Mit dem Tosca-Zug losfahren

Mit dem Tosca-Zug losfahren

Barrie Koskys „Und Vorhang auf, hallo!“
Barrie Kosky | © Screenshot

Als Vierzehnjähriger schon stand Barry Kosky in Melbourne in Brechts „Arturo Ui“ auf der Bühne. Früh auch übernahm er neben zahllosen Regiearbeiten Leitungsaufgaben an Theatern und Opernhäusern, war sieben Jahre lang künstlerischer Leiter der Gilgul Theatre Company in seiner Geburtsstadt Melbourne, fünf Jahre Kodirektor des Wiener Schauspielhauses und zehn Jahre Intendant der Komischen Oper Berlin. In seinem Buch „Und Vorhang auf, hallo!“ erzählt er aus seiner Lebens- und Operngeschichte. Walter H. Krämer hat es gelesen.

Schon der Umschlag nimmt einen gefangen: Barrie Kosky schaut uns aus dem Zuschauerraum eines Theaters direkt in die Augen, so als wolle er sagen: „Hey Leute, ich habe etwas zu erzählen. Wenn Ihr Lust habt, etwas über mein Leben, über die Oper allgemein, über meine Inszenierungen, über meine Familie zu erfahren, dann seid Ihr hier richtig. Dann ist es ein Buch, wie für Euch geschrieben!“

Barrie Kosky, geb. 1967 in Melbourne, ist einer der gefragtesten Opernregisseure der Welt. Von 2012 bis 2022 war er Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin. Am Ende seiner ersten Spielzeit an der Komischen Oper Berlin wurde das Haus in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt zum Opernhaus des Jahres gewählt, 2016 wurde er in derselben Umfrage zum Regisseur des Jahres ernannt.

In dem Buch UND VORHANG AUF, HALLO! Ein Leben mit Salome, Mariza, Miss Piggy & Co., das er zusammen mit seinem langjährigen Mitarbeiter Rainer Simon verfasst hat, erzählt Barrie Kosky davon, welche Bedeutung für ihn seine ungarisch-jüdische Großmutter hatte und wie sie ihn an die Oper heranführte. (Kapitel 1: Mariza Down Under) Außerdem erfährt man als Leser*in, warum Barrie Kosky die Unterscheidung zwischen E- und U-Kultur ablehnt, was in die Dreigroschenoper meist falsch hineingelesen wird und warum er sich für die Muppet-Show so begeistern kann.

Was verbindet das Musiktheater, Koskys Kindheit und Jugend in Australien mit seiner Karriere in den europäischen Kulturmetropolen, mag man sich fragen. Mit sieben Figuren aus der Welt des Musiktheaters (Mariza Down Under – Tatjana – Hans Sachs – Miss Piggy – Salome – Tosca – Mackie Messer) tauchen wir ein in die Biografie des weltberühmten Opernregisseurs, in seine Gedankenwelt, Erfahrungen und Fantasien, in seine Beziehung zu den verschiedenen Opern, ihren Urhebern und Protagonist*innen und lernen diese wiederum aus Koskys besonderer Perspektive ganz neu kennen.

Das Buch ist unterhaltsam, witzig, ernst, amüsant, erhellend und nicht nur ein Buch für Kenner. Es ist weder eine Biografie im eigentlichen Sinne, noch ein Opernführer und enthält doch Elemente von beiden. Vielleicht trifft es die Formulierung, die Barrie Kosky selbst in einem Interview wählte, am besten: es ist eine Serie von Meditationen über bestimmte – ihm wichtige – Themen.

Vielleicht an einigen Stellen etwas zu langatmig – aber trotzdem nie langweilig. Barrie Kosky bespricht in diesem Buch einige seiner Inszenierungen, wir erfahren etwas über den Menschen Barrie Kosky und es gibt gute Einblicke in die Arbeitsweise von Barrie Kosky als Regisseur – nicht nur an der Komischen Oper Berlin.

Es war in Melbourne der 1970er Jahre. Ursprünglich stammte seine Großmutter aus Budapest und zog dorthin um seinen russischen Großvater zu heiraten. Eine Loge in der Budapester Staatsoper war selbstverständlich und als Mädchen fuhr sie einmal im Monat mit ihrem Vater nach Wien in die Oper. Sie sammelte Autogrammbücher und es gibt Briefe von Puccini und Bartók an sie. In Kontakt zur Oper kam Barrie Kosky durch seine Großmutter. Die familiäre Leidenschaft für die Oper wollte sie auch ihrem Enkelsohn Barrie vermitteln. Sie öffnete ihm schon als kleinem Jungen die Welt der Oper. Bis zu seinem 18. Geburtstag hatte Barrie Kosky bereits mehr als 200 Opern gehört und gesehen. Immer gut vorbereitet durch das Hören von Schallplattenaufnahmen und dem Studium der Libretti. Darauf legte seine Großmutter großen Wert. Ebenso auf die Gespräche danach. Eine gute Schule also für den späteren Opernregisseur. „Für meine Großmutter und ihre Familie war der wöchentliche Opernbesuch wie der Wocheneinkauf bei Edeka oder Rewe. Raus aus der Wohnung, einmal die Straße zu Fuß runter, dann die Opernvorstellung und wieder zurück.“ Zu Beginn seiner Intendanz an der Komischen Oper geraten auch Operetten in sein Blickfeld. Besonders als er sich mit der Geschichte des Metropol-Theaters beschäftigt und allmählich begreift, dass das Metropol-Theater in den 1920er und 1930er Jahren das führende deutschsprachige Operettenhaus Europas war. Barrie Kosky holt die Operetten aus der Versenkung und gibt ihnen das wieder, was die Nazis und die Nachkriegsjahre zerstört hatten: spritzige Orchestrierungen und Darsteller*innen, die nicht nur schön singen, „sondern vor allem mit Charme, Witz, Esprit und Erotik ein heutiges Publikum verführen und zum Lachen bringen können.“

Zum Schluss des ersten Kapitels (Mariza Down Under) schreibt er: „Meine Großmutter zeigte mir, wie bunt und vielfältig der Garten des Musiktheaters ist und dass in ihm so unterschiedliche Pflanzen wie Mariza und Blaubart wachsen, blühen und gedeihen können. Sie führte mich herum, zeigte mir ihre Gewächse und bat mich, sie zu studieren. Sie fütterte mich, ja gab mir Nahrung, aus der ich schließlich zu dem wurde, was ich heute bin.“

Immer wieder verbinden sich biografische Elemente aus dem Leben von Barrie Kosky mit den Geschichten einzelner Opern. So auch im 2. Kapitel (Tatjana). Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die Oper Eugen Onegin von Tschaikowsky. Hier blickt er besonders auf die Homosexualität des Komponisten, die Queerness der Musik und die Figur der Tatjana. „Tatjana ist einzigartig in der Opernliteratur. (…). Sie ist nicht krank, nicht verrückt, muss nicht sterben, sie ist keine grausame Frau, kein Vamp, kein Opfer, sie verkörpert weder ein erotisches noch ein moralisches Idealbild, sie ist weder Dienerin noch Herrin. Sie ist eine kluge junge Frau. Sie trifft ihre Entscheidungen selbst und handelt dementsprechend.“ Barrie Kosky breitet hier eine ganz neue und andere Sicht auf diese Oper aus – sowohl was Inhalt als auch die Deutung der Figuren angeht.

Im dritten Kapitel (Hans Sachs) geht es Barrie Kosky um eine Auseinandersetzung mit Richard Wagner im Zusammenhang mit seiner Inszenierung Die Meistersinger in Bayreuth. Für ihn besteht kein Zweifel an Richard Wagners Antisemitismus und das machte es ihm als jüdischen Regisseur besonders schwer, sich auf diesen Komponisten und sein Werk einzulassen. Doch er findet Spuren, die bis in die private Beziehung zwischen Richard und seiner Frau Cosima hineinreichen, die ihm einen Zugang zu den Meistersingern ermöglicht und dieses Werk erfolgreich auf die Bühne zu bringen. Spannend zu lesen und ein anderer Blick auf den Komponisten und das Werk.

Im vierten Kapitel (Miss Piggy) geht es um die Muppet Show und deren Einfluss auf seine Arbeit, Kafka und einen ersten Besuch eines Musicals: „Mit zehn Jahren nahmen mich meine Eltern mit zu einer Vorstellung von A Chorus Line (…) in dem die Produktion einer Bühnenshow im Hier und Jetzt zum Thema gemacht wird.“ Über das Musical findet Kosky Zugang zur Popmusik und über die Muppet Show wird sein Interesse am Varieté geweckt. Und er formuliert (s)ein Credo: „Musiktheater kann auch Rock- und Jazzmusik beinhalten, Musiktheater kann zeitgenössisch sein, Musiktheater kann auch sich selbst zum Thema haben, es kann die Vierte Wand durchbrochen werden.“

In Kapitel fünf geht es um die Oper Salome. Barrie Kosky beschreibt hier den langen Weg von einem ersten Hören der Oper – ein Jahr nach seiner Bar Mitzwa schenkt ihm seine Großmutter eine Schallplattenaufnahme von Salome mit Birgit Nilsson in der Titelrolle – bis hin zu seiner Frankfurter Inszenierung der Oper im Jahre 2020. Biografische Befindlichkeiten, künstlerische Einflüsse und Inspirationsquellen werden sichtbar und immer wieder auch das Ringen um eine adäquate Form.

Tosca ist die Oper, um die es wesentlich in Kapitel sechs geht. Seit seinem 5. Lebensjahr erhält Barrie Kosky Klavierunterricht und entdeckt bald, dass es für jede Oper auch einen Klavierauszug. gibt. Durch Singen und Spielen erschließt er sich neue Zugänge und erarbeitet sich die musikdramatische Architektur eines Stückes. Es hilft ihm, das Zusammenspiel von Musik und Text besser zu verstehen. Er stürzt sich in die Arbeit, lebt mit dieser Oper. Wenn seine Mutter ihn zum Essen rief antwortete er: Can’t eat, I am torturing Cavaradossi!“ oder „No time, I’m killing Scarpa!“
Barrie Kosky thematisiert in diesem Kapitel auch die Widersprüchlichkeit zwischen der Musik und dem Text. Aufgrund der wunderbaren Musik gerät oft in den Hintergrund, dass man es bei Tosca mit einer grausamen, pessimistischen und sadistischen Oper zu tun hat. „Und doch ist es richtig erholsam, sich auch mal auf die Genialität eines kompletten Stückes zu verlassen, einfach auf den Tosca-Zug aufspringen und mit ihm losfahren … Mit dabei das Gepäck aus meiner Jugend, die Erinnerungen an die Aufnahmen mit Price und Callas, an mein Geklimpere auf dem Klavier und die unerträglichen, gekreischten hohen Cs im Wohnzimmer meiner Eltern.“

Im letzten Kapitel (Mackie Messer) geht es um den Komponisten Kurt Weill und Barrie Koskys Inszenierung der Dreigroschenoper am Berliner Ensemble während der Corona Pandemie. Ein genauer Blick auf die Person Weills und seine Lebensgeschichte, verbunden mit neuen Einsichten in Bezug auf die Dreigroschenoper: „Ich kenne keinen anderen Komponisten, dessen Werk solch unterschiedliche Stränge miteinander verwebt: den Wüsten-Exil-Exodus-Faden des religiösen Vaters, den Deutsche-Klassik-Faden, den er vor allem über Bach aufnahm, sowie den Metropolen-Faden, den er in den Straßen und Kneipen Berlins aufgriff.“

Das Buch macht sichtbar und deutlich, wie wichtig es für Kinder und Jugendliche ist, schon von klein auf mit Kultur und Bildung in Berührung zu kommen. Dort werden Weichen fürs Leben gestellt. Barrie Kosky hatte das über seine Großeltern und Eltern und Schule.
Und lest, was aus ihm ward.
 
 
 
 
Alle Zitate stammen aus dem besprochenen Buch.
 
 
Siehe auch:
Stafana Sabins Besprechung von Barrie Koskys Herkules-Inszenierung

Letzte Änderung: 19.05.2023  |  Erstellt am: 19.05.2023

„Und Vorhang auf, hallo!“ | © Screenshot

Barrie Kosky „Und Vorhang auf, hallo!“

Ein Leben mit Salome, Mariza, Miss Piggy & Co.
Der Weltstar der Oper erzählt seine spektakuläre Lebensgeschichte
250 S., geb.
ISBN-13: 9783458643708
Insel Verlag, Berlin 2023

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Kommentare

Ursula Stolz schreibt
Danke für dieses ebenso kurzweilige wie informative Essay. Die Lektüre hat mich begeistert und mit gespannter Vorfreude erfüllt - ich werde das Buch auf jeden Fall lesen.

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