Der lebenslange Blick zurück

Der lebenslange Blick zurück

Peter Kurzecks Roman „Und wo mein Haus?"
Peter Kurzeck | © Alexander Paul Englert

Weil Peter Kurzeck sich alles einprägen, sich alles merken musste, damit es nicht verlorengeht, konnte er auch alle Details so erzählen, als flössen sie, chronologisch, multiperspektivisch und dreidimensional, aus seinem Gedächtnis heraus. Aus seinem Nachlass wurde nun das Romanfragment „Und wo mein Haus?“ veröffentlicht, das wiederum bei Harry Oberländer Erinnerungen hervorrief.

Peter Kurzeck als Maler. Im Januar und Februar 2016 waren seine Gemälde und Skizzen Gegenstand von drei Ausstellungen in Gießen, kuratiert unter anderen von Marcel Baumgartner. Ich erinnerte mich daran, als ich Peters Buch Und wo mein Haus/ Kde domuv muj aufschlug, 2022 aus dem Nachlass herausgegeben von Rudi Deuble. Schon auf der ersten Seite erzählt Peter von Gießen als einem Gemälde. Alles sieht aus , wie im letzten Moment wieder aufgestellt und von Baustellenschildern, Plakaten und einem Bretterzaun verdeckt.

„Den Himmel auch nur schnell hingepfuscht. Ein Praktikantenhimmel“. Der Praktikant, auch jüngster Lehrling genannt und gutwilliger Tölpel, der das Bretterzaungemälde nicht hinkriegt. „Alles feucht. Feucht und grau. Wellt sich so. Fängt an abzufärben – wie kann es sein, daß die Wirklichkeit, sagte ich, gleich so aufquillt und abfärbt?“ Peter Kurzeck als Erzähler.

Das Romanfragment Und wo mein Haus ist das dritte Buch aus dem Nachlaß. Kde domov muj ist die Titelzeile der tschechischen Nationalhymne, deren Text Josef Kajetán Tyl verfasste. „Ich bin aus Böhmen und habe kein Haus“ ist ein häufiger Satz bei Peter Kurzeck und die Vertreibung aus Tachau/Tachov war für ihn die Ursache seines photographischen Gedächtnisses. „Ich mußte mir all das einprägen, mußte mir alles merken, damit es nicht verlorengeht.“ Peter war weder Dorfidylliker, was sich jedem erschließt, der die Zeit für aufmerksame Lektüre aufbringt und er war schon gar kein Revanchist. Einmal, nach einer bilingualen Lesung in seinem Geburtsort Tachov, die Peter Becher (Adalbert Stifter Gesellschaft) und der örtliche Unternehmer Tomsu* organisiert hatten, machten die Zuhörinnen den Vorschlag, Peter bei der Suche nach seinem Haus zu helfen. Sie haben es nicht gefunden, weil am Ende kein Vorschlag zu seiner Erinnerung passen wollte.

Dem Nachwort des Herausgebers Rudi Deuble ist zu entnehmen, dass „Und wo mein Haus“ schon 2007 als 8. Band des Zyklus „Das alte Jahrhundert“ geplant und in vier Kapiteln schon 2010 fertig war als er seinen Roman „Vorabend“ 2010 abschloss. Das erklärt den fragmentarischen Charakter des Buches. Ein wirkliches Problem für die Lektüre entsteht dadurch nicht. Auch mit diesem Buch kann man in der Erzählkosmos Kurzecks eintreten, voraussetzungslos.

Eine Zugfahrt von Frankfurt nach Gießen und wer fährt da? „Also ich, sagte ich. Und wer mag das sein, der da von mir immerfort in dritten Person spricht. Und räuspert sich dauernd. Wie in meinem Kopf drin. Als ob man vor einem Schatten im Spiegel erschrickt? Der eigene Schatten? Dann im Frankfurt am Hauptbahnhof. Selbst ein Schatten, ein flüchtiger Schatten zwischen anderen Schatten. Vergänglich. Die Fahrkarte hat man schon. Hat den vorigen Zug verpaßt und deshalb noch Zeit. Haufen Volks. Kommt dir hier sonst auch immer alles so seltsam und trügerisch vor? Wie eilig es die Leute haben. Und sind doch nur bezahlte Statisten. Gern würdest du jemand finden, dem du sagen kannst, daß du jetzt nach Gießen fährst.“

Niemanden, lieber Peter außer Dir, würde ich gerne sagen, daß mich schon diese Bemerkungen am Anfang an die Schattenwelt gemahnt haben, die Du schon in der Anonymität des Frankfurter Hauptbahnhofs wahrgenommen hast, als Du noch auf dieser Welt – oder sagt man da: von dieser Welt – warst. Nach uns kommen jedenfalls andere, die gar nicht mehr beschreiben können wie Du, was es im Frankfurter Hauptbahnhof alles nicht mehr gibt: Die alte Buchhandlung nicht und die, die danach kam, auch nicht mehr, weder das alte Bahnhofspostamt (Treppe hoch, wie ich mich selber erinnere, und es war vergleichsweise riesig) noch die Telefonzentrale (braucht kein Mensch mehr) noch all die Läden von früher. Aber die Frau in der Milchbar, behauptest Du, sei immer dieselbe und macht die ganze Arbeit allein. Mal aus Mannheim, mal aus Pirna bei Dresden, mal aus Rijeka, aber immer dieselbe. Und mit der hast Du dann noch ein Gespräch geführt über ihre verstorbene Tante und ihren Nachbarn, der auch am Morgen tot umgefallen war. Viel Schattenreich, viel Tod schon in dieser ersten Szene. Und wie ist es jetzt da wirklich, im Schattenreich?

Vermutlich gibt es dort keinen Schreibzwang, sonst hättest Du längst angerufen. So wie Du es immer getan hast, wenn irgendein Text fertig oder beinahe fertig war, mit den Worten: diesmal hat es mich fast umgebracht.

Und nun wieder zu Ihnen, meine Damen und Herren Leser. Nach zehn Seiten Zugfahrt, die ein veritables Portrait des Landes Hessen, seiner Städte, seiner Berufspendler und seiner untergegangenen oder vielleicht sogar noch existierenden Tageszeitungen ist: „Auch wenn die ganze Familie die Zeitung gelesen hat, sah sie danach immer noch aus wie neu. Wurde sorgsam aufbewahrt. Beinah wie die Zeit selbst.“ Und wie die Zeit, dieses rätselhafte Phänomen, wird auch der Raum dargestellt, der nicht weniger rätselhafte. „Eisern die Räder rattern und ferne Lichter. Wie dunkel war es in Friedberg und hoch über dem dunklen spitzen Dächergewirr der Altstadt angestrahlt Kirche und Burgfried. Sonst alles still und so gut wie unsichtbar in der Finsternis. Versunken in Nacht und Schnee.“

Das ist poetisch. Das ist Dichtung, möchte ich sagen, lebten wir mittlerweile nicht in Zeiten, wo jeder, der fünfhundert Gramm Wörter zu zehn Zeilen brechen kann, sich einen Dichter nennt. Wir waren früher zufrieden damit, Lyriker zu heißen. Peter Kurzeck nicht. Der betrieb seine insgeheime Dichtung schon immer als Erzähler. Und kommt als solcher nun in Gießen an, auf dem Hauptbahnhof.

„Man kommt in Gießen an und nichts stimmt. Schon am Bahnhof, der meine ganze Kindheit lang schwarz war. Sogar bis in die späten Sechziger Jahre hinein. Aus der Kaiserzeit. Ein Bahnhof aus ungefügem rußig schwarzem Gestein. Mit einem Turm. Ein Turm mit vier mondgleichen Bahnhofsuhren. Und wie schwarz ernst und eindringlich dieser Turm mich immerfort ansah. Auch aus der Ferne noch. Sogar wenn ich gar nicht da, wenn ich ganz woanders bin. Sobald ich an ihn denke, spüre ich schwer seinen Blick.“ Und wird, bevor er sich nach Gießen hinein erzählt, nicht fertig mit dem Thema Eisenbahnen, Dampfloks, der Main Weser Bahn, den Streckenstillegungen, und Bahnhofsrenovierungen, kurz: mit der Deutschen Bahn, wie wir alle sie kennen. „Modern. Neu. Überall Werbetafeln, Sichtblenden, künstliche Ecken und Kanten. Zeitgemäß. Man muß mit der Zeit gehen. Sich anpassen. Laufend Bauarbeiten. Ständig viele kleine Veränderungen am und im Bahnhof und auf dem Bahngelände. Weder praktisch noch schön, aber neu. Bunt. Modern. Immer anders. Abwechslung. Fortschritt. So den Bahnhof zehn Jahre lang umgebaut. Angefressen von allen Seiten. Angefressen und schnell Heftpflaster drauf. Und jetzt soll nächstens alles radikal renoviert werden. Neudeutsch. Behördenstil. Würden auch die kirchenhohen Bogenfenster gern zumauern oder wenigstens mit Rigipsplatten und Styropor. Und auf den Sandstein dann Eternit, Blech und Plattenbauplatten. Und die Nebenlinien nach und nach abschaffen. Stille-gen. Wie nebenbei. Still und leise. In der Bahnhofshalle und auf den Bahnsteigen Automaten, Befehle, Verbotsschilder. Wie es scheint, immer weniger Spatzen. Auf den Bahnsteigen spazieren die Tauben herum, als seien sie seit Jahrzehnten fest angestellt. In kleidsamen blaugrauen Uniformen.“

Und, wie gesagt, er erzählt sich dann nach Gießen hinein. Zu den DPs, den displaced persons bei der US Army, von denen wir alle bisher noch nicht viel wußten. Und noch weiter zurück in die Zeit, als er Flüchtlingskind war und mit der Mutter nach Gießen fuhr, eine Woche vor der Währungsreform. Und zurück zur Vertreibung aus Tachau. Und erzählt so, wie und warum er Erzähler werden mußte.

„Damit ich (wir fahren!) auch weiterhin bei mir selbst und auf der Welt bleiben kann und die Welt auch bei mir. Halt dich fest. Du mußt alles festhalten! Damit nicht jedes Ding, alles was du siehst und die Namen dafür und auch deine Gedanken – damit dir das nicht unentwegt in alle Richtungen davonfliegt. Wir fahren und gleich ist mir, als ob wir schon ewig so fahren. Als ob ich nie etwas andres gekannt hätte. Immer noch auf der Flucht. Ein verlorenes Königreich. Ein versunkenes Zeitalter. Und dein Leben, dein Bündel, dein Leben als Bündel, das wirst du von jetzt an mitschleppen. In Güterzügen, Viehwaggons, hinten auf Ochsenkarren, mit Pferden, zu Fuß und auf offenen Lastwagen. Weiter zu Fuß, zu Fuß du wieder in Viehwaggons. Immer weiter. Flüchtlingslager, Baracken, Soldatenzelte, das offene Feld. Zelte vom Roten Kreuz und Lagerfeuer in Bahnhofshallen und in den Ruinen. Schlaf, Halbschlaf, Fieber. Im Fieber die Stimmen. Und immer nochmal, immer wieder von Anfang an. Jeden Tag wieder. Immer nochmal den ganzen Weg. Jetzt weißt du, das hört nie auf. Wir fahren und wenn meine Mutter etwas zu mir sagt, nur stumm den Kopf schütteln! Kann jetzt nicht! Keine Zeit! Weil ich die Welt nicht loslassen kann. Und auch nicht den Blick wenden.“
 

*Tomsu mit einem Kreis über dem s, gesprochen Tomschu

Letzte Änderung: 23.06.2023  |  Erstellt am: 09.11.2022

Und wo mein Haus? | © Alexander Paul Englert

Peter Kurzeck Und wo mein Haus?

Kde domov muj
172 S., geb.
ISBN-13: 9783895616938
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2022

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Kommentare

Carina schreibt
Superschön verfasst. Danke!
Burghard Schlicht schreibt
Lieber Harry, Deine schöne Beschreibung von Peter Kurzecks „Und wo meine Haus…“ und die Zusammenstellung der wundervollen Zitate aus dem Roman haben meine eigne Gedächtnismaschine in Gang gebracht, so dass ich noch heute rüber in die Autorenbuchhandlung rübergehe und mir das Buch kaufe. Rudi Deuble hatte uns im Stadtschreiberkurs von Bergen schon viel von dem Buch erzählt und uns den Mund wässrig gemacht. Nun will ich nicht meine gegen Peters Erinnerungen stellen, nur zwei meiner vielen Erinnerungen an den Frankfurter Hauptbahnhof vorstellen, um hoffentlich nicht nur mir selbst zu zeigen, wie gut oder vielleicht sogar wichtig das Hervorrufen versunkener Bilder sein kann. Denn eine wichtige Einrichtung des Frankfurter Hauptbahnhofs fehlt in Deiner Aufzählung, auf die ich zumindest am Rande eingehen will: Da war das AKI, das Aktualitäten-Kino. Wenn man in die Haupthalle des Bahnhofs hineinging, musste man hinten links schwarz angelaufene, ausgetretene Treppenstufen hinaufsteigen, um für fünfzig Pfennig in den finsteren Kinosaal eingelassen werden, wo Nonstop von morgens bis abends vier verschiedene Wochenschauen liefen: „AKI zeigt zuerst das neueste aus aller Welt mit Ufa-Wochenschau, Blick in die Welt, Neue Deutsche Wochenschau und Fox Tönende Wochenschau.“ Das Kino sollte den Bahnreisenden Wartezeiten verkürzen, war aber oft Wärmeraum für Obdachlose. Der Ton war brüllend laut eingestellt, wahrscheinlich weil es in diesem Nonstop-Kino ein ständiges Kommen und Gehen gab. Gefreut hat es mich, dass die „Frau aus der Milchbar“ erwähnt wurde, denn diese Milchbar war in der verrußten, dreckigen, sündigen, verrufenen, ja sogar verbrecherischen Umgebung des Bahnhofsviertels ein Tempel der Reinheit und Unschuld. In meiner Vorstellung konnte es nur eine antialkoholische, esoterische Sekte sein, die mit missionarischem Eifer saubere Milch anbot, damit man nicht im Suff versackte. Nach meiner Recherche gab es allerdings zwei „Frauen aus der Milchbar“. Die eine war möglicherweise, wie Peter es schrieb, immer dieselbe, woher auch immer sie kam, die andere aber war „Noi“ aus Thailand, das „Mädchen aus der Milchbar“. Die habe ich kenngelernt. Und die habe ich in meinem Film DER SCHÖNSTE zur weiblichen Hauptfigur gemacht, in die sich der Schönste, ein antialkoholischer Gauner, verliebt. Ein Mord geschieht, Flucht, Verfolgung, Drama und zum Schluss landen die beide glücklich in Bangkok, weil Noi so wie die reine Milch überirdische Wunder bewirkt. Peter Kurzecks Art zu sehen, sich zu erinnern und zu schreiben ist unnachahmlich. Nach der Lektüre seiner Prosa schärft sich der Blick des Lesers nicht nur für Dinge, die wie selbstverständlich mit den Augen zu erfassen sind, sondern auch für verloren gegangen Schätze aus seinem Gedächtnis, die er mit diesem neuen Blick plötzlich wieder ans Licht ziehen kann. Herzliche Grüße lieber Harry Burghard Schlicht

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