Lob des Zorns

Lob des Zorns

Ein Essay

Kriege, Klima-Katastrophe, Korruption, Menschenrechtsverletzungen: An Anlässen zornig zu sein, besteht kein Mangel. Wann aber ist der Zorn ein gerechter? Wann nur Attitüde und Pose – wann Ausdruck einer Haltung? Helmut Ortner findet, es sei höchste Zeit, die produktiven Seiten des Zorns sichtbar zu machen und den Zorn vom Makel des Destruktiven zu befreien. Kurzum, den guten Ruf des Zorns wieder herzustellen.

Der Zorn hat keinen guten Ruf. Wenn bis vor kurzem davon die Rede war, erweckte das Wort in uns allenfalls antiquierte Assoziationen wie den „Zorn Gottes“ oder wir haben das Wort im Sinn von Jähzorn gebraucht, einer Unbeherrschtheit, die wir allenfalls widerspenstigen Kindern zubilligen. Zu beobachten ist: wo es zu individuellen und kollektiven Zorn-Ausbrüchen kommt, treten häufig Begriffe wie Wut und Empörung an die Stelle des Zorns. Wut und Empörung – so etwas wie die mutlose Schwestern des Zorns?

Der Gebrauch des Wortes Zorn bleibt häufig unscharf. Da hilft vielleicht die Sache selbst etwas schärfer zu fassen. Zorn ist zunächst ein Stellvertreter für ein weites Feld von Emotionen. Wie kann man aber dieses Feld einteilen? Wie verhalten sich zum Beispiel Wut, Hass und Zorn zueinander? Sind es Synonyme oder bezeichnen sie klar definierbare Unterschiede im Gefühl? Stehen Ärger, Empörung, Wut und Zorn vielleicht in einem Steigerungsverhältnis zueinander?

Was ist mit all den zivilgesellschaftlichen Initiativen, den Protesten für Nachtflugverbot und gegen Autobahntrassen, für mehr Bienenschutz und gegen Massentierhaltung, all diesen landesweiten Protest-Ritualen, die unsere Demokratie beschwören und lebendig halten? Was ist mit der jungen Friday for Future-Bewegung, den Seenot-Rettungs-Akteuren, den Aktivisten von Amnesty International – und was mit den „Querdenkern“ und den diversen Polit-Hooligans? Handelt es sich hierbei um „gemeinsame Zorn-Erfahrungen“ oder sind sie allenfalls Ausdruck einer „schimpfenden Weltbetrachtung“, wie Nietzsche es nannte? Einigen wir uns darauf: Zorn ist ein komplexes und manchmal auch widersprüchliches Phänomen, das sich aus den unterschiedlichsten Quellen speist. Ob Volks-Zorn, Wähler-Zorn, Götter-Zorn – der Zorn kommt in vielerlei Gestalt. Wann aber ist der Zorn ein gerechter? Wann ist er blind und destruktiv? Wann nur Attitüde und Pose – wann Ausdruck einer Haltung?

Zorn ist allgegenwärtig. Er ist ein Bestandteil unserer Existenz. Solange er individuell daherkommt, mag er für die Nächsten eine Plage sein, aber er erschöpft sich im Privaten. Anders verhält es sich mit dem kollektiven Zorn, seine Dynamik hat die Kraft der Rebellion, die nicht unbedingt auf Ausgleich und ein friedliches Ende aus ist. Jede Gesellschaft – die politische Herrschaft ohnehin – bemüht sich um die Zähmung des Volks-Zorns. Riskant wird es für die Mächtigen dort, wo das gemeinsame Erlebnis den Zorn aus dem Käfig der privaten Einsamkeit befreit, wo sich Protest und Parolen verdichten, wo Rufe lauter und Forderungen radikaler werden. Wo der Zorn des Einzelnen sich bündelt und zum Zorn der Menge anschwillt.

Zahllos sind die Anlässe, die Menschen in Rage versetzen, wütend und zornig machen. Betrachtet man das Gefühlsfeld der Unzufriedenheit auf seine Intensität hin, so reicht es von mildem Ärger über stark lodernde Wut bis hin zu einem Hass, der fest in die Individuen eingefressen ist. Fragt man nach seiner Zeitstruktur, kann Zorn ein punktueller Ausbruch unterdrückter Gefühle bleiben oder sich verstetigen und zur Charaktereigenschaft werden („ein aggressiver Mensch…!“).

Wut ist eine Eruption – Zorn hat einen langen Atem

Wie aber entsteht der Zorn? Baut er sich langsam auf oder schlägt er ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel? Wenn er sich langsam aufbaut, wie kann man diesen Prozess beschreiben? Geht dem eigentlichen Zorn zum Beispiel eine milde Form der Verärgerung voraus? Ist Hass Kennzeichen des lang anhaltenden Zorns, wie Thomas von Aquin behauptete? Ist Zorn die Leidenschaft und Wut der Affekt, also das eine das langsam Anschwellende, das andere der plötzliche Ausbruch? Und wäre dann nicht Hass im Gefolge des Ressentiments das moralisch Negative, während der Zorn mit der Empörung verschwistert ist und damit ein moralisch positives Gefühl?

Schon das Verhältnis zwischen Empörung und Zorn ist eindeutig schwer zu bestimmen. Beide Gefühle sind eng benachbart und können ineinandergreifen. Was aber die Empörung auslöst, die Wut aufkommen lässt und den Zorn mobilisiert, das wiederum scheint auch mit unseren jeweilig gesellschaftlich grundierten Erfahrungen von Moral verbunden zu sein. Und die Moral, das wissen wir, ist eine prekäre Angelegenheit. Sicher: jeder Begriff von Norm setzt bereits eine Generalisierung voraus, aber für den Einzelnen können diese ganz unterschiedliche Autorität besitzen.

Voraussetzung ist die subjektive Handlungsfreiheit, die Fähigkeit eines Menschen, zu erkennen, zu beurteilen, ob etwas seinen Moralvorstellungen zufolge richtig ist, und entsprechend zu handeln. Es ist die Fähigkeit Nein zu sagen.

Wo der eine augenblicklich in Wut gerät, ein anderer sich öffentlich lauthals empört, konstituiert sich bei einem weiteren nichts als kühler Zorn. Wütend darf der Mensch sein, aber das Recht zum großen Zorn kommt – das haben wir bereits festgestellt – allenfalls den Göttern, niemals aber dem Menschen zu. Denn Wut, darauf weist auch Wolfgang Sofsky in seinem erhellenden Buch der Laster hin, mag ungestüm, laut und maßlos sein, aber sie verpufft oder verraucht auch rasch. „Wut ist ein Ereignis, eine Eruption. Sie reißt mit großer Geste alles um, schlägt blind um sich, behilft sich notfalls auch mit Ersatzobjekten“. Wut ist wie ein heftiger innerer Überfall.

Anders der Zorn. Er hat einen langen Atem. „Die Zeit des Zorns beginnt mit einer Verärgerung, die sich nach und nach zu einer grundlegenden Missstimmung ausweitet. Die Kraft der Gedanken wird zum Werkzeug des Zorns. Er behält sein Ziel im Auge, verfolgt es bis zum bitteren Ende,“ analysiert Sofkys scharfsinnig. Seine Betrachtungen bescheinigen dem Zorn eine zähe Destruktivität. „Im Gegensatz zur Wut, die sich selbst erschöpft, hat der Zorn einen definitiven Schlusspunkt. Er ist erreicht, wenn der Bösewicht bestraft, der Feind für immer geschlagen ist. Zorn erstrebt kein friedliches Ende und keinen gütlichen Ausgleich.“ Man will dem Autor hier gerne widersprechen, denn die Bewertung des Zorns hat historisch und kulturell stets variiert. In unserem Kulturkreis ist durchaus eine klare Zuordnung erkennbar: Hass gilt „fast immer als schlecht, Wut als unbeherrscht, Zorn dagegen kann ‚gerecht’ sein.”

Den Zorn vom Makel des Destruktiven befreien

Gilt das auch für die Randale militanter Polit-Hooligans, die Plätzen unserer Städte unter wechselnden Namen und Parolen als neuer Prototyp des Zornigen die politische Arena betreten? Ob Pegida-Pöbler, oder Anti-Corona-Demos – der Wutmensch sei der politische Phänotyp der Stunde, konstatiert Manfred Schneider in der NZZ. In der Tat: Seine politische Chiffre reicht von links bis rechts, von esoterisch bis vollends wirr. „Er benötigt nur eine positiv oder negativ besetzte Parole, um seine Wut zu befeuern. Er braucht keine Haltung, keine Idee, nur ein „ungutes” Gefühl und schlechte Stimmung«, meint Schneider. Nichts hat er gemein mit mutigen Menschen, die beispielsweise in Belarus, in der Türkei und anderswo, die gegen Polizeigewalt, Menschenrechtsverletzung und Korruption, unter Einsatz ihres Lebens gegen die Staatsmacht auf die Straße gehen. Die „Protest-Legitimation” des Wutbürger speist sich aus seiner eigenen Wirklichkeits-Wahrnehmung – und aus den kollektiven Echo-Räumen, in denen er sich mit Gleichgesinnten dauererregt austauscht und seinen Wut-Akku auflädt.

Halten wir fest: Der Zorn kommt in vielfältiger Gestalt daher und ist beileibe nicht immer produktiv und zukunftsorientiert. Er kann Ausdruck sowohl einer kritisch-produktiven Geistes- und Emotionshaltung sein, die sich mit der Welt und ihren Zumutungen so nicht abfinden und befrieden will, aber auch Ausdruck einer Haltung, die oft den Nebenschauplatz, etwa einer verlorenen geglaubten Kultur, zum Hauptkampfplatz macht. Wut und Hass haben keine gesellschaftliche Verortung, sie sind politisch heimatlos. Aber sie sind immer fanatisch, egomanisch, destruktiv – mitunter auch dumm. Auch der Zorn steht immer in Gefahr, nicht immer klug zu agieren. Es geht darum, die produktiven Seiten des Zorns sichtbar zu machen und den Zorn vom Makel des Destruktiven zu befreien. Kurzum, es ist höchste Zeit, den guten Ruf des Zorns wieder herzustellen – und zu verteidigen – gegen selbsternannte Heimatschützer und irrlichternde Verschwörungs-Erzähler.

Zorniger Geist verachtet Dummheit und Wahn. Er setzt nicht auf blinde Gewalt und eruptive Militanz, sondern andauernden, zähen Disput. Zorn, heißt es bei de Tocqueville, „kann man nicht einsperren, teilen oder exportieren“. Wer seinen Zorn verliert, der verliert auch sein Interesse an der Welt. Deshalb ist er für unsere Demokratie so unerlässlich.
 
 
 

Hinweise:
Vgl. Schneider, Manfred, Bürger und Pöbler – der Polit-Hooligan der Gegenwart hat zwei Gesichter man auf nichts: auf kein Anliegen, keine Idee; allenfalls auf Ressentiments. Woher kommt er, und was treibt ihn um?,
in: NZZ, Neue Zürcher Zeitung, 19. Februar 2021

Sofsky, Wolfgang, Das Buch der Laster, C.H.Beck, München 2009

Ortner, Helmut (Hrsg.) Der Zorn- Einer Hommage, Springe 2014

Letzte Änderung: 06.06.2022  |  Erstellt am: 06.06.2022

Widerstreit

Helmut Ortner WIDERSTREIT

Über Macht, Wahn und Widerstand
248 S., brosch.
ISBN-13: 9783939816805
Nomen Verlag, Frankfurt 2022

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