Der kanadische Medien- und Kunsthistoriker Louis Kaplan hat die deutsch-jüdischen kulturellen Beziehungen anhand des Diskurses über den jüdischen Witz im 20. Jahrhundert untersucht und dabei den schmalen Grat zwischen jüdischer Selbstironie und Antisemitismus zu zeigen versucht. Kaplans umfangreiche Studie ist jetzt in deutscher Übersetzung erschienen. Stefana Sabin fand darin nichts zu lachen.
Ein Witz ist eine einfach strukturierte Erzählung, die durch einen unerwarteten Ausgang, eine Pointe, zum Lachen anregen soll – in volkskundlicher Hinsicht eine vor-literarische Gattung, in sprachwissenschaftlicher Hinsicht eine sogenannte Einfache Form, in der, so der deutsch-holländische Sprachwissenschaftler André Jolles 1930, „unter Herrschaft einer Geistesbeschäftigung die Vielheit und Mannigfaltigkeit des Seins und des Geschehens sich verdichtet.“ Diese allgemeine Definition läßt sich besonders gut auf den jüdischen Witz beziehen, in dem die Vielheit und Mannigfaltigkeit des Seins einer kulturellen Minderheit reflektiert und verdichtet wird.
Bis heute gilt die ironisch-kritische Selbstbetrachtung als typisches Element des jüdischen Witzes – und es ist gerade dieses Element, das den jüdischen Witz als Instrument der Selbstpersiflage zum Judenwitz als Instrument der Fremddiffamierung werden läßt. So begreifen Antisemiten und andere Judenfeinde die ironische Selbstdarstellung als Bestätigung ihrer Vorurteile und wenden den jüdischen Witz gegen die Juden selbst. „In jedem Fall korrespondiert die Instabilität der Grenze zwischen jüdischer Selbstironie und Antisemitismus mit den einander überschneidenden Begriffen von Deutschtum und Judentum, die nicht voneinander geschieden werden können,“ schreibt Louis Kaplan in seiner Studie zur Beziehung zwischen dem jüdischen Witz und dem Judenwitz im deutschen kulturellen Diskurs.
Von dem 1909 erschienenen Buch des Schriftstellers und Illustrators Edmund Edel und Arthur Trebitschs’ selbstverneinendem Pamphlet „Geist und Judentum“ von 1919 über Eduard Fuchs’ kunsthistorische Darstellung „Die Juden in der Karikatur“ von 1921 und Sigfried Kaders antisemitische Propagandaschrift „Rasse und Humor“ von 1939 bis hin zu Salcia Landmanns folkloristischer Witzesammlung von 1960 beschreibt Kaplan die Ambivalenz des jüdischen Witzes; arbeitet die Wandlung der Selbstironie in Selbstkritik und der Selbstkritik in Selbsthass heraus; zeigt die schwierige Rolle, die der Witz für die jüdische Identität vor allem in den 1920er und 30er Jahren gespielt hat – und führt die Umnutzung des jüdischen Witzes für antisemitische Propaganda vor. „Für die Mobilisierung des jüdischen Witzes als totalitäre Propagandawaffe gelangte eine zweischneidige Strategie zur Anwendung: Sie persiflierte und verspottete den jüdischen Feind und nahm den Witz gleichzeitig allzu ernst.“
Einer, der den jüdischen Witz ernst nahm, war Adolf Hitler, der, so Kaplan, das „jüdische Gelächter“ persönlich auffasste und zum festen Bestandteil der antisemitischen Sündenpolitik machte – und es mit der Auslöschung des europäischen Judentums verband. Denn hinter Hitlers Entschlossenheit, das jüdische Gelächter zum Verstummen zu bringen, steckte die Lösung der sogenannten Judenfrage, also der Massenmord an die Juden. Die antisemitische Aneignung des jüdischen Witzes war Teil jenes „tödlichen Diskurses über und gegen den jüdischen Witz“, den Kaplan im Untertitel seines Buchs im englischen Ori-ginal ankündigt.
Im englischen Original heißt das Buch: At Wit’s End – Am Ende des Witzes. Und dieses Ende ist mörderisch: Es ist der Moment, an dem der Witz, mit dem die Juden über sich selbst lachen, zu jenem wird, mit dem die Deutschen über Juden lachen – und sie schließlich ermorden. Das ist der Übergang vom jüdischen Witz zum Judenwitz, den die deutsche Ausgabe zum Titel gemacht hat.
So ist das Buch alles andere als eine Witzsammlung – Kaplan erzählt keine Witze und vermeidet es konsequent, aus seinem Thema humoristisches Kapital zu schlagen. Dafür bietet das Buch eine subtile sprachliche und psychologische Analyse des jüdischen Witzes als Mittel der Selbsterhaltung und der Trauerarbeit und auch als identitätsstufendes Element. Zwar konzentriert sich Kaplan auf die Geschichte des jüdischen Witzes im zwanzigsten Jahrhundert, aber er beendet sein Buch mit einem Epilog über zeitgenössische Komiker wie Larry David und zeigt, dass der Grat zwischen jüdischer Selbstironie und Antisemitismus, zwischen dem jüdischen Witz und dem Judenwitz immer noch schmal ist und die Empfindlichkeiten stetig zunehmen. Tatsächlich gibt es in Kaplans Buch nichts zu lachen.
Letzte Änderung: 06.01.2022 | Erstellt am: 05.01.2022
Louis Kaplan Vom jüdischen Witz zum Judenwitz
Eine Kunst wird entwendet
300 S., geb./brosch.
ISBN-13: 9783847704393
AB Die Andere Bibliothek, Berlin 2021
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