Anlässlich der Gedenkfeier für Harry Oberländer im Mousonturm am 22.11.2024 veröffentlichen wir den nachfolgenden Beitrag: Nachrufe auf Harry gab es viele, daher liegt es mir fern, Harry noch etwas nach-zurufen. Eher möchte ich ihn an diesem Abend noch einmal wach-rufen, indem ich einige seiner unveröffentlichten Texte vorlese. Der heutige Abend gehört allein ihm, ein Galaabend also, ihm zu Ehren. Stellen wir uns vor, er sei wesentlich unter uns, dann stünde er wohl irgendwo im Hintergrund, mild lächelnd, ein Zigarillo in der rechten, ein Glas Trollinger in der linken Hand. Prost Harry! Auf Dich! Er würde es genießen. Mit Sicherheit trüge er Anzug, Schlips und Kragen, seinen Hut legte er heute Abend ab. Er fehlt, mehr als wir es womöglich einzuschätzen vermögen. So viele Jahre hat er in diesem Raum gewaltet und Literatur verwaltet, zusammen mit Paulus und Werner und Björn. Recht eigentlich jedoch war Harry weder ein Ver- noch ein -walter, er war vor allem ein leidenschaftlicher Dichter und Mensch, manchmal sogar ein Sonett aus Fleisch und Blut. Ach, Harry…
Drei Gedichtbände hat Harry hinterlassen, aber auch Gedichte und Texte, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblickten, davon schickte er mir über die Jahre einige. Nachdem ich erfahren hatte, daß Harry plötzlich verstorben ist, habe ich nach langen Jahren meine Tränenkiste geöffnet und fand einen Schatz aus Briefen, Gedichten und Texten von Harry. Wie reich er uns beschenkt hat. Einige Gedichte und Textstellen habe ich ausgewählt, um Harry heute Abend noch einmal zu uns sprechen zu lassen. Am 11.01.1994 schrieb Harry mir einen sehr kurzen Brief aus Holzhausen: „… wieder im Wald. Es ist ein schrecklich Chaos hier, das ich versuche zu ordnen, innerlich und äußerlich. Man muß sich schütteln wie ein nasser Hund und weitergehen. Weitergehen ist überhaupt das Wichtigste. Mir ist ganz schwarz. Ich schicke Dir ein paar Gedichte, im Grunde steht alles drin, was zu erzählen ich gar keinen Atem habe.“
Im Vorübergehen
Wie Adlerfänge stehn kalt die Bäume, herzgerade ums Haus,
vergittern den Winterhimmel und schwärzen die Träume dir ein.
Verborgen im entferntesten Mond, in der pessimistischen Sonne,
schweigt Licht. Einen Verbrecher führt die Dämmerung ab,
die Hoffnung in Handschellen vor – zum Geständnis. Betrogen
hat dich der Blick ins erleuchtete Zimmer. Der Stuhl bleibt leer,
das wertvolle Buch ungelesen, die glatten Wände bildlos und stumm.
Über die Ebenen fliegt dir voran der blinde Mantel des Windes, die
leeren Taschen füllt Armut, darin kleidet sich der Wille zu nichts.
VI
Du, glaub nicht, daß ich weine oder
unruhiger schlafe. Lauter jüngste Tage
stehen auf und vergehen flüchtig wie Wasser.
Du, glaub nicht, daß ich lache, dazu
sind tragische Troubadours nicht gemacht,
die Ambulatorien zu voll mit erlogenem Unglück.
Du, glaub nicht, daß ich warte. Ich wende mich um,
zu suchen das kalte Sandkorn unter der Zunge,
das Löwenherz unter dem Mantel des Lamms.
So komm oder geh oder kehr nicht wieder.
Komm wieder, geh, oder bleib wo du stirbst.
Exodus
Meine Angst, zum engen Bündel geschnürt trug ich einst
zur Aufbewahrung in eine Nacht, die hatte keinen Mond.
Meine Angst, gegossen in eine Urne aus Glas, warf ich einst
von der Brücke bei Ohrid in eine Flut, die spiegelte keine Sterne.
Meine Angst, verwahrt in einer dreifach versiegelten Lade,
übergab ich dem lichtlosen Neujahr, das mich verschluckte
und ausspie: Skarabäus, den schwarzen Käfer aus Pharaos Traum.
Nun stehe ich wieder zwischen Wüste und Schilf und fürchte Alles
und Nichts. Siehe: Gleich teilen die Wasser sich vor unserem Schritt.
IV
Schau wie die Wolken vergehen in einem
marineblauen Fernweh. Luftmatrosen,
Segel gesetzt, sammeln sich schwärmend
zum Südflug. So geht der Sommer vorüber,
kühl und voll Klarheit. Jenseits des Meers
tragen die Engel schöne Gesichter bei Land.
Die aber, die ich liebte, kennt mich nicht mehr.
Steht an kreidebleicher Küste, löscht mit dem Atem
Feuer und Flamme, daß mir bei Nacht nichts bleibe als
ein Phantom im Zenit, ein irrendes Windlicht aus Orient.
Rosh Chodesh
Kam trostlos zur Mauer, zu klagen kam ich
und warf meine müde gewanderten Schatten
achtlos ans Licht. Hilf mir Atem, mein Laut:
Fremd bin ich erwacht und such deine Spur
am Sinai, fand kein Asyl, fand Jerusalem nicht.
Auf Wüsten breitet die Nacht ihre Kälte, sprengt
zu Staub den Stein aus dem sternschwarzen All.
Hier noch ein Auszug aus einem Brief vom 02.02.1994, der Harrys Wesen in seiner Zerrissenheit zu verdeutlichen hilft:
„…aber ich bin zur Zeit langsam wie ein Murmeltier, irgendwie im Winterschlaf. Ich meine, Schlaf ist nett gesagt, nachts kann ich nicht einschlafen und morgens wache ich nicht auf, schaffe es leider aber auch nicht, eine Nacht durchzuschreiben, zu lesen, eine Schaltnacht einzulegen, ach wie greuslich, wie idiotisch, wie lästig. (…)
bq. Tatsächlich kann ich vermutlich deshalb keine erzählende Prosa schreiben oder muß es mühsam lernen, weil ich einen völlig verknoteten Kopf habe und noch dazu eine Zensurinstanz, die mir verbietet, die Verworrenheit verworren auszudrücken. Trotzdem kriege ich allmählich wenigstens eine Kurzgeschichte fertig, vorausgesetzt, es gelingt mir, heute nochmal dran zu gehen.“
Aber Harry war nicht nur melancholisch und dunkel, zu unser aller Glück war er ebenso mit Humor begabt – was haben wir zusammen gelacht!
Eine Weihnachtsgrußkarte mit dem Abbild eines Viermasters auf hoher See lautet so:
„Liebe Ulrike,
und wäre ich nicht ich,
ein plumper Flegel,
dann wär ich gern ein Schiff
mit vollem Segel.
Ich führ nach Afrik- und Amerika
und fände Wind und Wolken wunderbar.“
Wer weiß, vielleicht hat Harrys Wunsch sich inzwischen erfüllt, und er ist ein Schiff mit vollem Segel, auf einer Reise von Nirgend- nach Irgendwo! Dann sei ihm immer eine handbreit Wasser unterm Kiel gewünscht.
Ein letztes Gedicht fügt sich nun, wie dafür gedacht, zum Ende an:
Schlingpflanze
Koralle, Fluch, ein Traum in irren Schrei zerbirst.
Sticht schwer ein Schmerz ins Fleisch zum Herzerbluten.
Fällt schrill dein Wort mich an auf meiner Seele First.
Kehr aus ich, Reisig blau, Land unter Abendfluten.
Seh trunkene Nacht. Kein Gott, mein Mond war krank
bei dem Geborenwerden, Bitternis mein Glück. Färb tiefseerot
aus Lügen lauter Lippen: Die Küsse alle sind der Liebe Tod.
Hab(t) nun Dank. Leb(t) wohl und schau(t) nie mehr zurück. (Plural von mir)
Ahoi, Harry und allzeit gute Fahrt!
Letzte Änderung: 06.12.2024 | Erstellt am: 06.12.2024
Kommentare
Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.