Hat er je Mediokres beschrieben? Der Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier kann höchst verzückt eine Aufführung schildern, und er kann sich vernichtend darüber äußern. Und weil er immer wieder die modische Schwarmidiotie geißelte, war er bei den fortgeschrittenen Bühnenkünstlern zum konservativen Gegner avanciert. Sein Buch „Deutsche Szenen“ ist eine Glossensammlung, die Walter H. Krämer gelesen hat.
Gerhard Stadelmaier, Jahrgang 1950, war von 1985 bis 2015 der leitende Theaterkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Mit seiner Meinung hielt er selten „hinter dem Berg“ und machte sich mit seinen Beschreibungen und Wertungen von Inszenierungen und Schauspieler*innen nicht nur Freunde.
Er konnte genau hinschauen und genau zuhören und er kämpfte und stritt für ein Theater, das sich der Dramatik und den Dichtern verpflichtet fühlte. Eine, in deren Arbeiten er seine Vorstellung von Theater wiederfand, war Andrea Breth, wie in seiner Würdigung anlässlich ihres 70. Geburtstag einmal mehr deutlich wurde (Friedrich Schiller hat ihr einen Brief geschrieben. Wer überhaupt noch wissen will, was Theater kann und wie hoch hinauf es reicht, findet in ihren Inszenierungen sein Zuschauerglück: Der Regisseurin Andrea Breth, der überragenden Liebhaberin der dramatischen Dichter, zum siebzigsten Geburtstag, FAZ vom 31.10.2022).
Jetzt geht er wohl nur noch selten oder gar nicht mehr ins Theater und hat – seit seinem „Unruhestand“ – die ganze Welt für sich als Bühne entdeckt. Beobachtet, hört zu – auf Plätzen, Märkten, an Nebentischen, in Museen, in Theatern und auf der Straße. Daraus entstanden sind Kurzbeobachtungen zur deutschen Gegenwart, versammelt in dem Band „Deutsche Szenen“. Glossen – wie sie der Autor selbst nennt – von der „Wiege bis zur Bahre“. Am Ende steht der Tod und am Anfang die Frage nach dem „Wer bin ich? Wo komme ich her und wo will ich hin?“
Die meisten der achtzig Texte nur eine Buchseite und keine mehr als drei. Getreu einem Zitat von Georg Hensel „Wer kürzer schreibt, hat länger Recht!“ und wohl ganz im Sinne des Autors. Thematisch geht es um Biografisches, Alltagsbeobachtungen, Reflexionen zur deutschen Geschichte und Gegenwart und natürlich – wie könnte es anders sein – um Theater, die Kunst und das Publikum. Und letzteres kommt bei ihm nicht gut weg: „Das Erstaunlichste ist das Publikum, das nicht mehr Publikum sein will. Es füllt mehr oder weniger die Säle, ist aber eigentlich gar nicht da; auch volle Häuser wirken oft gähnend leer. Es nimmt nicht teil. Es macht mit. Es nimmt den Theaterabend nicht als einen Fall, auf den es reagiert. Es lässt sich alles gefallen.“
Bei der Frage „Was soll das Theater? wendet sich der Autor entschieden gegen Tendenzen in der Kunst, dass plötzlich nur noch Schwarze Schwarze spielen sollen, nur noch Homosexuelle Homosexuelle – die Liste ließe sich beliebig weiterführen. Tom Hanks äußerte sich deswegen erst kürzlich über seine Rolle als Aids Kranker Mann in „Philadelphia“ dergestalt, dass er diese Rolle heute nicht noch einmal spielen würde: Er sei ja schließlich kein an Aids Erkrankter gewesen. Stadelmaier hält das – wie ich finde zurecht – für einen Verrat an der ureigensten Aufgabe von Theater und Schauspielkunst. „Eine Frau kann den Hamlet ebenso spielen wie ein Dicker oder ein Dünner, ein Schwarzer, ein Schwuler, ein Hetero, ein Gelber, ein Roter, ein Irgendwer. Keiner von ihnen muss dem dänischen Königshaus angehören, um den Dänenprinzen zu spielen. Genauso, wie kein Schauspieler seinen Vater umgebracht, seine Mutter geheiratet und sich selbst dann die Augen ausgestochen haben muss, um dem Ödipus Gestalt und Gesicht zu verleihen.“ Damit würde vernachlässigt, dass das Theater alle seine Wirklichkeiten nur als Vorstellung darbietet und Schauspieler*innen auch das spielen können und wollen, was sie nicht sind. Sollte diese Verwechslung des Theaters mit dem Leben um sich greifen, so hätte das laut Stadelmaier verheerende Folgen: das Theater würde sich selbst abschaffen, „zerfallend in lauter Identitäten, die eifersüchtig auf die Einladung ihrer Hautfarben und Ethniengrenzen pochten“.
In weiteren Texten geht es um den Tod eines Schauspielers (Fritz Lichtenhahn), Tod eines Kritikers (Georg Hensel), um Schillers Mohr, Wallensteins Wellness und Falstaffs Airbus. Es geht um Schüsse aus Küssen, einen Lesehändler, Kinderkinder und die letzte Ölung – um nur einige der insgesamt achtzig Überschriften / Inhalte zu nennen.
Man muss nicht alles teilen, was der Autor so von sich gibt, aber es ist eine lohnende und auch vergnügliche Lektüre und eine Gelegenheit, sich an Gerhard Stadelmaiers Aussagen zu reiben. Widersprechen muss man ihm in der Einschätzung von beispielsweise den Regiearbeiten von Frank Castorf. Hier entwickelt er kein Verständnis für diese andere Art Regie zu führen und Theater zu gestalten. Die Postmoderne und das – wie er es nennt – „Regisseurstheater“ sind ihm ein Graus.
In „Drei Matten, eine Frau“ – für mich eine der interessantesten Geschichten des Buches – geht es um eine Bühnenadaption der Novelle „Das Jagdgewehr“ des japanischen Schriftstellers Yasushi Inoue. „Drei Abschiedsbriefe von drei Frauen. An einen Mann. Die eine Frau hat er geheiratet. die zweite geliebt, die dritte, die Tochter der Geliebten, beonkelt.“ Der Kritiker ist skeptisch, denn für ihn haben Novellen und Romane auf dem Theater eigentlich nichts zu suchen – doch dann lässt er sich überraschen und überzeugen durch das virtuose Spiel der Schauspielerin Corinna Harfouch. Sie arbeitet die Teile einer jeden der drei Personen deutlich heraus: Teil einer Person, die sie werden könnte (junge Frau), Teil einer Person, die sie gewesen sein könnte (Ehefrau) und Teil einer Person, die sie nie sein konnte (Geliebte).
„Es ist, wie gesagt, im Bühnenmodengeschwätz so viel von Identitäten in den Theatern die Rede, von dem, was nur der eine sein darf und der andere nicht (…). Dass, wer mit sich lieber identisch sein will, erst entdecken muss, wie viele andere in ihm stecken, ist offenbar allein noch als ein ‚Es war einmal‘ zu haben. Damals, im Theater. Lange her.“
Da ist es wieder: das Klagen über das heutige Theater verbunden mit einer die Glorifizierung des Gewesenen. Ob das auch für uns Leser zutrifft, mag jeder / jede für sich entscheiden.
„Deutsche Szenen“ – ein lesenswertes Buch – auch und gerade weil manches zum Widersprechen reizt und anderes zum Nachdenken anregt.
Bleibt noch ein Zitat von dem Schauspieler, Sänger und Entertainer Ulrich Tukur, der das Besonderes dieses Büchleins auf den Punkt bringt: „Gerhard Stadelmaier haut auf den Tisch einer Welt, der die Poesie des Lebens und der Zauber der Kunst und des Theaters immer mehr abhandenkommt. Seine kurzen Geschichten sind bissige, aber auch liebevolle Beobachtungen von Menschen und anderen dubiosen Zeitgenossen, denen man besser nicht oder vielleicht besonders gerne begegnet wäre.“
Zitate – soweit nicht anders angegeben – stammen vom Buchautor.
Letzte Änderung: 30.11.2022 | Erstellt am: 30.11.2022
Gerhard Stadelmaier Deutsche Szenen
153 S., geb.
ISBN-13: 9783520768018
Alfred Kröner Verlag, Edition Klöpfer
Stuttgart 2022
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