Die rettende Insel

Die rettende Insel

„Nicky & Vera“ von Peter Sís
Nicky & Vera #16

Seit sich herumgesprochen hat, dass illustrierte Bücher nicht per se ins Kinderzimmer gehören, wenden sich immer mehr Zeichner ernsteren Themen der klassischen oder zeithistorischen Literatur zu. Mit „Nicky & Vera“ hat Peter Sís die Geschichte des Engländers Nicholas Winton aufgegriffen, der Hunderte von Kindern Ende der 1930er Jahre vor dem Zugriff der Nazis rettete. Walter H. Krämer empfiehlt das berührende Buch.

In „Nicky & Vera“ erzählt und illustriert Peter Sís die Geschichte des jüdischen Mädchens Vera Diamantová und des jungen Engländers Nicholas Winton, der im Dezember 1938 nach Prag fährt und Transporte für jüdische Kinder nach London organisiert. Eines dieser Kinder ist Vera.

Sieht man auf das Titelblatt von Peter Sís neustem Bilderbuch „Nicky & Vera“, so blickt man in ein helles Blau mit leichten Nuancen ins Graue, rechts und links angekommene Züge, und im Hintergrund lässt sich unschwer die Silhouette von Big Ben erkennen lässt. Darauf zu geht ein Mädchen mit einem kleinen Koffer in der rechten und einer Puppe in der linken Hand. Alles in hellen Brauntönen gemalt und – auch das ein Markenzeichen des tschechisch-amerikanischen Illustrators – bemalt mit Erinnerungen der kleinen Vera, die sie immer mit sich trägt: das Elternhaus, Papa und Mama, das Pferdchen auf der Weide, die Ente im Dorfteich, die Katze.

In einer Komposition aus filigraner Tuschzeichnung, Aquarellzeichnung, Kreidemalerei und Handschriften schafft der Illustrator einen aussagekräftigen Bilderkosmos. Dabei werden individuelle Erfahrungen und Situationen mit gesellschaftlichen verknüpft – und somit wird die wechselseitige Bedingtheit sichtbar und deutlich.

Um es gleich vorweg zu sagen: dieses Buch ist eines der schönsten und zugleich berührendsten Bücher, die ich in letzter Zeit in Händen halten durfte. Das betrifft sowohl die detailreichen Zeichnungen von Peter Sís – 1949 in Brünn geboren, lebt er seit 1982 in den USA – als auch die beiden wahren Geschichten, die der Autor miteinander in Bezug setzt und erzählt.

Da ist einmal die Geschichte von Nicky – Nicolas Winton geboren am 19. Mai 1909 in London – und die Geschichte von Vera – Vera Gissing, geboren 1928 in der Nähe von Prag.

Es ist ein Buch über Kindertransporte während des Nationalsozialismus, die Geschichte über einen stillen Helden und die Geschichte einer wundersamen Rettung. So sind denn auch die Tagebuch-Eintragungen eines der geretteten Kinder – Vera Gissing, „Pearls of Childhood“ – Teil des detailreich illustrierten Buches von Peter Sís.

Es sind schreckliche Zeiten in Europa, und Hitlers Soldaten überfallen ein Land nach dem anderen. Als Nicky 1938 einen Skiurlaub plant, erhält er den Anruf eines Freundes, der ihn bittet, nach Prag zu kommen. Dort angekommen, sieht Nicky sofort, was zu tun ist: Kinder vor dem sicheren Verderben, dem Weg in die Vernichtungslager zu retten. Er plant und organisiert, sucht Pflegefamilien in England und so gelingt es ihm, insgesamt 669 Kindern das Leben zu retten. In acht Zügen kamen sie auf die rettende Insel. Ein neunter Zug – schon voll besetzt mit Kindern – schaffte es nicht mehr.

Vera erinnert sich an eine glückliche Kindheit in ihrem kleinen Heimatort. Dort war sie die Königin der Katzen, denn sie nahm jede streunende Katze auf, die ihr über den Weg lief. Als die deutsche Armee in die Tschechoslowakei einmarschiert, wird es zu gefährlich – auch für die Kinder. Als die Eltern von Vera von diesem Engländer hören, der Kindern bei der Flucht aus dem Land hilft, um den Deutschen zu entkommen, beschließen sie, dass Vera nach England gehen sollte. Und der Tag des Abschieds naht. Von ihrem Vater erhält sie ein Tagebuch, in das sie bitte all ihre Erinnerungen aufschreiben solle – so lange, bis sie nach Hause zu ihrer Familie zurückkehren könne.

Nicky & Vera #13

Vera ist nach dem Krieg zurückgekehrt, aber ihre Familie lebte nicht mehr. In Konzentrationslagern ermordet oder an den Folgen des Krieges gestorben.

Für Peter Sís ist Nicky – Nicolas Winton – ein Vorbild und ein stiller Held: „Ich hatte immer zu berühmten Abenteurern, Forschern, Erfindern und Träumern aufgeblickt. Den zurückhaltenden, stillen Helden hatte ich jedoch nie viel Beachtung geschenkt. Winton war ein Mann, der sah, dass etwas falsch lief, und etwas tat, um es zu korrigieren, aber nie für sich in Anspruch nahm, ein Held zu sein.“

So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass Nicolas Winton fast fünfzig Jahre lang niemanden von den Kindern, die er gerettet hatte, erzählte.

Erst im Jahre 1988 treffen Vera und Nicolas in der britischen Fernsehsendung „That’s life!“ aufeinander (https://www.youtube.com/watch?v=OqqbM1B-mPY) Vera, nun eine erwachsene Frau und Nicholas, bereits ein alter Mann, lernen sich hier – knapp 50 Jahre später kennen, nachdem Nicolas Frau Grete auf dem Dachboden ihres Haues einen unscheinbaren Karton findet. Darin unzählige Dokumente, Fotos mit Namen von jüdischen Kindern, ganze Listen mit Visa Anträgen, Fluchtrouten und Transportunterlagen. Und sie beschließt, die bis dahin unbekannte Geschichte an die Öffentlichkeit zu bringen.

Das Buch ist auch deshalb lesenswert, weil es Optimismus verbreitet und zeigt, dass es manchmal nötig ist, ein stiller Held zu werden (Nicky) und es von Vorteil ist, sich gegenüber Gemeinheiten zu behaupten und vielerlei Widrigkeiten zu trotzen (Vera) weiß.

669 Kinder hätten nicht überlebt – auch Vera nicht – wäre Nicky nicht nach Prag gefahren und hätte gesehen, was getan werden musste.
 
 
 
 

https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1062303389

https://www.youtube.com/watch?v=OqqbM1B-mPY)

Nicky & Vera #26

Letzte Änderung: 20.07.2022  |  Erstellt am: 20.07.2022

Nicky & Vera

Peter Sís Nicky & Vera

Ein stiller Held des Holocaust und die Kinder, die er rettete
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
64 S., geb.
ISBN-13: 9783836961516
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2022

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Kommentare

Reina H. schreibt
Herzlichen Dank für diese Besprechung, die mein Interesse sogleich geweckt hat. Nun liegt das Buch vor mir, ich habe es soeben zum ersten Mal gelesen, die wunderbaren Bilder betrachtet und bin zutiefst bewegt. „Nicky & Vera“ ist wahrlich eine Kostbarkeit. In leicht verständlicher Sprache geschrieben für Kinder (der Verlag empfiehlt: ab 10 Jahren) mit vielen Anregungen für Gedanken und Gespräche. Zugleich aber auch ein Buch, das Erwachsene zu inspirieren und sehr zu berühren vermag. Ich werde mich sicher noch öfter darin vertiefen - es gibt vieles zu entdecken in dieser detailreichen, zauberhaften Bildererzählung. Sehr schön, hier darauf aufmerksam geworden zu sein.

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