Zurück in die Zukunft

Zurück in die Zukunft

OPERNKRITIK
Frankfurter Erstaufführung, v.l.n.r. Anna Gabler (Vérité), Domen Križaj (Guercœur) und Bianca Andrew (Bonté)  | © Barbara Aumüller

Die unbekannte Oper Guercœur des unbekannten französischen Komponisten Albéric Magnard erlebte an der Oper Frankfurt ihre Premiere vor einem begeisterten Publikum. Stefana Sabin war dabei.

Zu den Merkmalen der Oper Frankfurt, 2024 zum wiederholten Mal zur ‚Oper des Jahres‘ gekürt, gehört auch das Neu- oder Wiederentdecken vergessener oder unbekannter Stücke. So ist auch die jetzige Premiere, die Oper Guercoeur des französischen Komponisten Albéric Magnard eine Neuentdeckung.

Magnard, 1865 in Paris geboren und 1914 in Baron gestorben, hatte Sinfonien, Kammermusik und Opern geschrieben, die er immer wieder auf eigene Kosten drucken und aufführen ließ, denn der Erfolg blieb ihm zu Lebzeiten versagt. Seine zweite Oper, Guercœur, entstand zwischen 1897 und 1901 und kam lange nicht zur szenischen Aufführung. Teile der Partitur wurden zerstört, als zu Beginn des Ersten Weltkriegs deutsche Soldaten in das Dorf Baron eindrangen und das Anwesen, wo sich Magnard aufhielt, in Brand setzten. Dabei gingen viele Manuskripte im Feuer unter, der Komponist selbst starb.

Erst 1931 rekonstruierte der Komponist und Dirigent Guy Ropartz, der schon 1908 den ersten Akt von Guercœur aufgeführt hatte, teils aus dem Gedächtnis, teils aus dem Klavierauszug und teils aus erhaltenen Partituren die verlorenen Akte und führte die ganze Oper erstmals 1931 im Palais Garnier in Paris auf. Nach 11 Vorstellungen geriet die Oper in Vergessenheit und wurde erst 2019 am Theater Osnabrück wiederentdeckt, wo Dirk Schmeding Regie führte und Daniel Inbal das Orchester dirigierte ̶ und nicht nur das Osnabrücker Publikum, sondern auch die Kritik von der musikalischen Entdeckung überrascht und begeistert waren. Vielleicht deshalb dauerte es dann nur fünf Jahre bis zu der Produktion der Opéra National du Rhin in Straßburg, wo Christof Loy Regie führte und Ingo Metzmacher dirigierte.

Premiere Oper Frankfurt, AJ Glueckert (Heurtal; rechts Hände schüttelnd, mit Bart) und Chor der Oper Frankfurt) | © Foto: Barbara Aumüller
Trotz dieser Aufführungen blieben Magnard und seine Oper auch in Musikerkreisen bis heute so unbekannt, dass Marie Jacquot, erste Gastdirigentin der Wiener Symphoniker und Chefdirigentin der Königlichen Dänischen Oper Kopenhagen, zugeben musste, den Komponisten Albéric Magnard und seine Oper Guercoeur nicht gekannt zu haben, als sie für die Frankfurter Aufführung engagiert worden sei. Und auch der Regisseur David Hermann, 2023 mit dem Deutschen Theaterpreis ausgezeichnet, freute sich über ein Stück, das „nicht durchinterpretiert“ sei.

Die Oper trägt als Gattungsbezeichnung „tragédie en musique“ und kombiniert Oper mit Oratorium und geistlichem Spiel: eine fantastische Handlung im ersten und dritten Akt, wo allegorische Figuren das Geschehen bestimmen, und eine realistische Handlung im zweiten Akt, wo es ganz irdisch um Liebe, Macht und Verrat geht.

Es ist allein Guercœur, der Edelritter und Freiheitskämpfer, der zwischen den beiden Dimensionen, Jenseits und Diesseits, reisen darf. Denn er fleht die vier Gottheiten ̶ Verité, Bonté, Beauté und Souffrance, also Wahrheit, Güte, Schönheit und Leiden ̶ an, ihn aus dem Jenseits heraus und zu seiner früheren Geliebten auf die Erde zurück zu lassen. Nach einigem Hin und Her geben sie ihm nach, und Guercœur darf auf die Erde zurück in die Zukunft. Auf der Erde wird er gemäß dem Sprichwort „Schlimmer als unerfüllte Wünsche sind die erfüllten“ arg enttäuscht: die Geliebte hat inzwischen einen anderen und das Volk läuft dem Tyrannen Heurtal hinterher. Ernüchtert stellt sich Guercœur dem Tyrannen in den Weg und wird vom aufgebrachten Volk zu Tode geknüppelt.

Im Jenseits wieder aufgenommen, bittet er die Gottheiten um Vergebung für seinen Hochmut. Vérité schickt Souffrance zur Erde, um dort an Guercœurs Grundsätze zu erinnern, und sagt eine Zukunft in Freiheit voraus. Guercœur kann noch das Wort espoir, Hoffnung, aussprechen, bevor ihn die Gottheiten in den Schlaf des Vergessens versetzen.

Der Regisseur David Hermann zeigt das Jenseits als friedlich und das Diesseits als krawallig. Er inszeniert den Volksaufstand im zweiten Akt als Massenschlägerei, bei der der Sitzungssaal völlig in sich zusammenfällt ̶ ein Zerbrechen der Demokratie? Hermann hat dem Aktualisierungszwang widerstanden und begnügt sich mit unaufdringlichen Anspielungen auf die politische Dimension des Stoffes: der Saal, in dem der Volksaufstand stattfindet, zitiert den Saal des UN-Sicherheitsrats und die modernistische Villa, die nur wenige Requisiten vom Jenseits zum Diesseits verändern, erinnert an den Kanzlerbungalow der Bonner Republik, Henry Moore-Skulptur inklusive (Bühnenbild Jo Schramm).

Dagegen ist das Libretto, das Magnard selbst verfasst hatte, deutlich humanistisch, manchmal geradezu pathetisch in der religiös-philosophischen Diktion. Nicht zufällig wurde diese Oper als „Erlösungsoper“ bezeichnet, erinnert die Leitmotivik vor allem in den Jenseits-Akten an Wagners Parsifal. Aber Magnard nutzte auch modale Wendungen à la Gabriel Fauré und Choräle à la César Franck und schuf eine eigenständige musikalische Sprache, die in den Orchesterzwischenspielen besonders deutlich wird.

Das Opern- und Museumsorchester spielte unter der Führung von Marie Jaquot in gewohnt herausragender Manier und wechselte zwischen dramatischer Robustheit und lyrischer Schlankheit. Und auch die Solisten sorgten für einen besonderen musikalischen Abend. Als Guercœurs Geliebte brillierte Claudia Mahnke. AJ Glueckert als Heurtal und Domen Križaj als Guercœur gaben stimmlich und schauspielerisch mächtige Bühnenfiguren, und Anna Gabler als Verité verlieh den pathetisch-optimistischen Arien eine überzeugende Melancholie.

Am Ende gab es, wie oft in Frankfurt, kraftvollen Schlussapplaus ̶ ob aus Hoffnung oder eher aus Erkenntnis der problematischen Gegenwart, bleibt offen.

Letzte Änderung: 05.02.2025  |  Erstellt am: 05.02.2025

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