Der Wasserhahn tropft

Der Wasserhahn tropft

Wolfram Lotz’ „Heilige Schrift I“
Wolfram Lotz

Was es wirklich bedeutet, über die Gegenwart zu schreiben, wusste der Dramatiker Wolfram Lotz, als dieses Schreiben „von Tag zu Tag unkontrollierbarer wurde" und er das Gefühl hatte, sich von einem Monster befreien zu wollen. Also hat er die geschriebene Gegenwart gelöscht. Etwa 900 Buchseiten sind denn doch noch gerettet und unter dem Titel „Heilige Schrift I“ veröffentlicht worden. Walter H. Krämer hat sich eingelesen.

Wolfram Lotz (*1981 im Schwarzwald) wurde und ist bekannt durch Stücke und Texte wie DER GROSSE MARSCH, EINIGE NACHRICHTEN AN DAS ALL, DIE LÄCHERLICHE FINSTERNIS und DIE POLITIKER.

Seit seiner „REDE ZUM UNMÖGLICHEN THEATER“ unternimmt der Autor immer wieder Versuche, die Konventionen des Theaters zu sprengen Jetzt ist sein neustes Werk – HEILIGE SCHRIFT I – im S. Fischer Verlag erschienen. Auch dieser Text kann als Theatertext gelesen werden und einen ersten Versuch, diesen für die Bühne zu adaptieren, hat der Regisseur Falk Richter an den Münchener Kammerspielen unternommen.

Ein Jahr lang hat Wolfram Lotz sein Leben beobachtet und mitgeschrieben, jede Banalität, jeden Gedanken in Notizbüchern festgehalten, die Sätze dann in ein Dokument übertragen. So entstanden knapp 3000 Seiten, die er später löschte. Weil er aber (so berichtet es der Verlag) den Anfang des Textes per Mail an einen Freund geschickt hat, blieben 900 Seiten erhalten, die nun im S. Fischer Verlag erschienen sind.

Mit 1.050 Gramm und 910 Seiten ein wahrhaft gewichtiges Buch. Auch der Titel überrascht: HEILIGE SCHRIFT I. Doch keine Angst: Es steht nicht zu befürchten / zu erwarten, dass es – was die römische Ziffer I vermuten lässt – einen weiteren Band geben wird.

Wolfram Lotz beginnt dieses Schreiben am 8. August 2017 (im Buch enden die Eintragungen mit dem 20.12. 2017) als eine Art Lebensexperiment: „Und plötzlich dachte ich; es wäre einmal tatsächlich über ALLES zu schreiben, genau an diesem Ort, an dem für mich erstmal so wenig ist.“

In einem kleinen Dorf in Frankreich führt Wolfram Lotz eine Art Tagebuch und schreibt ein Jahr lang mit und auf, was ihm begegnet und ihm durch den Kopf geht – jeden Tag, von morgens bis nachts.
In diesem Jahr der Abgeschiedenheit, versucht Wolfram Lotz sich aus einer persönlichen Krise zu befreien und einen neuen und anderen Zugang zu seinem Schreiben zu finden. Einen anderen Zugang zur Wirklichkeit.

Es geht ihm um nichts weniger als um das Überleben zwischen den alltäglichen Dingen. Kleinste Begebenheiten, große Gedanken, Tiefsinniges und Banales – alles ist es wert, aufgeschrieben zu werden. Es ist sein Versuch, mit literarischen Mitteln, das Leben vollständig und unmittelbar zu erfassen: Es sind Mini-Dramen, Aphorismen, Wortschöpfungen, Notizen und Gedichte. Es ist Poesie, Prosa, hintersinniger Humor und mitunter auch der größte Quatsch. Es sind Anekdoten und Namen aus dem Theater- und Literaturbetrieb zwischen Rostock und Ulm. Es ist die Katze des Nachbarn, spielende Kinder, der Autor Peter Handke, Miley Cyrus, Theaterkritik, Blicke in den Himmel, Nachdenken über Literatur, das Internet.

„Peter Handke hat jetzt doch keine Lust, im Wald wandern zu gehen, weil es immer noch regnet, die ganze Zeit, das ist Peter Handke einfach zu nass.”
„Alles was man sagt, ist man selber.“
„Als ich mit den Beinen in die Hose fahre, springen die geknäulten Socken daraus hervor.“
„Ich versuche, den kleinen Aufkleber vom Apfel zu machen. Geht aber nicht, klebt zu fest.“
„Dies ist unsere letzte Schlacht und wenn wir verlieren wird dies ein Planet der Affen.“
„Voraussetzung für Realismus: Fehler machen. Das durch den Fehler sich in die Form einschleichende Wasauchimmer abhören, da plötzlich einen neun Aspekt entdecken, der stimmt., zufällig.“
„Der Wasserhahn tropft in der Küche.“

Als „Selbstgespräch am offenen Fenster” stellte Wolfram Lotz das Experiment vor, das er im Sommer nach gut 3.000 Seiten vollendete und es daraufhin sofort löschte.

Dass wir die HEILIGE SCHRIFT I nun doch – trotz der vermeintlichen Löschung – in Händen halten können, erklärt der Autor so: „Der hadernde Künstler, der überredet werden musste, sein gelöschtes Werk zu retten, was überhaupt nur geht, weil er den ersten Teil rechtzeitig an einen Freund gemailt hatte. Gelöscht habe er, weil das Projekt von Tag zu Tag unkontrollierbarer wurde und er das Gefühl hatte, sich von einem Monster befreien zu wollen.“

Schreiben ist für Wolfram Lotz Selbstzweck. Es ist seine Art, sich der Gegenwart zuzuwenden: „Schreiben, Text, Verwandlung: Die Schrift heiligt mir hier die Dinge, den profanen Lebenskram, erst dann sehe ich sie wirklich, sind / waren sie da; erst dann bin ich HIER”.

„Heilige Schrift” meint also nicht das Dokument selbst, sondern den Vorgang des Übertragens seiner Wirklichkeit in Schrift: „So entwickelt sich ja auch guter Text im Schreiben: In dem die Form vorher noch nicht gewusst ist, sondern indem einer ästhetischen Ahnung nachgegangen wird”.

Lyrische Notizen mit vielen Leerzeilen zwischen den kurzen Textblöcken. Das Zusammentragen von Wirklichkeiten wie beispielsweise Bahnstationen, Öffnungszeiten, Nachrichten, Essen, Arbeit, Reisen, Krankheit. Er fragt sich, was Worte aushalten und wie sie sich verändern, wenn man sie wiederholt und verändert.

Den Autor interessiert die Frage nach dem Schreiben, dem ganz anders schreiben und ob das überhaupt möglich ist. Die Ergebnisse dieses poetologischen Suchens teilt er uns im Text immer wieder mit.

Rollen – damit wohl auch Material für eine Inszenierung – gibt es reichlich im Buch: reale wie seine Frau und seine beiden Kinder, Freunde und Freundinnen, Kolleginnen und Kollegen. Aber auch Abspaltungen seiner selbst tauchen im Text immer wieder auf: Durs Grünbein, Hiob, Miley Cyrus, Odysseus, Heiner Müller, Annette von Droste-Hülshoff, Peter Handke und andere als Wolfram Lotz.

Privates bleibt außen vor. Niemand, der ihm nahesteht, muss sich vor seinem Schreiben fürchten. Nur seine beiden Söhne, O und E, geistern alle paar Szenen wie zwei freundliche Störenfriede durch den Autorenalltag. Über sie, beschließt er, will er schreiben, weil sie in 20 Jahren vermutlich wenig mit den Kindern gemein haben werden, die gerade fröhlich „Donald Trump” skandierend durchs Haus marschieren.

Vielleicht sind deshalb auf der Rückseite des Einbandes die Wörter Chuchu chu zu lesen – eine Hommage an das gleichnamige ChuChu Kinder TV oder sind doch eher die Luftkartoffeln damit gemeint … dieses Rätsel löse ich nicht.

Keine Zeile, so Wolfram Lotz in einem Interview, sei lektoriert, nur Tippfehler durften korrigiert werden. Das war eine seiner Bedingungen für die Veröffentlichung des Textes.

So ist und bleibt der Text ein großes Gedankenmosaik – das sich den Leser*innen im Laufe der Lektüre erschließen und sich zusammensetzen lässt – oder auch als einzelne Gedankensplitter im Gedächtnis bleiben. Eine Notwendigkeit, das Buch chronologisch zu lesen, gibt es nicht. Einfach das Buch aufschlagen und ein paar Seiten lesen. Mehr braucht es nicht – bis man es dann ein weiteres Mal zur Hand nimmt und in die Gedankenwelt des Wolfram Lotz eintaucht.
 
 
 

Wolfram Lotz, geboren 1981 in Hamburg, wuchs im Schwarzwald auf. Er studierte Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft in Konstanz und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2011 gewann er mit DER GROSSE MARSCH u.a. den Kleistförderpreis und den Publikumspreis des Berliner Stückemarktes. In der Kritikerumfrage von Theater heute wurde er zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt. Nach dem Erfolg von EINIGE NACHRICHTEN AN DAS ALL erhielt er 2012 den Dramatikerpreis des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft und 2013 den Kasseler Förderpreis für Komische Literatur. DIE LÄCHERLICHE FINSTERNIS wurde 2015 zum Berliner Theatertreffen und zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Im selben Jahr erhielt Wolfram Lotz den Nestroypreis für das Beste Stück und wurde in der Kritikerumfrage von Theater heute zum Dramatiker des Jahres gewählt.

Letzte Änderung: 04.06.2022  |  Erstellt am: 04.06.2022

Heilige Schrift I

Wolfram Lotz Heilige Schrift I

910 S., geb.
ISBN-13: 9783103971354
S. Fischer, Frankfurt am Main 2022

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