„Ich bin das Meer. Du wirst mich nicht begreifen.“ Ein beeindruckendes Versepos, dem der Schriftsteller, Hörspielsprecher, Journalist, Rundfunk- und Hörbuchsprecher Gert Heidenreich den schlichten und doch umfassenden Titel „Das Meer“ gegeben hat, endet mit diesen Worten. Harry Oberländer hat sich in die Gezeiten begeben.
Lang ist die Liste der Autoren, denen Gert Heidenreich seine Stimme gegeben hat. Unter den Titeln der Hörbücher finden sich Preziosen der Weltliteratur wie Umberto Ecos Der Name der Rose und Der Friedhof von Prag, Scott Fitzgeralds Der große Gatsby, eine Komplettlesung von Tolkiens Herr der Ringe, Seumes Spaziergang nach Syrakus und Traumpfade von Bruce Chatwin. Nicht zu vergessen: seine eigenen literarischen Werke von der ersten Fassung der Steinesammlerin (1984) über die Serie der Swoboda Krimis bis hin zum Roman Schweigekind (2018), der mit der Frage beginnt: „Wohin geht das Glück, wenn es verschwindet?“
Nun hat Gert Heidenreich im Zeitalter der Performancedichtung ein poetisches Epos veröffentlicht, dessen Gegenstand Das Meer zu den Elementarthemen der Literaturgeschichte gehört. Er hat es nicht nur als Buch, sondern auch als Hörbuch veröffentlicht, natürlich liest er selbst, begleitet von Musikpassagen seines Sohnes Julian Heidenreich.
Der Ozean mit seinen sieben Meeren, das Meer und das Wasser, gewaltige elementare Themen. Das könnte verwegen erscheinen angesichts einer Motivgeschichte von Homer bis Ezra Pound, von Theodor Storm und Hermann Melville bis Ernest Hemingway, aber ohne Verwegenheit kommt niemand aus, der es mit See und Seefahrt zu tun hat – und eben auch mit der Erotik des Wassers, dem Schwimmen und Tauchen, dem Segeln und Schnorcheln oder auch der intensiven Wahrnehmung der Erdkugel im Blick auf die Horizonte und im Erlebnis der wütenden Elemente. Gert Heidenreichs große Gelehrsamkeit steht seinem Blick dabei stets zur Seite, um sowohl Makro- als auch Mikrokosmos in der lyrischen Darstellung zu berücksichtigen. Und es ist nicht nur die Gelehrsamkeit, sondern eine gelebte Erfahrung, von der auch durchaus ironisch-selbstironisch (Ich verwechsle mich nicht mit Poseidon, ich bin ein uralter Jüngling…) berichtet wird. Es ist die Beziehung zu einer Landschaft, die alle Gefühlslagen der Liebe einschließt auf einer Skala, die von Euphorie bis Trauer reicht.
Ach, mein vertrauter Atlantik, meine innen bewohnte Küste,
meine vierzigjährige Sehnsucht nach jenem Draußen,
wohin ich mich ohne Segel träumte, ohne Freund,
ich war eine losgerissene, weißhäutige Boje;
langsam mattierte das Salz meine Haut,
der Atem verging mir,
ich sah mich untergehen auf der glimmenden Spur
Seit den siebziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts sind die Kreidefelsen der Côte d’ Albâtre Heidenreichs zweite oder sollte ich sagen: andere Heimat geworden, die sporadisch schon in seiner umfangreichen Literaturproduktion auftauchte. Etwa in seinem Kriminalroman Der Fall, der mit einem Mord am Strand von Les Petites Dalles beginnt. Heidenreich vergleicht die Liebe zu dieser Landschaft mit der Liebe zu einer Frau. Folgerichtig ist der Ozean, der da mit seinen Wellen heranrauscht, mit Ebbe und Flut, im Sonnenlicht oder im Sturm weiblich. Madame la mère, eine Dame in schwappender Robe, der der Dichter mit Höflichkeit, Respekt und Leidenschaft gegenübertritt. Dass die deutsche (Kanzlei-)Sprache sie zu einem Neutrum gemacht hat, kann da nur Hohn und Spott auslösen.
Vergorener Einfall, dich sächlich zu taufen!
Das Meer? Selbst wenn wir in Sachen Geschlecht
Die Zweiheit auf allerlei Art weiten, ist das
Neutrum abersinnig für dich: hochdeutscher Stumpfsinn
Zeitlich und räumlich unergründbar groß ist sie eine Riesin: die alte Atlantika. Sie, la mère, nötigt dem Dichter Respekt und Höflichkeit ab, lässt ihn auf die Knie sinken oder den Satzbau der Wellen studieren, sich als beherzter Schwimmer in sie hineinstürzen oder auch ergriffen schweigen. Madame allerdings schweigt im Gegensatz zu ihrem Verehrer nicht. Sie arbeitet unaufhörlich an ihrer Mundflut und tintet Folianten voll:
Seit Millionen von Jahren trägt sie schwankende Epen
von einer Küste zur andern, und ihre Folianten,
die ein Krake hütet, vermutlich,
ein eifersaugnäpfiger Tiefseebibliothekar,
enthalten die schimmernde Bildung der Austern,
der Seepferde Schwimmkursregister,
der Krebse quergängiges Credo …
Abgesehen davon, dass das Wort eifersaugnäpfig schon jetzt mein Wort des Jahres ist: Das ganze Gewimmel der Tiefen stellt Madame la mère vor, soweit es ihre Lektoren zulassen, die Hummer mit Kürzungseinwänden. Ironie statt Pathos. Obwohl, als Rezensent, den man immer noch nicht totgeschlagen hat, kann ich auch mit Pathos leben. Erinnere ich mich doch noch heute gerne daran, wie ich im Fernsehen des vergangenen Jahrhunderts den großen Gert Fröbe hörte und sah, wie er ein expressionistisches Naturgedicht von Christian Morgenstern in melodramatischer Steigerung rezitierte: mit raumgreifenden Armbewegungen in unheilschwangerer Stimmlage: Ich fresse dich, ich fresse dich, frehehessse dich! Womit das Meer als Täterin und die Küste als Opfer gemeint war.
Auch davon handelt Heidenreichs Versepos. Von einem Meer, das die Klippen angreift, ganze Säulen herausbeißt und bis in die Dörfer hinauf die Straßen der Fischer flutet. Davon, dass wir niemals begreifen, wie alles, was wir Bewegung nennen, beginnt. Dass wir nicht wissen, was den Monsterwellen zugrunde liegt, die die Seefahrer nur benennen können: Kawenzmann, weiße Wand, Drei Schwestern. Und also bei der fundamentalen philosophischen Rätselfrage landen, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts.
Eine Landschaft, mit langer Geschichte. Gert Heidenreich erzählt sie in dem für mich schönsten seiner Gesänge. Er handelt von einer Steinfrau am Strand von Fécamp. Das ist der Fisiacampus, das Feld des Feigenbaums, der eine Reliquie bewahrte. Wir werden erinnert an die Schlacht von Hastings, die die Angelsachsen gegen den normannischen Eroberer Wilhelm verloren, und wir sehen die Bunker des Atlantikwalls, Hinterlassenschaft der großdeutschen Wehrmacht: überall Skulpturen des Unbekannten Soldaten. Die Steinfrau wartet vergeblich auf die Wiederkehr ihres Sohnes. Die Unbekannte fordert Antwort vom Horizont.
Das ist in den Zeiten des Krieges, in denen wir leben, ein starkes Bild.
Letzte Änderung: 24.03.2023 | Erstellt am: 24.03.2023
Gert Heidenreich Das Meer
Atlantischer Gesang
Hrsg. von Richard Pils, lektoriert von Axel Ruoff
122 S., geb.
ISBN: 9783991261452
Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2022
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