Poetischer Transhumanismus

Poetischer Transhumanismus

Olga Ravns Roman „Die Angestellten“
 | © Bernd Leukert

Es geht um mehr als eine moderne Version von Goethes „Zauberlehrling“, wo die Übererfüllung der erteilten Aufgabe bedrohlich wirkt. In Olga Ravns Roman „Die Angestellten“ ähneln die Roboter so sehr den Menschen, dass die Menschen an ihrem Menschsein zweifeln. Es geht um die Arbeit im 22. Jahrhundert. Und die sollte uns interessieren, bevor sie Realität ist. Rolf Schönlau stellt das Buch vor.

Hieße es im Untertitel nicht »Roman« und zeigte das Cover nicht diese psychedelischen Farbschlieren, könnte man das schmale Buch für eine in die Zukunft weisende Fortschreibung von Siegried Kracauers empirisch-soziologischer Studie Die Angestellten von 1930 halten. Kracauers Buch wurde von der Zunft als barfußsoziologisch diffamiert, das von Olga Ravn werden die Soziologen nicht als Übergriff auf ihr Terrain werten. Handelt es sich doch um einen Roman in Gestalt einer soziologischen Untersuchung samt Einleitung, in der die Fragestellung formuliert wird, und Schlußresümee, das die gewonnenen Ergebnisse einordnet, bewertet und ihre Verwendungsmöglichkeiten aufzeigt.

Der Hauptteil besteht aus unterschiedlich langen Zeugenaussagen über die Konflikte auf dem Sechstausender-Schiff, einem Raumschiff, dessen Besatzung von der privaten Betreiberorganisation terminiert wurde, um die Funde von dem Lichtjahre von der Erde entfernten Planeten Neuentdeckung zu sichern. Dabei handelt es sich um 19 merkwürdige Objekte, die auf alle Besatzungsmitglieder, seien es Menschen oder Humanoide, einen Einfluß ausüben, der von inniger Zuneigung bis zu tiefem Abscheu reicht.

Die insgesamt 99 Zeugenaussagen geben sich anonymisiert und stellenweise zensiert. Die numerische Reihenfolge zwischen 004 als erster und 179 als letzter Aussage ist nicht nachvollziehbar, wenn auch nicht völlig beliebig, da sie keine größeren Sprünge aufweist. Inhaltlich sind die Zeugenaussagen stringent als Spannungsbogen montiert, denn der sich zuspitzende Konflikt zwischen dem menschlichen und nichtmenschlichen Teil der Besatzung, in dessen Verlauf ein Humanoid einen Menschen tötet, wird als Handlung erkennbar.

Die Grenzen zwischen Humanen und Humanoiden, Geborenen und Erschaffenen, sind fließend, denn zum einen verfügen Menschen auch über technische Erweiterungen, zum anderen wurden die Humanoiden schon beim Ausbrüten im Labor auf Empathie und soziale Bindungsfähigkeit hin trainiert. So gibt einer zu Protokoll: „Ich brenne, wie die Sonne brennt, ich bin davon überzeugt, dass ich real bin. Dass man mich vielleicht erschaffen hat, aber dass ich jetzt im Begriff bin, mich selbst zu erschaffen.“ Von einem verliebten Menschen stammt dagegen die folgende Zeugenaussage: „Da gibt es Jeppe, den vierten Co-Piloten, der so süß anzusehen ist, ihn mag ich. Er ist einer der humanoiden Angestellten, das ist korrekt. Aber er duftet wie ein Mensch, und er lächelt wie einer.“ Nicht einmal metaphysische Anwandlungen sind den Humanoiden fremd: „Im Programm befindet sich unter meinem Interface noch ein Interface, das auch ich ist, und unter diesem noch eines, und so geht es in einer selbst programmierenden Zeichenkette weiter.“

Angesichts des ganz Anderen der seltsamen Objekte mit einem „Puls, wenn auch auf einem Level von Kontinentalplatten“, verschwinden die Unterschiede zwischen denen, die sterben müssen, und denen, die jederzeit überall wieder hochgeladen werden können. Immer wenn das Sechstausender-Schiff über das Tal auf Neuentdeckung fliegt, wo die Objekte gefunden wurden, versammelt sich die komplette Besatzung im Panoramaraum und schaut unterschiedslos glücklich auf den Fundort hinunter: „Es ist unsere Erfahrung, dass die Dinge aus dem Tal hier bei uns sein wollen. Dass sie unser sind und dass wir gleichzeitig ihnen gehören. Dass sie wir sind“, sagt eine Humanoide. Die Trennung zwischen Subjekt und Objekt erscheint genauso aufgehoben, wie die zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem.

Alle befragten Besatzungsmitglieder, egal welche Funktion sie auf dem Raumschiff innehaben, ob Reinigungskraft oder Kapitän, Programmiererin oder Leichenbestatter, haben denselben zögernden, suchenden Sprachduktus, der sie beim Verfertigen ihrer Gedanken zeigt. Die rationale, formelhafte Unternehmensberater-Sprache, in der die Zwecke und Ziele der Studie beschrieben werden, steht im krassen Gegensatz dazu und fungiert innerhalb der Romankonstruktion als Setting für die Poetisierung von menschlichen und humanoiden Bewusstseinszuständen.

Auch wenn in dem beschriebenen Szenario alles vom Programm durchorganisiert ist und nur noch der Schlaf in die Verantwortung des Einzelnen fällt, ist die „Kritik an einem Leben, das einzig von der Logik der Produktivität bestimmt wird“, wie es auf der Buchrückseite heißt, nicht das Hauptanliegen des Romans. Es geht vielmehr um die Frage, wie eine Zukunft aussehen könnte, die nicht von menschlichen Subjekten bestimmt wird. Für dieses Gedankenexperiment ist die Science-Fiction das angemessene Genre, ein Raumschiff mit extraterrestrischen Objekten an Bord der passende Ort.

Die Entstehung des Romans geht auf die Ausstellung Consumed Future spewed up as present zurück, die Lea Gulditte Hestelund 2018 in Kopenhagen zeigte. Link zur Website mit den Objekten. Die Künstlerin bat Olga Ravn um einen kurzen Text für den Ausstellungskatalog, der sich zu einem Roman auswuchs und 2018 in Dänemark als De ansatte veröffentlicht wurde. Die englische Übersetzung stand 2021 auf der Shortlist des International Booker Prize, mit der souveränen Übersetzung von Alexander Sitzmann für den März Verlag liegt der Roman nun auch auf Deutsch vor.

Das Buch ist bereits Bestandteil des Romans, denn im Resümee wird als Geschäftsmodell vorgeschlagen, die empirische Studie als Unterrichtsmaterial zu verwenden. „Paket 1: 10 Seiten (historischer Überblick). Paket 2: 135 Seiten (historischer Überblick samt Anzeichen für unerwünschte Entwicklungen). Paket 3: Vollständiger Einblick für Angestellte auf Leitungsebene.“ Als Käufer von Paket 2 gehören die Leserinnen und Leser von Olga Ravns Die Angestellten zum Projekt: „Man kann nicht ausschließen, dass allein die Gewissheit über die Existenz der Objekte womöglich gewisse Auswirkungen auf diejenigen hat, die über sie lesen.“

https://artviewer.org/lea-guldditte-hestelund-at-overgaden/

Letzte Änderung: 08.01.2023  |  Erstellt am: 08.01.2023

Die Angestellten | © Bernd Leukert

Olga Ravn Die Angestellten

Aus dem Dänischen von Alexander Sitzmann
143 S., geb.
ISBN-13: 9783755000099
März Verlag. Berlin 2022

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