Opfer und Täter

Opfer und Täter

Hans-Hermann Klares Biographie von Philipp Auerbach
Philipp Auerbach am 27. Februar 1948 während seiner Zeugenaussage

Schon im Februar 1933 kam Philipp Auerbach, der in seinen Reden für die Demokratie und gegen die Nazis sprach, in Untersuchungshaft. Im folgenden Jahr floh er mit seiner Familie nach Belgien, aber damit war sein Leidensweg nicht zuende. Auch nach dem Ende der Schreckensherrschaft wurde er von Politikern und Juristen bekämpft. In einer neuen Biographie über Philipp Auerbach zeichnet der Stern-Redakteur Hans-Hermann Klare nicht nur den Werdegang seiner Figur, sondern wirft auch einen verstörenden Blick auf die junge bundesrepublikanische Gesellschaft und ihre Justiz. Stefana Sabin hat das Buch gelesen.

Als bayerischer Dreyfus-Skandal ist der Prozess, der 1952 in München gegen Philipp Auerbach stattfand, in die Rechtsgeschichte eingegangen. Denn auf der Basis unklarer Zeugenaussagen wurde der Jude Auerbach ebenso unklarer Taten beschuldigt, angeklagt und verurteilt. Dass Auerbach Holocaust-Überlebender war und ein exponiertes Mitglied der wiederentstehenden jüdischen Gemeinde und dass Staatsanwälte und Richter ehemalige Nazis waren, machte in diesem Prozess, nur wenige Jahre nach den Nürnberger Prozessen, deutlich, dass der Antisemitismus das Nazi-Regime und den Krieg überstanden und dass die sogenannte Entnazifizierung nichts bewirkt hatte.

Die Geschichte des Prozesses, die Berichterstattung darüber und die Stimmung im Land sind schon mehrmals beschrieben worden. Auerbachs Leben wurde dabei eher skizzenhaft gezeichnet, z.B. von Hannes Ludyga 2006. Nun hat der Journalist und Stern-Redakteur Hans-Hermann Klare, geboren 1956, eine gründlich recherchierte Biographie geschrieben, in der er von Auerbachs bürgerlicher Kindheit in Hamburg, wo er 1906 geboren wurde, erzählt; von seinem frühen Engagement gegen die Nazis und von den Gefahren, die damit einhergingen; von seiner Flucht nach Belgien und dem Leben in der Fremde; von seiner Gefangenschaft und Deportation und vom Neubeginn im Nachkriegsdeutschland.

Dabei entsteht das Porträt einer meinungsstarken, sozial engagierten und energischen Persönlichkeit, die noch in den schwierigsten Situationen Würde behielt. (In Auschwitz versuchte Auerbach, der von Beruf Chemiker war, ein Mittel gegen das Ungeziefer in den Baracken zu entwickeln.) Klare verklärt keineswegs seine Figur, sondern zeigt einen Zerrissenen und Getriebenen, der die KZ-Erfahrung durch übertriebenes Engagement für die Opfer aufzuarbeiten versucht hatte und dennoch nie überwinden konnte.

Nachdem er Auschwitz, Groß-Rosen und Buchenwald überlebt hatte und von den amerikanischen Truppen befreit wurde, ließ Auerbach sich in Düsseldorf nieder, wo er sich für die Rehabilitation der Opfer des Naziregimes engagierte und mit Unterstützung der britischen Militärregierung eine Stelle in der Abteilung „Fürsorge für politisch, religiös und rassisch Verfolgte“ erhielt. Dabei wurde er auch an Entnazifizierungsermittlungen beteiligt, und da er den verwaltungstechnischen Weg oft zu holperig fand, stellte er von sich aus Nachforschungen an, auch gegen den Wunsch der deutschen und der britischen Behörden – er wurde zum „unerwünschten Nazi-Jäger“ (Christoph Sydow im SPIEGEL) und wurde entlassen.

Aber Auerbach, so erzählt Klare, hatte noch viel vor. In Dezember 1945 gründete er den ersten Landesverband jüdischer Gemeinden, wurde zu dessen erstem Vorsitzenden und fing an, sich für Entschädigungen für ehemalige Nazi-Opfer einzusetzen. Aber auch dabei hatte er eine eigene, nicht unbedingt konsensfähige Vorstellung: Er wollte Entschädigungen nicht vom deutschen Staat erwirken, sondern von den Tätern und ihren Erben aus deren Vermögen!

Auch in seiner Funktion als bayerischer „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ in München setzte Auerbach sich für Wiedergutmachung für Verfolgte des NS-Regimes ein und kümmerte sich um Wiedereingliederung, Rückerstattungen und Entschädigungen – gemäß der amtlichen Bezeichnung nicht nur für Juden, sondern auch für Sinti und Roma. Und er verlangte, dass auch Frauen, die wegen Beziehungen zu Kriegsgefangenen in Konzentrationslager gesperrt worden waren, als Verfolgte zu gelten hätten. In seinem Amt soll er angeeckt sein: bei den Mitarbeitern, weil er Vorschriften missachtet, ja verachtet, habe, und bei den Vorgesetzten, die erst auf Druck der amerikanischen Besatzungsbehörden tätig wurden. Auch deshalb soll Auerbach seine Kompetenzen ständig überschritten und eigenwillig agiert haben.

Aber es war vor allem Auerbachs ständig erhobener moralischer Zeigefinger, seine anhaltende Kritik an milden Entnazifizierungsurteilen und an antisemitischen Äußerungen, die die deutsche Öffentlichkeit verärgerte und die bayerische Politik gegen ihn aufbrachte. Und nachdem Auerbach mit unermüdlichem Engagement – und mit manchmal wohl zweifelhaften Nachweisen! – die Auswanderung Hunderttausender der sogenannten displaced persons erreicht hatte und sich deren Lager weitgehend geleert hatten, war er für die amerikanischen Militärbehörden in Bayern entbehrlich geworden. Sogar die jüdischen Verbände wandten sich schließlich gegen ihn, weil sie in ihm einen Gegner der von ihnen angestrebten pauschalen Wiedergutmachungszahlungen sahen.

In einer konzertierten Aktion der bayerischen Politik und der Medien wurde Philipp Auerbach der Veruntreuung beschuldigt, angeklagt und verurteilt. Staatsanwalt und Richter waren ehemalige Nazis, zudem mit dem bayerischen Justizminister befreundet, der Auerbachs exponiertester Gegner war, aber die Befangenheitsanträge der Verteidigung wurden zurückgewiesen. Klare beschreibt eine medial geschürte Kampagne gegen ein Nazi-Opfer, Holocaust-Überlebenden und dazu Repräsentanten des deutschen Judentums und legt die antisemitischen Ressentiment der deutschen Nachkriegsgesellschaft offen.

Zwar entlasteten die Zeugenaussagen Auerbach weitgehend, mehrere Belastungszeugen widerriefen ihre Aussagen, und dennoch wurde Auerbach zu einer verhältnismäßig hohen Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren und einer Geldstrafe verurteilt. Noch in der Nacht nach der Urteilsverkündung brachte sich Auerbach um. In seiner letzten Notiz schrieb er: „Ich habe bis zuletzt gekämpft, es war umsonst.“

Auerbachs Begräbnis wurde zu einem der allerersten öffentlichen Auftritte der Juden im Nachkriegsdeutschland. Tausende begleiteten den Sarg auf dem jüdischen Friedhof in München; in Trauerreden am Rande der Beerdigung wurde auf die Nazi-Vergangenheit des Richters hingewiesen und der bayerische Justizminister einer Intrige gegen einen unbequemen Nazi-Jäger beschuldigt. Es gab Ausschreitungen, bei denen die bundesdeutsche Polizei Schlagstöcke gegen jüdische Demonstranten einsetzte.

Klare zeigt, dass, nachdem der Hauptbelastungszeuge gegen Auerbach wegen Meineids seinerseits angeklagt und verurteilt wurde, die öffentliche – und internationale! – Meinung die Politik schließlich zum Handeln veranlasste. So wurde im Bayerischen Landtag ein Untersuchungsausschuss eingesetzt, der Auerbach rehabilitierte und den bayerischen Justizminister zum Rücktritt zwang.
Auerbachs Geschichte, die Klare sachlich und dennoch voller Anteilnahme erzählt, ist deshalb so verstörend, weil sie vorführt, wie in der gerade entstandenen Bundesrepublik ein Opfer wieder zum Opfer und Täter wieder zu Tätern wurden. Klares Auerbach-Biographie ist neben Ursula Krechels Roman „Landgericht“ von 2012, dem Spielfilm „Der Staat gegen Fritz Bauer“ von 2015 und der ARD-Miniserie „Bonn“ von 2022 Teil der Aufarbeitung jener deutschen zweiten Schuld, wie Ralph Giordano das allzu bereitwillige Abfinden mit den Tätern genannt hatte.

Letzte Änderung: 25.01.2023  |  Erstellt am: 24.01.2023

Auerbach

Hans-Hermann Klare Auerbach

Eine jüdisch-deutsche Tragödie oder
Wie der Antisemitismus den Krieg überlebte
471 S., geb.
ISBN-13: 9783351038960
Aufbau Verlage, Berlin 2022

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Kommentare

Joachim Petrick schreibt
Stefana Sabins Formulierung finde ich verstörend "Klare verklärt keineswegs seine Figur, - nämlich Philipp Auerbach- sondern zeigt einen Zerrissenen und Getriebenen, der die KZ-Erfahrung durch übertriebenes Engagement für die Opfer aufzuarbeiten versucht hatte und dennoch nie überwinden konnte." Was kann in jenen Nachkriegsjahren in Westdeutschland an Einsatz für Millionen "Displaced Persons" aus aller Welt im besetzt geteilten Deutschland, Deportations-, Euthanasie-, Holocaust-, Zwangsarbeit überlebenden Opfern übertrieben sein? Und was kann per Definitionem Weg zur Überwindung von KZ Erfahrungen sein? Dass sich Philipp Auerbach für Entschädigung nicht durch Staat einsetzte, sog. Lastenausgleichsgesetz gab es erst 1953, vorzugsweise aber nur für Ausgebombte, Heimkehrer, Vertriebene, geschädigte Unternehmen, Grund-, Boden-, Immobilieneigentümer, Beamte mit Karriereknick aufgrund Entnazifizierungsverfahrens Urteilen westlicher Siegermächte, sondern Kirchen, Kommunen, Gebietskörperschaften, Unternehmen als Begünstigte Entschädigung abverlangt aufgrund Vorenthaltung von Lohn, Entzug von Arbeitgeber Sozialbeiträgen in die Rentenkassen, Rentenanwartschaften zu verhindern für von SS Leiharbeiter GmbHs & Co KGs überlassenen Zwangsarbeitern*nnen, war schließlich nach Zwangsarbeiterklagen durch US Anwaltskanzleien ab Mitte 90ziger Jahre verhandelter Gegenstand, der endlich durch Engagement kriegsversehrten Otto Graf Lambsdorff (1926-2009) gegen massiven Widerstand, u. a. durch damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog (1934-2017), trotz oder im wirklichen Sinn seiner "Ruck Rede" im Amt 1997, selbst noch in seinen Erinnerungen "Jahre der Politik" 2007, S.316-327 Unwillen anklingen lässt, Autoren Martin Walser *1927 in seiner unseligen Sonntag Dankesrede 11.Oktober 1998 in Frankfurter Paulskirche zum Erhalt Friedenspreises Deutschen Buchhandels, bei der viel Prominenz aus Gesellschaft, Kultur, Medien, Politik, Wirtschaft, voran Roman Herzog anwesend waren, zum Rede Schluss, außer Zentralratsvorsitzender Ignatz Bubis (1927-1999), sich auf Phoenix TV Kanal sichtbar zu Beifallskörper erhoben lange Walsers Rede frenetisch beklatschten, bis es dann wenigstens zu symbolischen Entschädigungen aus endlich doch aufgelegtem Entschädigungsfonds Deutscher Gesellschaft und Wirtschaft führte, in den allerdings besonders begünstigte Unternehmen wie Erben Flick Konzerns Einzahlungen strikt verweigerten, sich stattdessen als Kunst Mäzen feiern ließen. Wieweit christliche Kirchen als Zwangsarbeit Arbeitgeber ab 1933, besonders seit Kriegsbeginn 1939--1945 Entschädigungen an überlebende Opfer zahlten, bei heute staatlichen Zuschüssen von inzwischen an 580 Millionen €/anno auf Basis historisch umstrittener Rechtstitel, bleibt bis heute im Dunklen

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