Aufruhr in Sim-City

Aufruhr in Sim-City

Samuel Hamens „Wie die Fliegen“
Künstlicher Mensch

Die Rache der Romantiker am mechanistischen Menschenbild der barocken Aufklärung war, denkt man an E.T.A. Hoffmanns Olimpia und deren literarische Verwandte, süß, aber nicht vernichtend. Künstliche Menschen sind bis heute begehrte Gegenstände der Science-Fiction-Literatur bis hin zur Angstlust angesichts der sogenannten Künstlichen Intelligenz. Rolf Schönlau ist auf Samuel Hamens „Wie die Fliegen“ gestoßen, eine Art Cover-Version von „Morels Erfindung“ von Adolfo Bioy Casares.

Der Zufall wollte, dass der Rezensent den bereits 1940 veröffentlichten Roman Morels Erfindung von Adolfo Bioy Casares unmittelbar vor der Lektüre von Wie die Fliegen zum ersten Mal gelesen hatte. Samuel Hamens Roman von 2023 verbindet mehr als eine inhaltliche Verwandtschaft mit dem über 80 Jahre älteren Werk. Es handelt sich um eine Art Update, womit nicht gemeint sein soll, dass der luxemburgische Autor und Literaturkritiker Hamen ein Epigone des 1999 verstorbenen Argentiniers ist.

In beiden Büchern geht es um Simulationen: Bei Bioy Casares hat der Wissenschaftler Morel eine Technik erfunden, die es ihm erlaubt, den Alltag von einigen Freunden, die im Sommer eine Woche auf einer abgelegenen Insel verbracht haben, aufzuzeichnen und tagtäglich neu abzuspielen. Die Simulation ist perfekt, umfasst alle Sinne und unterscheidet sich von der wirklichen Welt nur dadurch, dass der Erzähler und Entdecker der Maschinerie mit den dargestellten Personen so wenig in Kontakt treten kann wie mit Hologrammen.

In Hamens Roman wird Farr, Agent einer Sicherheitsbehörde, euphemistisch „Akademie“ genannt, in eine abgeschottete Stadt geschickt, um das Verschwinden eines Teenagers aufzuklären und die Aktivitäten eventuell vorhandener Widerstandszellen samt ihrer sozialen Codes ausfindig zu machen. In den tagebuchartigen Aufzeichnungen des Agenten, der als Ich-Erzähler fungiert, wird die namenlose Stadt beschrieben, in deren Zentrum das I.L.E. steht, offiziell das Kürzel für ein Kraftwerk, in eilig übertünchten Graffitis als „Ideologie, Lüge, Error“ ausbuchstabiert.

Die Auffälligkeiten beginnen damit, dass der Agent die identischen Flugbahnen von Fliegen bemerkt. Der Titel Wie die Fliegen – mit der unwillkürlichen Ergänzung „sterben massenweise“ – steht auch für die sogenannte Dezimierung der Tiere, die sich, wie auf eine Absprache hin, dem kleinen verbleibenden Leben verweigert hätten, heißt es in den Aufzeichnungen. Um die Angststarre in der Stadt zu beschreiben, fährt Farr eine Reihe von hippen Begriffsschöpfungen auf, wie kuratiertes Leben, designte Emotionen, Spots mit Erinnerungstriggern, Reden in Loops und Schleifen, imaginäre Zurichtungen oder verspulte Zustände.

Während seines Rechercheaufenthalts liest der Agent einen 1890 von einem gewissen Cahill veröffentlichten Essay über eine unbekannte Materie, die 1878 auf einem schwer zugänglichen Hochplateau gefunden worden sein soll. Die Substanz hatte einen starken physischen und psychischen Einfluss auf alle Expeditionsteilnehmer, von denen zwei weitere namentlich genannt werden, Lowry und Loew. Wenn mit Cahill auf die amerikanische Taucherlegende James F. Cahill angespielt wird, mit Lowry auf den Autor von Unter dem Vulkan und mit Loew auf den namensgleichen Rabbi und damit auf den Golem, schreibt Hamen seiner Dystopie eine illustre Ahnentafel zu.

Um den Plot zu verraten: Bei der Materie handelt es sich um die Abdaten – eine Analogiebildung zu Abwärme –, die seit der Erfindung des Telegrafen angefallen sind. Die folgenden Informationstechnologien von Telefon, Radio und Fernsehen bis hin zu Internet und Serverfarmen haben das Volumen der verstofflichten Daten immens vergrößert, die – und das ist der Clou – dank ihrer Formvollendungsvielfalt das Potential zur virtuellen Performance haben. Das I.L.E beutet diese Eigenschaft industriell aus, um bio-semiotische Doubletten zu generieren, Abdaten-Avatare, mit denen die Landschaft nach der Dezimierung der Tierwelt neu bestückt wurde. Dass alle Fliegen dieselbe Flugbahn haben, was den Agenten auf die Sprünge half, ist schlicht auf einen Programmierfehler zurückzuführen.

Es versteht sich, dass das I.L.E. in dem ungenannten Land, das von der Zweiten Hauptstadt regiert wird, eine Hochsicherheitszone ist. Auch, dass sich Widerstand gegen die manipulative Semiose regt, verwundert nicht. Die Untergrundgruppe der Steckermenschen inszeniert einen Aufstand, um der Industrie die Kontrolle über die Abdaten zu entreißen. Der Soundtrack zur Revolte, vorgestellt im Jargon des aktuellen Pop-Diskurses, kommt von der Musik- und Performancekünstlerin Envir, die mit ihrem Future Glam Identifikationsfigur der Szene ist. Ihre Lyrics und Clips kursieren als geheime Botschaften. Statt Smileys werden Quaggas (nach dem 1883 ausgestorbenen Zebra-Pferd) verschickt. T-Shirts mit drei (Stecker)-Löchern an der Seite sowie die weit verbreitete Gänsehaut-Droge Cheevl komplettieren die Elemente einer Jugendrevolte, irgendwann im späten 21. Jahrhundert.

Wie die Fliegen ist ein Science-Fiction mit Öko-Einschlag, garniert mit einer Lovestory zwischen dem Agenten und einer Aktivistin. Wenn Farr am Ende in die Zweite Hauptstadt zurückkehrt, durchschaut er die polyesterhafte Behaglichkeit, wie Hamen die Lebensweise nicht nur in Sim-City, sondern auch bei uns, auf den Punkt bringt.

Letzte Änderung: 24.07.2023  |  Erstellt am: 24.07.2023

Morels Erfindung

Adolfo Bioy Casares Morels Erfindung

154 S., geb.
ISBN-13: 9783518414262
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003

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Wie die Fliegen

Samuel Hamen Wie die Fliegen

200 S., brosch.
ISBN-13: 9783035806182
Diaphanes Verlag, Zürich 2023

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