Es gab noch keine Popmusik, aber es gab in Paris und Wien, aber eben auch in Berlin die Operette. Bis zur NS-Herrschaft sangen sich die deutschen Fans Operettenlieder zu. Der Erfolg war enorm, der Bedarf ebenfalls. 1930 kam der ungarische Komponist Paul Abraham nach Berlin. In seiner Abraham-Biografie beschreibt Klaus Waller die glamouröse Karriere des Operetten-Königs und sein bitteres Ende. Walter H. Krämer empfiehlt das Buch.
Klaus Waller beschreibt in seiner Biografie „Paul Abraham. Der tragische König der Jazz-Operette“ auf 384 Seiten den Lebensweg und das Werk des „Operettenkönigs von Berlin“. Seinen Aufstieg über Apatin über Budapest nach Berlin und seinen Abstieg von Berlin über New York nach Hamburg. Das Buch liest sich wie ein Roman und ist einmal mehr ein Beleg dafür, welche kulturellen Werte durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten zerstört wurden und dass es Anstrengung und Engagement bedarf, sich dieser Künstler*innen zu erinnern und ihren Werken wieder Bedeutung und Anerkennung zu geben.
In Ungarn geboren (2. November 1892 in Apatin) studierte Paul Abraham zunächst in Budapest Komposition. 1930 ging er nach Berlin und erlebte hier einen kometenhaften Aufstieg. Nach Aufführungszahlen und wohl auch nach Einnahmen war er der erfolgreichste Operettenkomponist Europas. Der „Kronprinz der Operette“ – Franz Lehár nannte ihn so – war zum „König“ geworden. Paul Abraham war Anfang der 30er Jahre ein Star in Europa. Jeder kannte die Melodien seiner Operetten „Viktoria und ihr Husar“, „Die Blume von Hawaii“ und „Ball im Savoy“.
Durch das Erstarken des Faschismus wurde seine Karriere jedoch jäh unterbrochen. Von den Nazis vertrieben, floh er über Ungarn und Paris nach New York, wo er am Ende – wohl auch aufgrund einer verschleppten und nicht behandelten Syphilis in eine Psychose getrieben – für 10 Jahre in der Psychiatrie landete. Freunde holten ihn 1956 nach Deutschland zurück, wo er zunächst im Universitätskrankenhaus Hamburg – Eppendorf weiter behandelt wurde. Im Jahre 1960 stirbt Paul Abraham nach einer Krebsoperation in der Hansestadt Hamburg.
Er selbst dämmerte die letzten Jahre seines Lebens dahin – seine Melodien aber sind unsterblich. Seine Stücke wurden nach dem Krieg wieder rezipiert, „auch wenn die ‚geglätteten‘ Aufführungen der Nachkriegszeit eher dem kulturellen Geschmack der vergangenen Nazizeit als dem wilden Geist der zwanziger Jahre entsprachen“, schreibt Klaus Waller.
Seit 2013 allerdings erleben seine Operetten in seiner ursprünglichen Form an deutschen Theatern ein Comeback: „Ball im Savoy“ an der Komischen Oper Berlin. 2014 Erstaufführung von „Roxy und ihr Wunderteam“ am Theater in Dortmund, „Märchen im Grand Hotel“ (2017) sowie „Dschainah – das Mädchen aus dem Tanzhaus“ (2019). Beide ebenfalls an der Komischen Oper Berlin.
Der Autor Klaus Waller hat über viele Jahre Paul Abrahams Leben und Werk detailliert erforscht und zahlreiche historische Fotografien, Urkunden, Programmhefte und Aufführungsplakate aus aller Welt zusammengetragen und war nicht wenig damit beschäftigt, hinter den mondänen Erzählungen und Legenden – die Paul Abraham zum Teil selbst unter die Leute brachte – dem wahren Leben des Komponisten auf die Spur zu kommen.
Was man heute noch vom Leben des Paul Abraham weiß, ist lückenhaft und widersprüchlich. Der Journalist Klaus Waller ist daher in seinem Buch gewissenhaft darum bemüht, Bruchstellen offenzulegen und Anekdoten auf ihren Wirklichkeitsgehalt zu überprüfen.
Abraham wurde steinreich, lud zu Champagner und Kaviar, besaß Limousinen, Butler und Chauffeur und kaufte sich in der noblen Berliner Fasanenstrasse eine schlossartige Villa. Fasanenstraße 33 – ein mehrstöckiges Haus, das er mit kostbaren Teppichen und Kunstgegenständen repräsentativ einrichten ließ. Hier wohnte und arbeitete er und empfing KünstlerInnen zur Probenarbeit. Mehrere Komponisten, die er zur Instrumentierung seiner Musik angestellt hatte, arbeiteten ebenfalls im Haus. Legendär sollen die „Gulaschpartys“ gewesen sein, die Abraham in der Fasanenstraße gab.
„Das Besondere an Paul Abrahams Operetten ist der Klang, diese Klangfarben, diese Klanggewalt, dieser Rausch, den er entwickelt, das ist natürlich der typische Klangrausch der späten Zwanziger-, frühen Dreißigerjahre in der deutschsprachigen Operette, aber mir ist niemand bekannt, von den anderen Operettenkomponisten, der solche Wucht und solchen Drive in der Musik hat.“ (Operetten-Spezialist Kevin Clar-ke)
Und natürlich gibt es Legenden, die zu schön – oder zu operettenhaft herzzerreißend – sind, um sich nicht zu verselbständigen. Dazu gehört auch der offenbar häufig kolportierte Bericht über eine Szene, die sich auf einer belebten Straße in Manhattan abgespielt haben soll. Im Frack soll Abraham dagestanden und ein imaginäres Orchester dirigiert haben:
„New York, 1946. Der von den Nationalsozialisten aus seiner Heimat vertriebene Paul Abraham steht auf einer belebten Straße und beginnt, ein imaginäres Orchester zu dirigieren. Dieses letzte “Konzert” des einst für ein paar Jahre erfolgreichsten Operettenkomponisten der Welt, des “Operettenkönigs von Berlin”, markiert das bittere Ende des vergeblichen Versuches, in der Neuen Welt Fuß zu fassen. Wenig später wird er von einem Krankenwagen abgeholt und in eine große psychiatrische Klinik gebracht, wo er mehrere Jahre bleiben sollte.“
Es sind für diese Szene keine Augenzeugenberichte zu finden, aber sie wurde über die Jahre zu einem Beleg für das tragische Schicksal Paul Abrahams und vieler seiner exilierten Leidensgenossen.“
Klaus Wallers Biografie ist detailreich und mit viel Bildmaterial ausgestattet. Klug stellt der Autor das Leben des Komponisten im historischen Kontext dar, ordnet es ein in politische Zeitumstände und nimmt sich dabei eines dunklen Kapitels der deutschen Musikgeschichte an.
Im Anhang kommen wichtige Vertreter der aktuellen Abraham-Renaissance zu Wort: Henning Hagedorn, der mit aufführungspraktisch angelegten Editionen ermöglichte, dass Abrahams Operetten in jener klanglichen Vielfalt und Freiheit der Arrangements erklingen können, die dem Komponisten vorschwebten, sowie Barrie Kosky und Adam Benzwi, die die durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten unterbrochene Musiktheater Tradition wiederbelebten und sich mit großer Leidenschaft für die Rekonstruktion und Wiederentdeckung der von den Nationalsozialisten ausgelöschten jüdischen Berliner Operettenkultur der 1920er- und 1930er-Jahre engagieren.
Letzte Änderung: 20.02.2022 | Erstellt am: 20.02.2022
KLaus Waller Paul Abraham
Der tragische König der Jazz-Operette
384 S., geb.
ISBN: 978-3-922895-44-2
starfruit publications, Fürth 2021