Eine unerschöpfliche Ressource

Eine unerschöpfliche Ressource

Roman Kösters „Müll- Eine schmutzige Geschichte der Menschheit“
Müll aus dem Main | © Bernd Leukert

Der Mensch ist das einzige Tier, das Müll produziert. Schon der Neandertaler hat Zeug weggeworfen, aber erst mit der Industrialisierung ist das Wegwerfen systemisch geworden. Und inzwischen kommt zu den vielen Krisen der Gegenwart eine Müllkrise hinzu, die der Historiker Roman Köster in einer „schmutzigen Geschichte der Menschheit“ beschreibt. Stefana Sabin hat sie mit anfänglicher Neugier und zunehmendem Interesse gelesen.

Zwar haben schon die Neandertaler Dinge, die sie für nutzlos hielten, aussortiert und weggeworfen; im antiken Rom gab es ein regelrechtes Müllproblem; und in Kairo wurde im 13. Jahrhundert eine regelmäßige Sauberkeitswoche initiiert, um die Stadt von Müll zu befreien. „Müllprobleme sind nicht neu“, schreibt Roman Köster, aber während sie in der Vormoderne eher praktischer Art waren, nahmen sie im Zuge der Industrialisierung und des Städtewachstums eine Dimension an, die man nicht mehr zu bewältigen wusste. Müll, so zitiert Köster einen amerikanischen Politiker aus den sechziger Jahren, „ist unsere einzige wachsende Ressource.“

Tatsächlich wirft die Wohlstandsgesellschaft immer mehr weg. In einer Mischung aus kulturhistorischen Details und gelegentlichen Anekdoten stellt Köster die zunehmende Vermüllung der Welt und die Versuche, darauf zu reagieren, dar. Seine Darstellung ist chronologisch. Er beschreibt, wie der Müll sich von der Vormoderne zum Industriezeitalter veränderte, wie sich die Trennung von Exkrementen und Abwässern langsam durchsetzte, wie Müllhalden entstanden und wie man anfing ̶ zuerst in Florenz und Bologna! ̶ zwischen nassen und trockenen Senkgruben zu unterscheiden. Als Begleiterscheinung der wachsenden Müllproduktion und ihrer schlechten Entsorgung entstanden Epidemien wie Typhus und Cholera und schließlich ein Bewusstsein für Hygiene.

Die Erkenntnis, dass Abfall gefährlich ist, setzte sich dank der Bakteriologie, die sich im 19. Jahrhundert als Fach etablierte, durch. So verschwanden langsam Tiere aus dem städtischen Raum und entstand eine systematische Abfallsammlung, die zuerst auf Selbstorganisation beruhte und etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts kommunal organisiert wurde, „also eine von der Stadt bereitgestellte technische Einheit, die damit beauftragt war, städtische Abfälle einzusammeln.“ Schon 1850 ersetzte in Chicago eine städtische Müllabfuhr die private Abfallsammlung ̶ Frankfurt am Main war 1873 deutscher Vorreiter. Durch die moderne Müllabfuhr entstanden neue Berufe, wie derjenige des Müllmanns und neue Alltagsgegenstände wie die Mülltonne. Kösters Skizze über Entstehung und Entwicklung der Mülltonne als „zentrales technisches Artefakt“ der Müllabfuhr ist vielleicht die alltagsgeschichtlich amüsanteste Episode in seiner auch sonst höchst informativen schmutzigen Geschichte der Menschheit.

Von besonderer Aktualität ist das Kapitel über Massenkonsum, die dadurch entstehende Wegwerfgesellschaft und die damit zusammenhängenden Herausforderungen der Müllentsorgung. „Denn nicht allein die schieren Mengen steigen an, sondern es verändert sich auch ihre Zusammensetzung.“, schreibt Köster. „Ging es vormals in erster Linie darum, den Stadtraum sauber zu halten, Geruchsbelästigungen zu vermeiden, die Ausbreitung von Infektionskrankheiten zu verhindern, erfuhr man jetzt von ganz anderen Gefahren, die im Müll lauerten: Die Vergiftung der Umwelt durch Müll wurde zu einem großen Thema und sollte die Debatte um Produktion und Umgang mit Abfällen grundlegend verändern.“ Köster beschreibt das Entstehen des modernen Recycling und macht deutlich, dass alle technischen Bemühungen gegen die steigenden Müllmengen nicht viel ausrichten können.

Im sachlichen Ton des Historikers, der er ist, plädiert Köster für ein allgemeines Umdenken: denn zum Überleben sind nicht nur neue Formen des Recycling notwendig, sondern vor allem neue Formen des Konsums, so dass weniger Müll entsteht. Und er warnt vor der zunehmenden Vermüllung der Ozeane – vor jenen Müllstrudeln, die in Form riesiger Plastikansammlungen mitunter an die Strände gespült und entsorgt werden müssen. Weil es keine absehbare technische Lösung des Müllproblems gibt, muss man, so Köster, an der Quelle ansetzen und die Müllmengen reduzieren, auch wenn dann das Leben langsamer und unbequemer werden sollte. Um die dringend notwendige Debatte darüber zu führen, „sollte man sich klarmachen, wie stark Müll mit uns, unserem Alltag und unserer Lebensweise verzahnt ist.“

Diese Verzahnung ist erdumfassend. Köster berücksichtigt in seiner Geschichte des Mülls nicht nur Europa und Nordamerika, sondern auch Asien und den globalen Süden und liefert so ein großangelegtes soziokulturelles Bild einer Gesellschaft, die an ihrem Müll einzugehen droht.

Letzte Änderung: 01.11.2023  |  Erstellt am: 31.10.2023

Müll | © Bernd Leukert

Roman Köster Müll

Eine schmutzige Geschichte der Menschheit
422 S., geb.
ISBN-13: 9783406805806
C. H. Beck, München 2023

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Kommentare

Ralf Rath schreibt
Obwohl von mir keine einzige Veröffentlichung vorliegt, gelten meine ungeschriebenen Texte seit langen Jahren bereits als, wortwörtlich, "dummes Gerede", "Geschwurbel" oder gar als "pseudointellektuelles Geschwätz". Insofern dadurch etwas schon im Voraus in der Kehrichttonne landet, das überhaupt noch nicht greifbar ist, könnte die gegenwärtige Auseinandersetzung dazu gegenstandsloser nicht sein. Auf diese Weise geht eine hochentwickelte Industriegesellschaft in der Tat ein, falls solche Praktiken im Umgang mit vermeintlichem Müll womöglich Schule machen.

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