Nie erkannt

Nie erkannt

„Letter From An Unkown Woman“ und „Gertrud“
Theatrical poster for the American release of the 1948 film „Letter from an Unknown Woman

Waren die beiden Regisseure Max Ophüls und sein dänischer Kollege Carl Theodor Dreyer Frauenversteher? Die beiden Filme „Letter Of An Unknown Woman" (1948) und „Gertrud" (1964) liefern gute Argumente für die Annahme dieser These. In beiden werden Gefühllosigkeit und Egozentrismus von Männern für das Scheitern erfüllter Liebe verantwortlich gemacht. Tatsächlich ist es bei genauerem Hinsehen dann aber doch nicht so einfach, zeigt Thomas Rothschild.

Manchmal möchte man daran verzweifeln, welches Mittelmaß von den Medien mit Superlativen überhäuft wird. Das wäre ja noch zu ertragen, wenn es nicht auf Kosten der wirklichen Talente, der echten Genies ginge, die in die Nacht der Vergessenheit verbannt werden, damit Friedlands Sterne strahlen. Schweigen wir beschämt von den Pseudogrößen des Tages und reden wir von einem der größten deutschen Filmregisseure, dessen Name und Werk jedem vertraut sein müsste, wenn die Maßstäbe noch stimmten, reden wir von dem vor 120 Jahren geborenen Max Ophüls, und reden wir von seinem dänischen Kollegen Carl Dreyer.

Romane wie „Madame Bovary“, „Anna Karenina“, „Washington Square“, „Effi Briest“ oder die Theaterstücke Ödön von Horváths müssten, nüchtern betrachtet, die gängige These, der männliche Blick könne dem Leid der Frauen in der patriarchalischen Gesellschaft nicht gerecht werden, ins Reich der letzten Endes sexistischen Legenden verbannen.

Das gilt auch in Bezug auf die Filmkunst. Gewiss, Filmgenres wie der Western oder der Gangsterfilm reproduzieren Klischees einer machistischen Weltanschauung mitsamt frauenverachtenden Stereotypen, und sie sind in der Regel von Männern gemacht. Aber auch einige der für das gegen Frauen verübte Unrecht sensibelsten Filme stammen von Männern. Zu den zugleich künstlerisch hervorragenden Regisseuren, deren Empathie für Frauen unbezweifelbar scheint, gehören Max Ophüls und Carl Theodor Dreyer. Eine kursorische Betrachtung ihrer Filme „Letter From An Unkown Woman“ (1948) und „Gertrud“ (1964) soll das belegen.

Beide sind Literaturverfilmungen – der eine von Stefan Zweigs 1922 erschienener Novelle, der andere von dem 1907 uraufgeführten Schauspiel in drei Akten des Schweden Hjalmar Söderberg, der zwölf Jahre vor Zweig geboren wurde und ein Jahr vor ihm starb. Beide Stories spielen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Gertrud allerdings lebt in einer Ehe und steht in der Tradition von Ibsens Nora, während Lisa Berndl (in der Originalfassung: Berndle), die „Unbekannte“, ihre Beziehung zu Stefan Brand – bei Ophüls ein Pianist, bei Zweig ein Dichter (die Namen hat den Protagonisten der Film verliehen) – von Kindheit an, größtenteils nur aus der Ferne, imaginiert. Beide Frauen sehnen sich nach der völligen Hingabe, nach der symbiotischen Liebe, und zwar zu einem Mann, der in beiden Fällen Künstler ist, also das Schöne, das Schöpferische personifiziert und zugleich außerhalb oder am Rande der gutbürgerlichen Gesellschaft und ihrer Konventionen steht.

Gemeinsam haben die beiden Filme, im Bild wie in der Sprechmelodie, den durchgängigen elegischen Grundton und die musikalische Rhythmisierung, bei Dreyer stärker stilisiert, bei Ophüls eher melodramatisch. Alles deutet, von der ersten Einstellung an, auf Verzicht, nicht auf Erfüllung hin. Beide Frauen, Gertrud wie Lisa, scheitern an der Gefühllosigkeit, dem Egozentrismus der Männer. Lisas mehrfach wiederholter Satz „Du hast mich nie erkannt“ kann als Leitmotiv beider Filme gelten. Bei Dreyer sehen sich die Personen nur ausnahmsweise in die Augen: Sie erkennen einander nicht. Zu Erland Jansson, dem Geliebten, der ihre Liebe verrät, sagt Gertrud an einer Stelle: „Wann werden wir anfangen, die gleiche Sprache zu sprechen.“
 
 

Gertrud berichtet von einem Traum: Sie läuft nackt durch eine Straße und wird von einer Hundemeute verfolgt. Söderberg, der Zeitgenosse von Sigmund Freud und Arthur Schnitzler, kleidet das Gefühl der Bedrohlichkeit von unterdrückter Sexualität in eine nur angedeutete, aber überdeutliche Traumerzählung. Auch Zweigs und Ophüls’ „Unbekannte“ wird zum Opfer ihrer sexuellen Wünsche. Allerdings hat Ophüls ihr Schicksal gegenüber der Vorlage, wo sie sich ihren und ihres Kindes Lebensunterhalt als Prostituierte verdient, deutlich abgemildert. Ähnlich wie bei Tatjana in „Eugen Onegin“ wird im Film der unfreiwillige Liebesverzicht, wird die Demütigung letzten Endes von einem beachtlichen gesellschaftlichen Aufstieg begleitet. Lisa, die alleinerziehende Mutter – zur Zeit der Handlung ein schwierigerer Status als heute –, begibt sich in die Ehe mit einem ungeliebten Mann, aus der Gertrud ausbricht.

Sie kann es sich leisten. Sie hat kein uneheliches Kind und ist als erfolgreiche Sängerin ökonomisch unabhängig.

Es lässt sich freilich gegen Stefan Zweigs „Brief einer Unbekannten“ und die Verfilmung durch Ophüls auch feministisch argumentieren. Da hat eine Frau einen Mann ein Leben lang geliebt, sie hat sich ihm, wie es altmodisch so schön heißt, „hingegeben“, mehrmals im Leben ist sie ihm begegnet, aber er, er hat sie nicht erkannt. Auf dem Totenbett gesteht die Unbekannte ihre Liebe, und wenn der Geliebte den Brief der Toten liest, ist auch der Leser der Erzählung, der Zuschauer des Films gerührt. Dass Stefan Brand bei Ophüls dem ungewissen Ausgang eines Duells entgegen schreitet oder vielmehr in einer Kutsche entgegen fährt, macht ihn gar noch im letzten Moment zum Opfer.

Ein Leben lang geliebt zu werden, ohne eine Gegenleistung erbracht zu haben, bedingungslos geliebt zu werden trotz seelischer Grausamkeit und rücksichtsloser Ichbezogenheit: ist das nicht der typische Männertraum? Musste der „Brief einer Unbekannten“, so sympathisch er die gedemütigte Frau macht, so kritikwürdig er den egozentrischen Geliebten erscheinen lässt, nicht einer männlichen Fantasie entspringen? Die Antwort auf diese Frage dürfte eher den Vorurteilen der Interpreten als dem Text entsprechen. Sie ist nicht objektiv entscheidbar. Wie auch immer: für Söderberg, Dreyer und „Gertrud“ kann diese Sichtweise nicht gelten. Gertrud entzieht sich unmissverständlich den patriarchalischen Normen. Sie verzichtet eher auf Liebe, als Kompromisse einzugehen, und entscheidet sich für die Einsamkeit. Wenn bei Dreyer, der dem Stück einen Jahre später spielenden, bedeutungsschwangeren Schluss hinzufügt, für sie die Totenglocken läuten, hat sie zuvor ihren Frieden gefunden. Sie muss keinen Brief hinterlassen. Und keinen verzweifelten Pianisten, der nun, da es zu spät ist, begreift, was er an ihr verloren hat.

In einem Punkt freilich ist auch Söderberg ein Produkt seiner Zeit, und Dreyer folgt ihm darin: Wenn der Frau als solcher das Primat der Liebe und dem Mann gleich mehrfach die Bevorzugung der Arbeit zugeschrieben wird, dann sieht nicht nur Gertrud, sondern auch „Gertrud“ das Heil allein in der Überzeugung, dass die Liebe alles sei. Dass Arbeit auch für die Frau Erfüllung bedeuten könnte, kommt ihnen nicht in den Sinn.

Letzte Änderung: 16.08.2022  |  Erstellt am: 16.08.2022

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