Eines der wenigen noch wirksamen Tabus ist der nackte Mensch. Wie die nackte Wahrheit ist er uns zumeist peinlich. Das Theater und seltener das Tanztheater haben für die Angstlust gern mit dieser Nacktheit provoziert. Die Wiener Choreografin Florentina Holzinger ist indessen, auf die Körper konzentriert, ungleich radikaler. Thomas Rothschild beschreibt ihre Kunst.
Sie tanzte mehr als einen Sommer
Das Burgtheater kündigt für die kommende Spielzeit an: „Der Untergang des Hauses Usher nach Motiven von Edgar Allen Poe“, „Die Schwerkraft der Verhältnisse nach dem Roman von Marianne Fritz“, „Die Ärztin. Robert Icke sehr frei nach Professor Bernhardi von Arthur Schnitzler“, „Komplizen (vormals Kinder der Sonne). Simon Stone nach Kinder der Sonne und Feinde von Maxim Gorki“. Das Burgtheater dient hier nur als Exempel. Ähnlich sieht es fast überall in der deutschsprachigen Theaterlandschaft aus. Es lässt sich nicht verheimlichen: das Theater hat das Vertrauen verloren in das, was über Jahrtausende zu ihm gehörte wie der Senf zu den Würstchen und das Amen zum Gebet: das Drama und sein Autor. Wer den leisen Verdacht hegt, „Professor Bernhardi“ oder „Kinder der Sonne“ könnten, wie ihre Verfasser sie schrieben, immer noch ambitionierten Inszenierungen als Vorlage dienen, gilt, wie Schnitzler zu seiner Zeit, als nicht satisfaktionsfähig. Und weil man die kostspieligen Theaterapparate nicht einfach verrotten lassen möchte, sucht man verzweifelt nach den Rettern, die das Heil bringen sollen. Alle paar Monate wird ein neuer Messias oder eine Messiasin ausgerufen, und dem Chor der Jubelnden entzieht sich nur, wer das Risiko der Stigmatisierung als hoffnungslos veraltet und reaktionär auf sich zu nehmen bereit ist.
Zu den jüngsten Botschaftern des Zeitgemäßen gehört, in Konkurrenz zu den Digitalisierungspropheten und den Überschreibungsdilettanten, Florentina Holzinger. Seit ein paar Influencer ihr Lob angestimmt haben, kreist sie wie ein Komet im Theateruniversum, gefeiert und angebetet, wo sie ihre Strahlen hinfallen lässt. Ihr Stück mit dem koketten Understatement-Titel „Tanz“ ist seit seiner Uraufführung im Herbst 2019 von der Zeitschrift „Theater heute“ zur Inszenierung des Jahres gewählt, zum Berliner Theatertreffen eingeladen und mit Hymnen und Preisen überschüttet worden. Demnächst wird Holzinger als Mitglied im Team von René Pollesch an einer ersten Adresse, der Berliner Volksbühne, die Richtung weisen, in die man zu gehen (oder vielmehr zu tanzen) hat, wenn man noch mitreden will. Jetzt, fast zwei Jahre nach der Wiener Premiere und nach Gastspielen in halb Europa, ist „Tanz“, coronabedingt mit einer einjährigen Verspätung, beim mit produzierenden asphalt Festival in Düsseldorf angekommen.
Wirklich neu ist an Florentina Holzingers Bühnenkunst, ob man sie nun rühmt oder für überschätzt hält, wenig. Schon in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts meinte Ivan Nagel, damals Kulturkorrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in New York, das Interessanteste auf dem Gebiet des Theaters finde im Tanztheater statt. Inzwischen haben wir die kaum zu überbietende Karriere von Pina Bausch miterlebt, und zahlreiche Choreographinnen in Deutschland und darüber hinaus haben eine Fülle von zu Recht beachteten Stilrichtungen des Tanztheaters kreiert. An vielen Mehrspartenhäusern nehmen sie einen prominenten Platz ein, der mit dem klassischen Ballett seligen Gedenkens wenig zu tun hat. Tanztheater ist etabliert. Ob es in die gleiche Kategorie fällt wie das Sprechtheater (und sich somit, anders als die Oper, für das Berliner Theatertreffen qualifiziert), ist die Frage. Holzingers „Tanz“ – ja, Castorfs „Vögel“, Marthalers „Lear“ (an der Bayerischen Staatsoper), Breths „Feuriger Engel“ – nein: wie will man das begründen?
„Tanz“ ist, wie der Titel ahnen lässt, eine selbstreferentielle Angelegenheit. Die gesteigerte Aufmerksamkeit, die sie erhalten hat, liegt wohl an ihrer physischen Radikalität. Bemerkenswert ist allerdings dies: Alle paar Jahre tritt eine Gruppe auf, die durch Radikalität Aufsehen erregt, Grotowski etwa oder Fura dels Baus. Keine aber hat Schule gemacht, eine nachhaltige Wirkung gezeigt wie vergleichsweise Stanislawski oder Brecht. Die Sensation scheint zu verpuffen.
Dabei beginnt „Tanz“ eher zahm. Die 78-jährige Beatrice Cordua, einst Solotänzerin bei John Neumeier, trainiert, nackt und in englischer Sprache, Tänzerinnen an der Ballettstange in klassischer Manier. Hinten schminkt sich eine Frau im Schaukelstuhl, zwei weitere kämmen sich exzessive, waschen sich. Sie alle entkleiden sich nach und nach, auch die Kamerafrau, die wie bei René Pollesch über die Spielfläche huscht, ist nackt. Aber die Nacktheit hat nichts mit Voyeurismus oder gar mit Pornographie zu tun, sondern persifliert sie eher. Eine Tänzerin mit Zahnlücke reitet auf einem Staubsaugerrohr wie die legendäre Hexe auf dem Besen. Eine Tänzerin wird geschrumpft und in einen Hexenkessel gesteckt. Die leicht gebeugte Ballettmeisterin artikuliert ihre Sucht nach Körpern der Frauen. Mehr und mehr mischen sich Bilder der Komik und des Surrealismus. Die „Schönheit“ klassischer Positionen kontrastiert mit Groteske.
Zirkuserinnerungen kommen hinzu. Eine Tänzerin zieht sich buchstäblich am eigenen Zopf hoch. Zwei von der Decke hängende Motorräder dienen für einen Trapezakt (Text auf seitlichen Tafeln: „How to leave the floor“). Es häufen sich Rückverweise auf Happenings und auf den Wiener Aktionismus, ohne dessen Verbissenheit freilich.
Der zweite Akt wird zu einer Parodie des Handlungsballetts. „La Sylphide“ lässt grüßen und Balanchines und Strawinskis „Apollon musagète“. Florentina Holzinger belehrt das Publikum: „Man muss sich nicht schämen, wenn man ‚Giselle’ nicht gesehen hat, aber man muss sich auch nicht schämen, wenn man es gesehen hat.“
Die Ballettmeisterin gebiert, von der Kamera ganz nah beobachtet, was wie eine Ratte aussieht. Kunstblut fließt. Was aber bei Hermann Nitsch noch Entrüstung hervorgerufen hat, wird mit Gelassenheit wahrgenommen. Niemand verlässt in Düsseldorf den Raum, einzig ein Zuschauer wird von Sanitätern hinausbegleitet. Ob es an dem Bühnengeschehen liegt, weiß ich nicht.
Zugegeben: Gerne schau ich nicht hin, wenn einer Tänzerin, wieder von der Kamera vergrößert, mächtige Haken unter die Haut appliziert werden (Titel: „Having thick skin“) und sie dann an diesen mittels eines Seils hochgezogen wird, aber auch das reicht nicht für Empörung. Es löst in mir lediglich jenes Unbehagen aus, das ich stets empfinde, wenn ein menschlicher Körper versehrt wird. Dass mir das zustoßen könnte, ist, mit Verlaub, keine angenehme Vorstellung. „To gain knowledge one needs to penetrate something.“ Als Metapher mag man diesem Satz schon zustimmen. Aber wenn er so ganz wörtlich genommen wird?
Das hat Holzinger mit den Wiener Aktionisten gemeinsam. Blutbad und Verstümmelung sind „amoralisch“, frei von Moral. „Tanz“ verweigert jede Belehrung. Otto Mühl meinte einmal, die zerstückelten Leichen im Frost der Ardennenoffensive seien das faszinierendste Kunsterlebnis, das er je hatte und haben sollte. Wir wollen Florentina Holzinger keine Nähe zu Otto Mühl unterstellen. Aber ganz kann man sich des Verdachts nicht erwehren, dass ihr „Tanz“, auch wenn er als kurze Geschichte des Balletts verstanden wird, in einer sehr österreichischen Tradition steht, deren Ambivalenz noch nicht hinreichend analysiert ist. Für alle Fälle: Mit politischer Korrektheit hat das nichts zu tun.
Letzte Änderung: 11.08.2021
Florentina Holzinger
TANZ
Eine sylphidische Träumerei in Stunts
Konzept, Choreografie: Florentina Holzinger
Bühne: Nikola Knezevic
Lichtdesign: Anne Meeussen
Videodesign, Livekamera: Josefin Arnell
Sounddesign, Livesound: Stefan Schneider
Dramaturgie: Renée Copraij, Sara Ostertag
mit Renée Copraij, Beatrice Cordua, Evelyn Frantti, Florentina Holzinger, Lucifire, Annina Machaz, Netti Nüganen, Suzn Pasyon, Laura Stokes, Veronica Thompson, Lydia Darling
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