Das erste und letzte Kapitel

Das erste und letzte Kapitel

Guntram Vespers Erzählung
Guntram Vesper  | © Stefan Flöper | Wikimedia

Es ist auffällig, dass viele Landschaftsdichter aus Sachsen kommen. Die Leidenschaft für eine Region, deren Geographie, Geschichte, kurz: ihre Kultur, verbunden mit der eigenen Biographie und intensivem Erleben, scheint dem merkwürdigen Volk zwischen Torgau, Görlitz und Plauen eigentümlich zu sein. Im Nachlass des im letzten Jahr gestorbenen Schriftstellers *Guntram Vesper* fand sich eine Erzählung, die Harry Oberländer als Einführung in den Roman „Frohburg“ empfiehlt.

Guntram Vesper ist am 22. Oktober 2020 in Göttingen gestorben. Der Name seines Geburtsorts Frohburg am Rande der Leipziger Tieflandsbucht würde außerhalb Sachsens nur Wenigen etwas sagen, hätte er nicht über diesen Ort sein opus magnum geschrieben, den Roman Frohburg, mit dem er 2016 den Preis der Leipziger Buchmesse gewann. „Frohburg ist ein ungemein reichhaltiger Roman, der den Leser, auch den, der sich eigentlich für reiseunwillig hält, in seinen Bann zieht“, schrieb Otto A. Böhmer 2016 in seiner Rezension des Romans.

Am 28. Mai dieses Jahres wäre Guntram Vesper 80 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass haben Heidrun Vesper und Hendrik Liersch ein Landschaftsportrait des Frohburg-Kohrener Ländchens aus dem Nachlass herausgegeben, den Bericht über eine Autofahrt. Es ist eine bibliophile Ausgabe in Lierschs dafür renommierter Corvinus Presse in einer Auflage von 180 nummerierten und vom Buchkünstler und Verleger handsignierten Exemplaren. Guntram Vesper, der die Qualität von Städten danach zu beurteilen wusste, welche und wie viele Antiquariate sie vorzuweisen hatten, wäre über diese Publikation hocherfreut gewesen. War doch sein Lyrikdebut Fahrplan 1964 bei V.O. Stomps in der Eremitenpresse in Stierstadt erschienen. Schon auf Seite 8 dieses Buches, das der Maler und Zeichner Frank Wildenhahn illustriert hat, erzählt Vesper vom Erwerb eines seltenen Baedecker Leipzig von 1848 für schlappe 50 Euro. Der Beweis, dass antiquarische Bücher immer billiger werden, ist leider Teil des Phänomens, dass die Nachfrage nach alten gedruckten Büchern immer weiter zurückgeht.

Verglichen mit Dresden, über das Vesper anmerkt, Roland Kaiser sei dessen Ortsheiliger, habe Leipzig, das er auch unter dem sorbischen Namen Lipsk kennt, kein allzu attraktives Umland in nächster Nähe. Und so empfiehlt er dem Freund, den er dort besucht, die Autofahrt nach Kohren und Frohburg. Auf der Strecke über den Ring nach Süden, vorbei am alten Reichskammergericht führt sie über die Magistrale am Stadtrand, die Erich Honecker erbauen ließ, um Leipzig mit Karl-Marx-Stadt und Gera zu verbinden. Vesper nennt sie Hotspots der von Beria gegründeten Atombomben Wismut. Ganz en passant und entspannt erzählt er über das, was am Rand des Weges liegt, zum Beispiel über die Gartenbauausstellung Markleeberg.

„Am 4. Juli 1954, einem Sonntag, bin ich dort gewesen, auf Klassenfahrt, mit dreizehn Jahren. Halb gelangweilt, halb erschöpft vom endlosen Vorbeischlendern an den Beeten und Rabatten, trieb ich mich auf dem staubigen Platz am Eingang herum. Es muss um fünf gewesen sein, als plötzlich über mir die Lautsprecher an den Masten losdröhnten, das Endspiel aus Bern wurde übertragen, die brandgefährlichen Puschkatsch und Hiddeguddi waren am Werk gegen Fritz Walter und Max Morlock, durfte man mitzittern, konnte man seine Freude zeigen, Vorsicht war angesagt, als das Siegtor fiel, drehte ich mich weg vom Lehrer.“

Dem folgen weitere Erinnerungen, die zu einem dichten Geflecht werden, je näher er der Stadt seiner Kindheit und Jugend kommt. Die stillgelegte Brikettfabrik Neukirchen, wo nach dem Krieg der Maler Conrad Felixmüller große Ölgemälde mit einem Arbeiter je Bild malte. Der Bubendorfer Gasthof, wo sein erster Pfingstschwof stattgefunden hatte, der Bubendorfer Schacht und eine heimlich Badestelle. Der Film läuft ab, die Erinnerungen verdichten und vervielfältigen sich, bis sie Frohburg erreichen, das historische Gasthaus Grüne Aue, wo Erich Loest einmal zwei große Terrinen Flecke verzehrte, die historische Postmeilensäule von 1726, der Markt mit der Bebauung aus der Bismarckzeit, Rathaus Amtsgericht und kaiserliches Postamt. Und immer noch weiter, am verrottenden Schloss Sahlis vorbei bis Kohren und schließlich zu einem Haus, an dem der Autor im Dachgeschoss auf die Welt gekommen ist, am 28.Mai 1941.

Und so ist Jenseits der Kohle und hinter den Seen mehr als ein Reisebericht über eine Autofahrt von Leipzig nach Frohburg und Kohren, es ist eine erneute Rückkehr in die Kindheit und Jugend, zum Rätsel der Geburt. Dieses Porträt des Frohburg-Kohrener Ländchens ist ein Selbstporträt. Es kann eine Einführung in den grandiosen Roman Frohburg sein für alle, die ihn nicht gelesen haben, den Roman mit der gleichen Mosaikstruktur aus hunderten von Geschichten, Gestalten, Schauplätzen und Ereignissen. Oder ein neues letztes Kapitel für die, die ihn schon zu kennen glauben und doch noch einmal neu entdecken werden. Dieses Kapitel endet, wo sonst, in einem Antiquariat. Dort am Wühltisch vor der Tür kehrt Guntram Vesper zurück ins Hier und Heute mit einem alten rororo-Taschenbuch: Die Pest von Albert Camus.

Letzte Änderung: 19.07.2021

Jenseits der Kohle hinter den Seen | © Stefan Flöper | Wikimedia

Guntram Vesper Jenseits der Kohle hinter den Seen

Das Frohburg-Kohrener Ländchen
Erstdruck aus dem Nachlass
mit Grafiken von Frank Wildenhahn
Japanische Bindung, 36 Seiten
Corvinus Presse, Schöneiche b. Berlin 2021

Homepage des Verlages

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