Im Zweifel für die Zeugin …
Jana Baumanns Buch »Unsagbar. Was Vergewaltigung bedeutet und wie ich zurück ins Leben fand – Begleitet von einer Traumatherapeutin« rückt ein Thema ins Licht, das unsere Gesellschaft noch immer systematisch verdrängt: die Realität sexualisierter Gewalt – und den oft einsamen Weg der Betroffenen durch Trauma, Therapie und ein Rechtssystem, das ihnen kaum Schutz bietet. Ein notwendiges Buch, das Mythen entlarvt und uns zwingt, hinzusehen. Artur Becker hat es gelesen.
Es gibt Bücher, die uns so notwendig erscheinen wie das tägliche Brot. Ich spreche hier nicht nur von Belletristik, den Sonetten von Shakespeare oder »Göttlicher Komödie« und »Faust«, sondern auch von Essayistik und ‒ nomen est omen ‒ von Sachbüchern.
Nach der Lektüre von »Unsagbar. Was Vergewaltigung bedeutet und wie ich zurück ins Leben fand« von Jana Baumann, erschienen im Münchner Verlag Mosaik 2024, der zur Penguin-Random-House-Verlagsgruppe gehört, kann ich es ruhigen Gewissens bestätigen: Ja, dieses Werk ‒ notabene Baumanns Sachbuchdebüt ‒ sollte eine Art Pflichtlektüre werden, wenn man sich mit »sexualisierter Gewalt« gegen Frauen beschäftigt. Betonung liege hier, so die Autorin in ihrem Buch, auf »sexualisiert«, denn »sexuelle Gewalt« sei begrifflich falsch und würde einen Beitrag zu den zahlreichen Mythen im Kontext des Umgangs mit Vergewaltigungen von Frauen leisten ‒ Mythen, die leider unsere Gesellschaft, unsere Institutionen und vor allem Köpfe hartnäckig beherrschten.
Im Falle einer Vergewaltigung (einer Frau) handle es sich, schreibt Baumann, nämlich nicht um Sex, ergo einen Liebesakt, sondern um eine brutale Machtausübung durch den Täter: um totale Beherrschung einer Person, die sich aus unterschiedlichsten Gründen nicht wehren könne, wobei diese Beherrschung dem Täter die Befriedigung seiner ‒ welchen Ursprungs auch immer ‒ Machtgelüste bereite. Das ist natürlich ein wesentlicher Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht.
Und der Titel dieses insbesondere narrativ gelungenen Sachbuchdebüts verrät schon, dass die Autorin praktisch über ihren Schatten springen musste, um das »Unsagbare« nach solch einem traumatischen Ereignis in ihrem Leben in Worte fassen und möglichst zugänglich und verständlich analysieren zu können. Dazu gehört nicht nur jede Menge Mut, sondern auch die Überzeugung, dass hier etwas unbedingt thematisiert und ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden musste, auch wenn es sich um einen intimen und traumatischen Vorgang für die Betroffene handelt.
Doch eins nach dem anderen. Jana Baumann, Jahrgang 1980, eine selbständige Beraterin für Unternehmen, die in Berlin lebt und seit vielen Jahren beruflich die BRD bereist und daher über zahlreiche Kontakte und Erfahrungen im Dialog mit Menschen verfügt, erzählt in ihrem Sachbuchdebüt die Geschichte der Vergewaltigung, die sie vor vielen Jahren erlitten hat: »Es ist im Arbeitskontext passiert. Ich war interne Beraterin.« So fängt die Geschichte an, und schon, nach diesen zwei Sätzen, setzt im Kopf ein Film an; man kann sich nämlich sofort vorstellen, was passiert sein mag: Eine Tagung in einem Hotel an einem schönen Ort in Deutschland, am Tage die Arbeitsvorträge und -diskussionen, am Abend, wie es dann in den Programmen solcher Arbeitsseminare übertrieben kollegial heißt, »gemütliches Beisammensein und Ausklang in der Gaststätte zum Goldenen Hirsch« und so weiter. Irgendwann geht man auf sein Zimmer, und ein Kollege begleitet eine Frau bis zur ihrer Tür und plötzlich ist er drin und macht sich über sie her und beschimpft sie und würgt sie, obwohl sie ihn anfleht, es bitte sein zu lassen. »Er war doch nett, zuvorkommend, normal ‒ im Seminar, bei den gemeinsamen Mahlzeiten … Warum tut er das?«, ist der erste unsagbare Gedanke der völlig überraschten Frau.
Diese Szene spielt sich so und nicht anders weltweit täglich ab. Einer der größten Mythen ‒ Frauen werden von sexbesessenen Männern im dunklen Walde überfallen und vergewaltigt, und: »Na, kein Wunder, was hat die denn da so spät gesucht, so frivol angezogen, im Minirock, immer noch leicht beschwipst, warum geht sie ausgerechnet um Mitternacht in den dunklen Wald spazieren, nachdem sie zuvor feuchtfröhlich in einer Kneipe gefeiert und den Männern an der Bartheke den Kopf verdreht hat?«
Nein, Vergewaltigungen passieren am Arbeitsplatz, sie passieren im engsten Verwandten- und Familienkreis, sie passieren auch dort, wo man sich bei Freunden oder Bekannten normalerweise sicher und wohlfühlt, und sie passieren an öffentlichen Plätzen, und zwar immer öfter.
All die komplizierten Mechanismen, die zu einer Vergewaltigung führen können, und all die Verhaltensweisen der Täter, die oft irrational und empathielos wirken, werden in Baumanns Buch zwar ein wenig beleuchtet, aber die Autorin konzentriert sich in erster Linie auf die Verarbeitung eines solchen Traumas und damit auf das Zusammenleben mit dem »Elefanten« (dem Trauma in ihrer Bildsprache), also mit einer konkreten Störung im Alltag, der durch das traumatische Ereignis komplett aus den Fugen geraten ist. Sie schreibt über die Zeit nach dem Ereignis, und sie erzählt von den ersten Therapien und Gesprächen, um den Weg zur »gesegneten Normalität«, zu der Zeit vor dem Ereignis, zurückzufinden, wohlwissend, dass dies im Prinzip ein unmögliches Unterfangen ist, da dieser »Elefant« niemals verschwinden wird.
Baumann beschreibt, wie sie epistemologisch vorgeht und zu dem Schluss gelangt, dass sie lernen müsse, mit dem »Elefanten« leben zu können ‒ um wieder normal, zumindest erträglich normal für sich selbst, zu funktionieren.
Die Beschreibung des langen, über Jahre dauernden Therapieprozesses liest sich in Baumanns Buch wie ein Romanbericht, und diese Erzählebene macht das Buch leicht zugänglich und die Ich-Erzählerin sympathisch, wobei Anne Roth, eine Traumatherapeutin, die Erzählung ihrer Patientin mit kurzen fachlichen Statements, die sich der Begriffsklärung, der Statistik oder der verschiedenen Therapiemethoden annehmen, abrundet. Das schafft die nötige Distanz und ist sehr informativ, denn wer weiß schon, was LARA ist, was Justice gap bedeutet oder was die Abkürzung EMDR heißt?
Ich spreche hier gattungsbewusst von einer Erzählung, weil Baumann ihren langen Weg zum Verstehen und zum Akzeptieren des neunen, aber zugleich in dieser Art nicht gewollten Lebens nach der Vergewaltigung minutiös beschreibt. Von ihrem ersten Tag »danach« bis zu den ersten Erfolgen und großen Änderungen, die sie selbst vorgenommen hat, um mit diesem »Elefanten« an ihrer Seite einigermaßen friedlich auskommen zu können. Das ist nämlich ein zweiter Aspekt in Baumanns Buch: Die Autorin beleuchtet kritisch nicht nur die Gesellschaft, die Institutionen, die möglichen Therapien, die Kliniken und die therapeutischen Methoden ‒ sie wirft auch einen kritischen Blick auf sich selbst und fragt sich ständig, was sie sich selbst und ihrer Umgebung und ihren Nächsten und Freunden wie auch der Öffentlichkeit zumuten darf ‒ umgekehrt betrachtet: Sie ist fast schon panisch darum bemüht, ihre intime und private Sphäre zu wahren, weil sie nicht noch einmal, vor allem im Licht der Öffentlichkeit, zum Beispiel im Falle eines Gerichtsprozesses, ihre Traumata durchleben will.
In diesem Punkt ist die Autorin souverän und kritisch ‒ sehr kritisch ‒ den juristisch komplizierten Prozessen gegenüber, wenn es also zu einer konkreten Anzeige und zu einem gerichtlichen Verfahren kommt. Sie schreibt: »Allein die juristisch faktische Sprache macht mir wieder einmal zu schaffen. Aber es ist mehr. Es fühlt sich für mich wieder sofort an, als würde ICH angeklagt werden. Als würde ich mich verteidigen müssen.« Und: »Strafprozesse werden vom Staat geführt. / Was bedeutet das? / Das bedeutet: Wenn ich Anzeige bei der Polizei erstattet habe, werden dort die Ermittlungen eingeleitet. Das heißt, dass der ›Täter‹ und mögliche benannte Zeug:innen kontaktiert und mit dem Thema, also der Anzeige, konfrontiert werden und die Polizei ermittelt. / (…) Was macht er (der Täter, Anm. d. Autors) dann? (…) Wird er mir erneut etwas antun? (…) / Damit verbunden sind natürlich wieder eng die Fragen: Was bedeutet das dann auch beruflich für mich? Wie geht das im Alltag?«
Man merkt schon an den Fragen der betroffenen Autorin, wie schrecklich und traumatisch (erneut) solch ein Gerichtsprozess für die klagende Frau werden kann. Ein junger Bursche in einer Polizeiuniform, der gerade sechsundzwanzig geworden ist, wird die Anzeige aufnehmen und Fragen stellen, die kalt, distanziert und sachlich klingen werden: »Wie heißt der vermutliche Täter? Um wieviel Uhr ist es passiert?« Die gleiche Fragenstellung würde dann im Gerichtssaal stattfinden, die Klagende würde als Zeugin zum Vorfall befragt werden, und so ein Gerichtsprozess kann drei Jahre dauern ‒ und die Klagende, das Opfer, könnte ihn verlieren, denn es gelte der Grundsatz »in dubio pro reo« (»im Zweifel für den Angeklagten«), wie Anne Roth in ihrem Begleitkommentar schreibt. Die Kooperation mit dem Staat ist in diesem Fall eine Art Flashback ‒ die betroffene Person kann nervlich solch eine juristische kalte Dusche nicht durchstehen und ganz einfach wieder in alte Angstzustände zurückfallen.
Die statistischen Zahlen, was die juristische Verarbeitung der Vergewaltigungen in Deutschland angeht, sind leider sehr ernüchternd. Nur ca. 10% der Opfer zeigen ihre Peiniger an. Das bedeutet: Es gibt jährlich etwa 8.000 Anzeigen, aber schätzungsweise 80.000 Vergewaltigungen ‒ eine gigantische Zahl. Frauen haben Angst davor, eine Anzeige zu erstatten, denn sie wissen, dass sie sich in solchem Fall auf dünnem Eis bewegen würden. Zählt man dann noch all die Vorurteile und Mythen dazu, stehen einem die Haare zu Berge, und man fragt sich nach der Lektüre des Buches von Baumann: Was ist denn eigentlich mit unserer Gesellschaft los?
Ein paar dieser Mythen seien hier genannt, und man muss der Autorin dafür dankbar sein, dass sie diese klarsichtig und emotionslos in ihrem Buch präsentiert, obwohl sie ihr Leid und den langen Prozess zu einer möglichen Genesung sehr genau formuliert und erzählt hat, aber eben nicht pathetisch. Bauman schreibt: »Durch LARA (Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Frauen, trans*, inter* und nicht-binären Personen in Berlin, Anm. d. Autors) habe ich verstanden, dass die Bilder, die wir von Vergewaltigungen haben, maßgeblich geprägt sind durch Vergewaltigungsmythen, die beständig reproduziert werden. In Filmen, in Büchern, durch das, was wir von klein auf als Mädchen und Frauen lernen, wovor wir uns zu schützen hätten.« Eigentlich sind uns die Mythen bekannt, wir ignorieren sie jedoch, schalten kritisches Denken aus und benutzen sie als Denkmuster, die den Wahrheitsanspruch unterstreichen sollen. Eine Katastrophe! Anne Roth benennt einige elementare Mythen und als Pendants die Fakten: »Frauen provozieren eine Vergewaltigung durch ihr Verhalten und ihr Aussehen, ihre Kleidung. Fakt ist: Frauen werden unabhängig von ihrem Alter, Aussehen, Verhalten und ihrer Bekleidung Betroffene von sexualisierter Gewalt. Es gibt kein Verhalten, das eine Vergewaltigung rechtfertigen könnte und kein Verhalten, das eine Vergewaltigung ausschließt.« Oder: »Vergewaltiger sind kranke, gestörte Triebtäter, die Taten sind sexuell motiviert. Fakt ist: Vergewaltiger weisen zu über 90% Prozent keine psychopathologischen Auffälligkeiten auf. Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage dafür, dass ein Mann seinen Sexualtrieb nicht kontrollieren kann.«
Solche Passagen in diesem Buch sind nicht nur bildgewaltig in ihrer Demontage von falschen Denkmustern, sie machen uns allen bewusst, wie verfahren und intellektuell faul die Gesellschaft in der Beurteilung eines der ältesten und bösartigsten Auswüchse der patriarchalen Machtgeilheit ist. Vergewaltigungen gibt es schon so lange, wie es die Menschheit gibt, und die Kultur und die Zivilisation übernehmen Atavismen in diesem Kontext, die leider von Generation zu Generation weitergeleitet werden ‒ eben nicht nur in patriarchalen und autoritär, aus politischem und/oder religiösen Fanatismus heraus, regierten Gesellschaften, sondern immer noch in unseren westlichen, sogenannten liberalen Gesellschaften.
Man darf jedoch nach der Lektüre des Buches von Baumann zuversichtlich bleiben, man versteht nun dann besser, was der Satz »Ich bin vergewaltigt worden« bedeutet, weil die Autorin trotz all der ernüchternden Feststellungen und Beschreibungen ihres eigenen Leidensweges zu einem »normalen Leben« mit einem »Elefanten« auch eine positive Nachricht überbringen will: an Betroffene und an die Gesellschaft, die sie zu einem kritischen Dialog über dieses wichtige und oft tabuisierte Thema auffordert. Baumann zeigt uns, dass der Prozess der Heilung zwar ein langwieriger und holpriger Weg ist, aber jede Betroffene das Unmögliche schaffen kann, auch wenn mehrere Therapien und Klinikaufenthalte und beruflicher Wechsel und Neuanfang sehr viel Kraft kosten, geschweige denn all die Gespräche mit dem Partner, mit seinen Nächsten, Freunden und Arbeitskolleginnen und -kollegen. Das ist die positive Botschaft, die Baumann in die Welt bringt, auch wenn sie in ihrem Buch immer wieder verstörende Fragen stellt, die an den Grundfesten unserer Gesellschaftsordnung rütteln: »Was ich nicht verstehe: Warum gibt es offenbar eine so große Angst davor, in einer diversen, gleichberechtigten Welt zu leben? Woher kommt der Reflex, ein binäres, patriarchales System zu schützen, welches offensichtlich Gewalt an einem Großteil unserer Bevölkerung fördert?« Über solch eine Frage sollte man nicht leichtfertig urteilen und dann euphorisch rufen: »Ja, super, sehr mutig, bravo!« und sich wieder entspannt zurücklehnen, in der Hoffnung, dass alles Notwendige zu seiner Zeit geschehen werde. Man sollte eher überlegen, wie wir das Erstarrte und allgemein Akzeptierte ändern können, im Sinne des ethischen, kulturgeschichtlichen und generationsbedingten Fortschritts, denn exakt zu diesem subversiven Schritt ruft Baumanns Buch auf: zum Paradigmenwechsel im Kontext unserer Umgangsweise mit sexualisierter Gewalt gegen Frauen. Und das ist großartig.
Hinweise zum Buch:
Jana Baumann, Anne Roth
»Unsagbar. Was Vergewaltigung bedeutet und wie ich zurück ins Leben fand – Begleitet von einer Traumatherapeutin«
Mosaik Verlag (2024)
Seitenzahl: 208
ISBN: 9783442394357
Preis: 22 Euro
Veranstaltungshinweis:
Hamburg: 26. November 2025, Beginn: 19.30
Ort: Frauen Not Ruf, Fachberatungsstelle für vergewaltigte Frauen und Mädchen
Anlässlich des Internationalen Tags gegen patriarchale Gewalt
Lesung mit Jana Baumann
Aus »Unsagbar. Was Vergewaltigungen bedeutet und wie ich zurück ins Leben fand«
(Mosaik, München 2025)
Musik: Anke Wisch (Geige)
Im Anschluss an die Lesung Fragen und Austausch
Kölibri, GWA St. Pauli
Hein-Köllisch-Platz 12
20359 Hamburg St. Pauli
Der Eintritt ist frei, Spenden sind willkommen.
Letzte Änderung: 21.11.2025 | Erstellt am: 21.11.2025
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