahnen lassen, dass eben doch nicht alles so glatt läuft, dass im Untergrund unausgesprochene Ungewissheiten, Schuldgefühle und Ängste rumoren. So erweist sich der Versuch des zweiten Neuanfangs zugleich auch als der Beginn eines Auseinanderdriftens der einzelnen Mitglieder der Familie.

Ursula Ruppel zeichnet eine Familiengeschichte vom Nationalsozialismus bis zu den Anfängen der Bundesrepublikanischen Gesellschaft, die von den Hypotheken des Nationalsozialismus belastet ist. Das Besondere liegt in dem Erzählfluss, in all den kleinen, unscheinbaren, alltäglichen Details, aus denen sich ihre Geschichte zusammensetzt, die sich zu einem Gesellschaftsbild verdichten, das, grundiert mit Humor, scharfsichtig und liebevoll zugleich ist.

Johann hätte gerne rote, leuchtende Dahlien für das Gesteck auf Ediths Grab gehabt, aber der Jahreszeit entsprechend gibt es nur rostrote Chrysanthemen. Ich lebe und ihr sollt auch leben – soll auf dem Grabstein stehen. Diesen Satz aus dem Johannes Evangelium hat Edith selbst ausgesucht. Und in der Tat: Bei Ursula Ruppel leben sie alle.
 
 
 
 
Ursula Ruppel liest am Sonntag, 30. April 2023, 18 Uhr, zur Finissage der Ausstellung „plissées + assemblages“ von Rieta Römer aus ihrem Roman „Ich lebe und ihr sollt auch leben“ in der bok galerie (Bund Offenbacher Künstler e.V.), Kirchgasse 27-29, 63065 Offenbach am Main. www.bund-offenbacher-kuenstler.de

Letzte Änderung: 27.04.2023  |  Erstellt am: 22.04.2023

Ich lebe und Ihr sollt auch leben

Ursula Ruppel Ich lebe und ihr sollt auch leben

S. 282, geb.
ISBN: 9783756889020
Books on Demand (BOD), Norderstedt 2023

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