In Anwesenheit des italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella wurde im Gran Teatro La Fenice in Venedig die neue Saison mit Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ in einer schillernden Inszenierung des venezianischen Regisseurs Damiano Michieletto, Star des italienischen Regietheaters, eröffnet. Stefana Sabin war bei der Premiere in Venedig dabei.
Seit 1994 wurde Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen nicht mehr in Venedig aufgeführt. Nun eröffnet das Gran Teatro La Fenice die neue Saison mit einer neuen Produktion dieser Oper, die gewissermaßen eine venezianische Oper ist, denn die barcarole, das Duett für Sopran und Mezzosopran aus dem dritten Akt, ist, so das Grove Book of Operas „eine der beliebtesten Melodien der Welt“. Die Saisoneröffnung in der Fenice war bis zuletzt gefährdet: nachdem der Turiner Dirigent Antonello Manacorda kurzfristig absagt hatte und Frédéric Chaslin, der gerade vor wenigen Monaten an der Mailänder Scala diese Oper dirigiert hat, eingesprungen war, drohte eine nationale Streikwelle auch das Opernhaus zu erreichen. Aber als der Präsident Sergio Mattarella seine Präsenz ankündigte, wurde der Streik abgesagt, und die Premiere fand vor einem erlauchten Publikum aus Abonnenten und lokalen Honoratioren statt.
Offenbachs Les contes d’Hoffmann – Hoffmanns Erzählungen ist eine der meistgespielten Opern des klassischen Repertoires, und sie gehört zu jenen Meisterwerken, die unvollendet geblieben sind. Schon die Uraufführung fand 1881, nach Offenbachs Tod, statt, und die Partitur dafür wurde im Auftrag der Pariser Opéra Comique von dem Komponisten Ernest Guiraud erstellt. Bis heute gibt es mehrere Fassungen, aber keine endgültige, von Offenbach autorisierte Partitur. Meistens wird die Ausgabe des Mainzer Schott-Verlags, eine Kollation der von Jean-Christophe Keck betreuten Pariser Offenbach-Bestände und der von Michael Kaye betreuten Quellen aus der Pierpont Morgan Library benutzt, die den Regisseuren viel Gestaltungsfreiheit läßt.
Die Oper beginnt mit einer kurzen einleitenden Musik, deren Thematik sich in der ganzen Oper nicht wiederholt, und mündet direkt in den Prolog, der in einem Wirtshaus spielt. Da unterhält Hoffmann seine Trinkgenossen mit Erzählungen über seine unglücklichen Liebschaften. Und da erscheint die Muse und kündigt dem Publikum an, Hoffmann zur Dichtung zurückzuführen. Auf den Prolog folgen die drei Akte, also die drei Erzählungen Hoffmanns: über seine Liebe zu Olympia, der mechanischen Puppe; über die Liebe zu Antonia, der todgeweihten Sängerin; und über die Liebe zu Giulietta, der verlogenen Kurtisane. Paris, München, Venedig sind die jeweiligen Schauplätze der drei Erzählungen. Den Schluß der Oper bildet der Epilog, der an den Prolog anschließt und wieder im Wirtshaus spielt. Da besinnt sich Hoffmann auf die Dichtung, so dass diese Muse siegt.
Für das Libretto griff Jules Barbier auf sein eigenes Stück zurück, in dem er mehrere Erzählungen von E.T.A.Hoffmann bearbeitete, jeweils Der Sandmann, Rat Krespel und Die Abendteuer der Sylvester-Nacht – machte den Erzähler zur Titel- und Hauptfigur. Hoffmanns Erzählungen gehören der phantastischen Literatur an; nicht zufällig ist die Gattungsbezeichnung der Oper als „opéra fantastique“ angegeben. Die Erzählebenen greifen ineinander über, während Hoffmann zwischen Erinnerung und Traum taumelt.
In der Inszenierung von Damian Michieletto ist Hoffmann weniger der zweifelnde Held auf der Suche nach sich selbst, als vielmehr ein Realitätsflüchtling, der ins Surreale driftet und schließlich zur Kunst findet. Michieletto verzichtet auf dunkle und psychologisierende Anspielungen und konzentriert sich auf die phantastischen Elemente in den Erzählungen, die er ironisch durchbricht. „Ich habe mir Hoffmanns Erzählungen als Zeitreise vorgestellt“, sagte er in einem Pressegespräch, „als Überblick über die verschiedenen Stationen im Leben des Protagonisten: der Knabe, der Jüngling, der Mann.“
Michielettos Zeitreise beginnt, wie im Libretto vorgesehen, in der Kneipe, wo Hoffmann als ein trauriger Penner, der zwischen Trunkenheit und Nostalgie schwebt, von seinen unglücklichen Liebschaften erzählt. Die erste Erzählung – die Olympia-Episode – ist eine Schulerinnerung: Hoffmann als Schüler in kurzen Hosen, die Puppe Olympia mit Schleife im Haar, eine Unterrichtsstunde, während der Zahlen und mathematische Symbole zuerst von einer Wandtafeln ab- und dann von oben zu Boden fallen. Das Surreale geht in die nostalgische Erinnerung an die frühe Liebe über.
Auch die Antonia-Episode findet in einer Schule statt, allerdings in einer Ballettschule. Michielettos Antonia ist nicht Sängerin, sondern Ballerina. Der Tragik der Handlung – eine Tänzerin, die nicht tanzen darf – verleiht Michieletto eine geradezu operettenhafte Dimension, wenn er einen karikaturhaften ‚maître de ballet’ mit seinen charmant verspielten Ballettschülerinnen auftreten läßt und so Humor mit Pathos kontrastiert. Hier ist Hoffmann ein jugendlicher Schwärmer, der in die Vorstellung von Liebe mehr verliebt zu sein scheint als in die geliebte Frau.
Die Giulietta-Episode schliesslich spielt in einem eleganten Nachtclub, wo der erwachsene Hoffmann von seiner Geliebten wieder getäuscht wird und einem ‚dottore della peste‘ überlassen wird – die Maske mit dem langen Schnabel ist der deutliche Hinweis auf Venedig, den Ort der Handlung in dieser Episode. Der Epilog spielt wieder in der Kneipe, wo nun alle Figuren, die Geister und die Geliebten und der Teufel, der an allem Unglück schuld ist, zusammenkommen.
Die Inszenierung wechselt zwischen Ironie und Nostalgie, zwischen dem Grotesken und dem Surrealen und hält nicht zuletzt dank einer geschickten Personenführung die Spannung durch. Das raffinierte Bühnenbild von Paolo Fantin und die suggestiv-exzentrischen Kostüme von Carla Teti tragen zum Gelingen der Inszenierung ebenso bei wie die Choreographie von Chiara Vecchi.
Als Hoffmann debütiert der peruanische Tenor Ivan Ayon Rivas, der die von der Regie vorgesehene Entwicklung der Figur stimmlich und schauspielerisch beeindruckend wiedergibt. Die spanische Sopranistin Rocío Pérez brilliert als Olympia mit einem leichten und virtuosen Sopran, und die italienische Sopranistin Carmela Remigio ist eine noch in den feinsten Tönen berührende Antonia. Dagegen ist die französische Sopranistin Véronique Gens als Giulietta fast eine Fehlbesetzung, denn ihre stattliche Figur und kraftvolle Stimme verfehlen die Sinnlichkeit und Geschmeidigkeit der Verführerin.
Am Pult des Orchesters des Teatro La Fenice gibt Frédéric Chaslin eine routinierte Vorstellung. Schon 1994 hatte er hier die Premiere von Hoffmanns Erzählungen dirigiert und seitdem sechsunddreißig verschiedene Produktionen dieser Oper an verschiedenen Theatern geleitet und diese venezianische Premiere ist sein 732. Dirigat dieser Oper! Dass dabei die gestalterische Fantasie etwas verloren gegangen ist, ist bedauerlich, aber verständlich. Dennoch war der Endapplaus, angeführt vom Staatspräsidenten Mattarella in der Hauptloge, energisch und anhaltend und belohnte Sänger, Chor und die ganze Regiemannschaft.
Letzte Änderung: 05.12.2023 | Erstellt am: 05.12.2023
Kommentare
Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.