Rollende Hungeraugen

Rollende Hungeraugen

Emil Juliš’ Gedichtband „Zone / Zóna“
Emil Juliš

Der in Prag geborene Emil Juliš arbeitete als Konditor, Buchhalter und Stahlwerker. Von 1953 an schrieb er, 1961 vor allem experimentelle Poesie. 1970, nach innerparteilichen ‚Säuberungen’ wurde im Dezember neben anderen Medienverbänden der tschechoslowakische Schriftstellerverband aufgelöst. Emil Juliš erhielt Publikationsverbot. 15 Jahre nach seinem Tod erscheint eine Auswahl seiner Gedichte auf Deutsch. Volker Strebel stellt sie vor.

Emill Juliš

Ludvík Kundera, einer der bedeutendsten Schriftsteller der tschechischen Moderne, hatte einst seinen Freund und Dichterkollegen Emil Juliš (1920-2006) mit einer paradox anmutenden Einschätzung charakterisiert: „Der Dichter Emil Juliš hat einen großen Vorzug, der auch ein Nachteil ist: er gleicht niemandem”.

In seiner Heimat konnte Emil Juliš zwischen 1970 und 1988 keine Gedichtbände veröffentlichen, da auch er, wie die meisten der besten Schriftsteller der ČSSR in jener Zeit zu den verbotenen Autoren gehörte. Juliš gab seine Texte im Samisdat, im Selbstverlag, weiter und hatte sich zudem als bildender Künstler einen Namen gemacht. Auch hier war er ungewöhnliche Wege gegangen. Neben Bildern und Collagen hatte Emil Juliš auch Steine bemalt.

Seinen Lebensunterhalt hatte Juliš in der Ausübung verschiedener Berufe bestritten. Als langjähriger Planer in der Wasserwirtschaft war Emil Juliš unmittelbarer Augenzeuge bei der Zerstörung der nordböhmischen Stadt Most/Brüx, die zu großen Teilen dem Braunkohleabbau zum Opfer gefallen war.

Ganze Dörfer und kleinere Städte waren auf verschiedene Weise von der unkontrollierten Zerstörung der Landschaft betroffen. Oft genug hatte bereits die Vertreibung der angestammten deutschsprachigen Bevölkerung in den mittleren 1940er Jahren eine markante kulturelle Verödung hinterlassen. Emil Juliš stößt in diesem Konglomerat zivilisatorischer Verwahrlosung auf Bilder der Verwüstung und Zerstörung.

Zunächst sind es „übelberüchtigte Raben“, die sich ins Bild schieben, „ROLLENDE HUNGERAUGEN / sättigen sich und spielend werfen sie Blicke / aus eingestürztem Gewölbe, / aus verzogenen Rahmen mit blinden Gemälden, / aus geborstenen Truhen und Feldmonstranzen“.

In Gedichten wie „VOR UNS LODERTE DIE ZUKUNFT DER ZONE“ weitet sich der Blick und Emil Juliš entfaltet real existierende Visionen menschlicher Verlorenheit in einer devastierten Gegenwart: „(…) eine Uhr lange stehengeblieben, das Zifferblatt staubig, starrt / auf den halbverfallenen Bahnsteig, rostige Schienen. / Wir bleiben im zugewiesenen Wohnraum hocken / – obschon unsere wachsenden Ansprüche angeblich befriedigt werden – / und bemühen uns zu erleben, / was man Leben nennt“. Kaum mehr unterdrückt kommt hier eine grimmige Ironie zum Vorschein, die auf den schreienden Widerspruch zwischen einem pulverisierten Alltag und den ideologischen Schablonen verordneter Zufriedenheit reagiert. Im „entwickelten Sozialismus“ hat sich die Wirklichkeit längst in einen schäbigen Warteraum verwandelt, war die konkrete Utopie einer umfassenden Dystopie gewichen.

Dabei erstreckt sich der Rahmen in den Versen von Emil Juliš von existentieller Empfindsamkeit bis zur Verlorenheit in einem haltlosen Kosmos. Im Gedicht „WIR HASTEN, KRÄCHZEND DIE FLOSSEN ABSTOSSEND“ wird der Leser unmittelbar konfrontiert: „Frage: Bis zu welchen Höhen (Tiefen) reicht Realität? / Damit wir sie dann nicht Transzendenz nennen“, und im weiteren Fortgang beginnen sich die Blicke zu weiten: „Dunkel schleicht sich heran, im entblößten Dachgebälk / erscheint der traurige Stern – der tödlich getroffene Stier / mit Schatten unter den Lidern“.

Souverän beherrscht Emil Juliš das Mittel poetischer Gestaltung, um mit der Vertauschung belebter und unbelebter Gegenstände neue Wahrnehmungsmöglichkeiten zu erschließen. Die Eingebundenheit des Menschen in eine verlorene Wirklichkeit verleiht einer geschundenen Generation eigene Ausdrucksformen. In „Zone / Zóna“ kann man den Dialog des Menschen mit einer Landschaft hören, welcher, wenngleich mit erstickender Stimme, in expressiver Kraft zu Wort kommt.

In seinem Nachwort „Achtung! Sie betreten die Zone!“ gibt Eduard Schreiber Auskünfte über biographische Hintergründe des Dichters und eindrucksvolle Informationen über die ökologische Verwüstung ganzer Landstriche in Nordböhmen. So hatte etwa 1975 eine aufwendige Aktion über die Grenzen hinweg für Aufmerksamkeit gesorgt, als die Dekanatskirche von Most/Brüx um 841 Meter von ihrem angestammten Platz entfernt worden war. In bitterer Nüchternheit notiert Schreiber: „Wie ein Feigenblatt der Scham steht die verschobene Kirche jetzt am Rand der neuen Stadt, wenige Kilometer südöstlich“.

Eduard Schreiber, der mit Ludvík Kundera wie auch mit Emil Juliš befreundet war, hat sich im Laufe der vergangenen Jahre um Übertragungen wichtiger Dichterstimmen aus dem Tschechischen wie etwa Daniela Hodrová, Jiří Kolář, Ludvík Kundera, Jiří Mahen oder Milada Součková in außerordentlicher Weise verdient gemacht.

Letzte Änderung: 19.09.2022  |  Erstellt am: 19.09.2022

Zone / Zóna

Emil Juliš Zone / Zóna

Ausgewählt und aus dem Tschechischen übersetzt von Eduard Schreiber
160 S., brosch.
ISBN 978-3-96587-014-7
Arco Verlag, Wuppertal 2021

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