Die Tür gehört mir

Die Tür gehört mir

Stefano Massinis „Die Lehman Brothers“

„Henry Lehman/ Sohn eines Viehhändlers/ schuftet wie ein Pferd/ hinter diesem Ladentisch/ verdient sein Geld zum Leben.“ So begann es. Im Laufe des Versromans von Stefano Massini wächst das Geschäft Lehmans zu einem enormen Finanzimperium heran, das 2008 eine folgenreiche Insolvenz beantragte. Rolf Schönlau hat das Epos gelesen und gehört.

Wer das Werk in der Hörfassung kennenlernt, für den ist es fraglos ein Roman. Wer dagegen zuerst das Buch in die Hand nimmt und beim Durchflippen der mehr als 800 Seiten nur Gedichtzeilen entdeckt, wird sich fragen, warum auf dem Cover „Roman“ und nicht „Epos“ steht. Abgesehen von der abschreckenden Wirkung einer überholten Gattungsbezeichnung sprechen jedoch gute Gründe dafür, das Werk als Roman zu annoncieren. Der extreme Flattersatz – von einem einzigen Wort bis zur ganzen Zeile – ist als Intonationshilfe zu verstehen, die den Leserinnen und Lesern Sinnzusammenhänge aufzeigt und an den richtigen Stellen Pausen setzt.

Dass das Werk auf einem gleichnamigen Theatertext basiert, erklärt die epische Form und den szenischen Aufbau. Grandios ist eine sketchartige Szene gleich zu Beginn, als Henry, „der Kopf“ der Lehman Brothers, in seinem Laden in Montgomery, Alabama, noch Stoffe verkauft. Die Brüder Emanuel, „der Arm“, und Mayer, genannt „Bulbe“, die Kartoffel, mit denen er ein Baumwollimperium aufbauen wird, sind noch beim Stammvater Abraham (auch sein Name ist nicht erfunden) Lehmann (noch mit Doppel-n) in Rimpar, Bayern.

Henrys Laden ist stadtbekannt, seine Baumwolle first choice. Eines Tages erscheint eine junge Dame in der Ladentür. Da die Klinke klemmt, deutet ihr Henry, diese ein wenig anzuheben. Was sie mit solchem Schwung macht, dass die Tür aus den Angeln fällt, die Scheibe zerbricht und ein Glassplitter ihre Wange verletzt. Sie bittet um ein Taschentuch, worauf Henry erwidert, er habe welche zu 2 Dollar, zu 2,50 und zu 4 Dollar. Der darauf folgende hitzige Wortwechsel gipfelt in ihrer Frage, was denn wichtiger sei, seine Tür oder ihre Wange. Henry entgegnet trocken: „Die Tür gehört mir, die Wange ihnen.“ Die junge Dame ist perplex, aber nur kurz, bevor sie einen Konter setzt, wie ihn die Marx Brothers nicht besser hätten platzieren können. Sie packt Henry an der Krawatte, wischt sich damit das Blut ab und sagt: „Die Wange gehört mir, die Krawatte ihnen.“ Dass die beiden heiraten, ist ausgemacht.

Nicht alle Kinder und Enkel der drei Brüder sind geborene Verkäufer. Aber sie werden dazu gemacht. Sigmund, Mayer Bulbes Ältester, ist ein Häschen, das Bonbons verteilt und den ganzen Tag Donuts mampft. Das Umerziehungsprogramm zum Finanz-Hai (Massini kennt seinen Brecht) könnte aus dem Handbuch Machiavelli für Manager stammen: Sigmund muss unter Aufsicht von Bruder Arthur und Cousin Philip 120 Tage lang morgens und abends vor dem Spiegel die 120 Regeln der Bankiers-Thora aufsagen: „4. Sigmund! Beleidigen ist besser als erleiden!“ oder „67. Sigmund! Selbstkritik ist Selbstsabotage!“ oder „111. Das Böse mag hässlich sein, Sigmund, aber auch nützlich.“ Der Intensivkurs wirkt und generiert einen zynischen Banker, doch nur im Wachzustand. Nachts hat er Weinkrämpfe.

Philip Lehman, Emanuels Sohn, ist „The Golden Philip“, weil er die Goldhändler ausbootete, die die ersten drei Reihen in der Synagoge innehatten. Er und mehr noch sein Sohn Bobby, „The King of Wall Street“, Kunstsammler und Pferdekenner, machen die 1850 von den drei Brüdern gegründete Bank zu dem Finanzimperium mit weltweit über 28.000 Mitarbeitern, das beim Crash von 2008 wie ein Kartenhaus in sich zusammenbricht. Das unaufhörliche Wachstum in den Bilanzzahlen spiegelt sich in den „Geschäften, die in der Bank sind“: Baumwolle, Kohle, Eisenbahnen, Kaffee, Radio, Film, Autos, Fernsehen, Warenhäuser, Versandhandel, Schifffahrt, Flugverkehr, Computer und natürlich Kriege, vom Sezessionskrieg bis Vietnam, die viel Geld einbringen, noch mehr der Wiederaufbau danach. Parallel zur Wirtschaftsgeschichte erzählt Stefano Massini in seiner Familiensaga über die Lehmans auch eine Mentalitätsgeschichte des Kapitalismus: Gewinnspiele, Ratenzahlung, Warenschwemme, Quizshows, Käuferbeeinflussung, kurz: Bedürfnisweckung statt Bedürfnisdeckung.

Arthur, Sigmunds jüngerer Bruder, Mitverfasser der Bankiers-Thora, gießt alles in mathematische Formeln – von einer sozioökonomischen Kosten-Nutzen-Analyse des Individuums (Atmung, Bewegung und Nahrung vs. Arbeit, Wahlen und Reproduktion) bis hin zum Liebestheorem L= w (I, GW), in dem die Liebe (L) als Funktion von Instinkt (I) und Größenwahn (GW) begriffen wird. Da die Angebetete, Adele Lewisohn, Musikerin ist, schlägt er seinem Onkel Philip vor, in das soeben erfundene Radio zu investieren. Der will wissen, wofür L steht. Natürlich für Lehmans, erklärt Arthur, denn das Theorem ist seiner Meinung nach verallgemeinerbar, denn jede Investition stellt auch einen Liebesbeweis dar. Selbstverständlich heiraten Arthur und Adele.

Zur Familiendynastie gehören auch Herbert Lehman, Senator von New York, und Irvine Lehman, Oberster Richter am New York Supreme Court. Und natürlich Dreidel, jiddisch für Kreisel, Henrys Ältester, schweigsam wie ein Orakel und stets in Zigarrenrauch gehüllt. Mit einer fast unmerklichen Bewegung des Kinns gibt er den Ausschlag, wenn die anderen beiden Lehmans in der Leitung der Bank nicht einer Meinung sind. Dreidel ist ein Zahlenmensch wie Arthur, doch nicht logische Formeln sind sein Metier, sondern die Arithmetik. Dreidel zählt alles, was er hört und sieht, erst Dinge, dann nur noch Wörter. Schließlich macht er Philip die Rechnung auf: Dieser habe in den Sitzungen des letzten Jahres 3654 Mal UNS DURCHSETZEN gesagt, 2978 Mal EXPANDIEREN und 2120 Mal VERHINDERN. Früher habe er KONKURRENZ gesagt, heute FEIND. Man müsse sich entscheiden, welche Wörter man in Zukunft benutzen wolle. Dann steht er auf und verschwindet aus der Bank und aus dem Romanepos.

Das Ende kommt mit den hemdsärmeligen Tradern, die mit den noblen Bankern nichts zu tun haben wollen. Dabei gilt für den Computerhandel auf weltweiten Finanzplätzen derselbe Mechanismus, den Mayer Bulbe schon in Montgomery auf den Punkt brachte: Die ganze Baumwolle aus Alabama geht in die Spinnereien des Nordens – durch das Nadelöhr der Lehman Brothers. Der Zusammenbruch der Bank auf dem Höhepunkt der amerikanischen Immobilienkrise wird nur kursorisch abgehandelt. Im Gegensatz zum Crash von 1929, der in allen Einzelheiten dargestellt wird, bis hin zur Aufzählung der Börsenmakler, die sich an dem Tag umbrachten. Damals wurden Lehman Brothers verschont, weigerten sich jedoch, anderen Banken unter die Arme zu greifen. So war auch 2008 keine Hilfe zu erwarten. Bankiers-Thora: „41. Geld hat kein Herz.“

Den theatermäßigen Schluss bildet ein Epilog, in dem alle drei Generationen der Lehmans um den großen Glastisch in der New Yorker Zentrale versammelt sind. Das Telefon klingelt. Henry, „der Kopf“, hebt ab, hört zu, legt wieder auf und sagt: „Sie ist vor einer Minute gestorben.“

Lesen, rät der Rezensent, zumal die Übersetzung aus dem italienischen Original von Annette Kopetzki nichts zu wünschen übrig lässt. Oder hören, denn Stefan Merkis Diktion machte ihm schmerzlich bewusst, wie sehr Ausdrücke wie Baruch HaSchem, Kisch kisch, Schmock oder Mazel tov in seiner Sprache fehlen.

Letzte Änderung: 30.04.2023  |  Erstellt am: 30.04.2023

Die Lehman Brothers

Stefano Massini Die Lehman Brothers

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
848 S., geb.
ISBN-13: 9783446274051
Carl Hanser Verlag, München 2022

Stefano Massini: Die Lehman Brothers, gesprochen von Stefan Merki, BonneVoice, 980 Minuten, Hörbuchverlag: München 2022.

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