In München steht eben nicht nur ein Hofbräuhaus, sondern eine erstaunliche Anzahl kultureller Einrichtungen, die zu den bemerkenswerten Errungenschaften unserer Zivilisation zählen. Nach der Aufhebung der Einschränkungen, unter denen alle während der Pandemie gelitten haben, gelang es Walter H. Krämer, seine Eindrücke von den künstlerischen und sportlichen Aktivitäten aus der bayerischen Hauptstadt für uns zu sammeln.
Einmal mehr war München eine Kunstreise wert mit 2-mal Schauspiel, 1-mal Oper und zwei Ausstellungsbesuchen. Nicht zu vergessen das Spektakel an der Eisbachwelle – große Kunst auf dem Surfbrett und den Landschaftspark Englischer Garten.
Angekündigt waren die heißesten Tage des Jahres auch in München. Doch Nebelschwaden, die Füße im Eisbach und fallender Schnee in der Bayrischen Staatsoper machten die Hitze erträglich.
Mit jedem Theaterbesuch verbindet sich die Hoffnung nach spannenden Stücken, außergewöhnlichen Geschichten, beeindruckenden Schauspieler*innen, tollen Kostümen und einem stimmigen Bühnenbild. Dafür findet sich bestimmt ein Publikum, das derzeit von vielen Theaterschaffenden – insbesondere Intendant*innen – vermisst wird. Weniger Zuspruch findet offenbar ein Konzepttheater mit postdramatischer Ausprägung, das sich bei den vermeintlich relevanten Themen der Zeit bedient. Es gibt dabei bezüglich Publikumsschwund, Publikumsinteresse und Gestaltung der Spielpläne keine einfachen Antworten – aber sicher ist das, was die einzelnen Häuser anbieten, ein Kriterium – und es gibt ja Häuser, die sich auch nach der Pandemie nicht über Besucherzahlen beklagen müssen.
Hier also meine Eindrücke von drei Inszenierungen und zwei Ausstellungen in München – verbunden mit grundsätzlichen Überlegungen zum Theater und zum Leben.
Eine Jugend in Deutschland. Stück für Schauspieler*innen und Puppen. Nach dem Roman von Ernst Toller in einer Fassung von Jan-Christoph Gockel und Ensemble / Münchener Kammerspiele
Sechs Akte (Blick heute – No more peace – Toller und sein Hinkemann – Räterepublik – Ein Stück Masse – Hoppla wir leben!) mit neun Schauspieler*innen und neun Puppen sind von Regisseur Jan-Christoph Gockel und seinem Team Ernst Toller gewidmet.
Ernst Toller – Dichter, Dramatiker und Theatermeteor der Zwanzigerjahre. Aber auch ein Träumer und Moralist. Und ganz nebenbei noch Revolutionär und Politiker.
Die Inszenierung folgt der Autobiografie des Autors „Eine Jugend in Deutschland“, zerstückelt sie, setzt sie neu und anders zusammen. Bietet Tanz, Gesang und Filmszenen. Ernst Toller erscheint uns gleich mehrfach. Einmal in Gestalt von neun Schauspieler*innen und einer Marionette, die eindeutig Ernst Tollers Züge trägt. Dabei ist die Inszenierung einerseits ein Appell an die Gegenwart – bitter nötig! – und andererseits eine Hommage an die expressionistischen, revueartigen Inszenierungen der Toller-Stücke in den Zwanzigerjahren.
Eine Drehbühne ermöglicht raschen Szenenwechsel und gleich zu Beginn befinden wir uns im Klassenzimmer des Königlichen Realgymnasiums, dort wo die Verbildung der Massen einen Anfang nahm und zu anfänglicher Kriegsbegeisterung führte – auch bei Ernst Toller.
Eingekleidet in kindliche Träume – Meerjungfrau, Ritter, Prinzessin – sitzen sie noch in Reih und Glied im Klassenzimmer. Später werden die phantasievollen Kostüme schwarzen Uniformen samt Stahlhelm weichen. Der Einbruch des Krieges in die Träume der Jugend und das Klassenzimmer wird zum Totenfeld. Nackt liegen die Puppen verstreut auf der Bühne. Keine Uniform, kein Helm mehr. Beine und Arme liegen vereinzelt auf dem Boden – durch eine Live-Kamera auf der Bühne wird der Schrecken des Krieges noch optisch vergrößert.
Verarbeitet hat Ernst Toller die Grauen des Krieges in seinem Kriegsheimkehrer-Drama “Hinkemann” und genau diesem widmet der Regisseur einen der sechs Akte. Im letzten Akt erscheint uns Ernst Toller – nach fünf Jahren Festungshaft – als gealterter Mann.
Großartig und zugleich berührend Walther Hess mit seiner Rede über das Karussell, auf dem weiter gelacht, getanzt und miteinander geschlafen wird – er aber springt ab / steigt aus dem Karussell aus.
Eine stimmige Aufführung, die sich mit Münchener Ereignissen und Personen auseinandersetzt und diese auf die Bühne bringt. Wird sowohl in inhaltlicher als auch in der Umsetzung der Person Ernst Toller und seiner Zeit gerecht, ohne dabei den Blick auf das heute zu verlieren. Kein Wunder, dass Zuschauer*innen das sehen wollen. In der von mir besuchten Vorstellung waren nur noch wenige Plätze frei.
Anmerkung am Rande: Die Inszenierung spielt wesentlich auf einer Drehbühne. Am besuchten Abend war die Technik defekt und die hausinternen Techniker*innen legten selbst Hand an und bewegten die Bühne manuell. Das nenne ich großartig, und es wirft einen Blick auf den guten Geist, der im Hause herrscht, und die Bestrebungen, alles dafür zu tun, dass ja keine Vorstellung ausfällt.
Like Lovers Do (Memoiren der Medusa) von Sivan Ben Yishai. Regie + Choreographie: Pinar Karabulut / Münchener Kammerspiele
Der römische Dichter Ovid beschreibt in seinem Hauptwerk Metamorphosen Medusa, die einzige sterbliche Gorgone, als wunderschönes junges Mädchen. Durch ihre Schönheit auf sie aufmerksam geworden, stellt ihr der Meeresgott Poseidon nach und vergewaltigt sie im heiligen Tempel der Athene. Athene ist über die Entweihung ihres Tempels außer sich und bestraft schließlich Medusa, indem sie sie in ein schreckliches Monster mit Schlangenhaaren verwandelt, dessen Anblick alle zu Stein erstarren lässt.
Ein erster Fall also von Victim blaming, auch Opferbeschuldigung oder Opferschelte. Und er ist die Beschreibung für ein Vorgehen, das die Schuld des Täters für eine Straftat dem Opfer zuschreibt. Statt Beistand und Hilfe erfährt das Opfer Anklage und Beschuldigung.
Sivan Ben Yishai blickt in ihrem Stück „Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)“ auf das Verhältnis der Geschlechter zueinander und findet dafür drastische Worte. Regisseurin der Uraufführung Pinar Karabulut setzt auf vermeintlich fröhliche und knallbunte Farben. Und die Münchner Kammerspiele schicken eine Triggerwarnung voraus: Die in ihm geschilderten Gewalthandlungen könnten für Menschen mit entsprechenden Vorerfahrungen belastend und retraumatisierend wirken. Wen wundert es da eigentlich, dass der Abend kaum Zuschauer*innen findet? In der von mir besuchten Vorstellung war der Saal nicht einmal zu einem Viertel besetzt. Da nützt auch eine Einladung zum Berliner Theatertreffen wenig – siehe Link weiter unter. Geadelt von der Blase, aber wenig tauglich für ein breites Publikum.
„Dieses Lied ist dem gewidmet, der mich in einem Flur voller Schlangen fickte, bis meine Augen weiß und zu Knochen wurden. Und mich unter Wasser zog, und meine Haut färbte sich grün.” Mit diesen Sätzen beginnt in den Münchener Kammerspielen das neue Stück von Sivan Ben Yishai. Und es nimmt kein Ende – das lange Lied von Sex und Gewalt, das Widmung auf Widmung häuft. Nach gut 90 Minuten ist der Spuk vorbei. Ein Ufo landet und die fünf besten Freundinnen schweben in den nachtschwarzen Himmel, in der Hoffnung, den patriarchalen Ballast hinter sich gelassen zu haben auf dem Weg in eine Welt, in der die derzeit noch herrschenden Geschlechtermodelle überwunden sind. Den Sicherheitscheck für die Himmelfahrt besorgen fünf männliche Bühnenarbeiter und winken ihnen am Ende freundlich hinterher.
Die Nase. Oper in drei Akten von Dimitri D. Schostakowitsch nach der gleichnamigen Erzählung von Nikolai W. Gogol. Inszenierung, Bühne und Kostüme: Kirill Serebrennikow / Bayerische Staatsope
Der neue Intendant der Bayerischen Staatsoper, Serge Dorny, bis vor kurzem Chef der Oper in Lyon, setzt in seiner Eröffnungs-Spielzeit voll auf die Moderne, auf Werke des 20. Jahrhunderts. Und die „Nase“ von Schostakowitsch, dieser „rote“ Klassiker, wurde an der Staatsoper tatsächlich noch nie gezeigt.
Der mit Reiseverbot belegte Russe Kirill Serebrennikov – mittlerweile lebt und arbeitet er als Artist in Residenz am Hamburger Thalia Theater – inszenierte das Werk als sarkastische Abrechnung mit Putins autoritärem Regime.
Und anders als in der berühmten Satire von Nikolai Gogol, muss an diesem Abend auch nicht nur eine Nase daran glauben, sondern gleich ein ganzes Dutzend, denn keiner in der Stadt soll den Gestank von Korruption und Willkür, von Verfall und Dreck mehr riechen. Kyrill Serebrennikow rechnet in seiner Inszenierung ab mit der Eiszeit, die Putin über Russland gebracht hat und die dort stattfindende Demontage der Demokratie.
Gogol, Schostakowitsch, Serebrennikov, drei Männer, die Ähnlichkeiten in ihren Biografien aufweisen. Alle drei hatten unter den zu ihrer Zeit repressiven politischen Systemen in Russland zu leiden und wurden wegen ihrer Kunst verfolgt. Das Gogol-Theater in Moskau, von Serebrennikov geleitet, wurde vor einigen Wochen geschlossen. Ein zu gefährlicher Ort für Putin und seine Mitstreiter.
Immer höher türmen sich die Schneemassen auf der Bühne, immer dichter rieseln die Flocken vom Himmel, immer gefährlicher werden die Eiszapfen, und die Fischer, die ihre Löcher in die zugefrorene Newa hämmern, werden mitunter in Einzelteilen wieder herausgezogen.
Serebrennikov lässt seine Inszenierung zwischen heruntergekommenen Plattenbauten enden, wo der unglückliche Kovaljov, der seine Nase auf wundersame Weise verloren und wieder gefunden hat, sich mit Wodka zuschüttet. Peng macht es, und dann ist auch der rote Luftballon zerplatzt, den ein Kind durch den Winter trägt.
In der von mir gesehenen Vorstellung war Engagement und Organisation gefordert, um die krankheitsbedingten Ausfälle zu kompensieren. Erst erkrankte der Hauptdarsteller.
Wurde durch einen Sänger vom Mariinski-Theater ersetzt: „Wir freuen uns sehr, Sie am Mittwoch, 20.07.2022 um 19:00 Uhr zur Vorstellung von Die Nase begrüßen zu dürfen! Bitte beachten Sie, dass in der heutigen Vorstellung von Die Nase Vladimir Samsonov die Partie des Kovaljov anstelle des erkrankten Boris Pinkhasovich übernimmt.“
(Mitteilung der Oper vom gleichen Tag). Mit dem Auto von St. Petersburg nach Helsinki und von dort aus mit dem Flugzeug nach München damit er rechtzeitig zur Vorstellung kam. Ein anderer Sänger hatte sich bei einem Sturz verletzt und konnte nur noch mit Krücken den Abend bestreiten. Auch nach der Pause neue Hiobsbotschaften. Wieder musste Ersatz geschaffen werden für eine erkrankten Sänger. Aber all das gelang und wurde vom Publikum – die Oper mit ihren 2102 Plätzen war im Übrigen fast ausverkauft – mit Beifall aufgenommen. Hauptsache, der Abend fand statt und man wurde als Zuschauer*in nicht wieder nach Hause geschickt. Eine vorbildliche Haltung der Oper und auch ein Beleg, dafür, dass das Publikum durchaus in die Häuser gehen will. Die Frage ist nur, wofür.
Offenbar hat die Inszenierung „Der Nase“ durch den damals unter Hausarrest stehenden Regisseur und die Rolle Putins, Russlands und seiner Bewohner*innen im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Rolle gespielt. Ein künstlerisch und menschlich starkes und berührendes Statement gegen den Krieg und gegen jegliche Willkür – als hätten es die Macher*innen geahnt.
DIE LUST AM ANDEREN THEATER. Freie darstellende Künste in München / Theatermuseum München
Frei wollen und wollten sie sein – frei in der Wahl ihrer Themen, ihrer künstlerischen Mittel, ihrer Spielorte und ihrer Lebensweise: freie Kleintheater, Theatergruppen und Solokünstler. In ihren künstlerischen Zielrichtungen teils völlig unterschiedlich, folgen Künstlerinnen und Künstler seit den 1960er Jahren der Lust am anderen Theater, jenseits der hierarchischen Strukturen und Inhalte der etablierten Stadt- und Staatstheater, in Keller- und Kleintheatern oder Wirtshaussälen, ab den 70er Jahren auch in ausgedienten Fabrikhallen und auf Außenschauplätzen.
Wir erfahren etwas über das proT, das TamS (Theater im Sozialamt), das FTM (Freies Theater München), das Kollektiv Rote Rübe, das Meta Theater, das pathos transport Theater und über das anti-Theater von Rainer Werner Fassbinder. Weiterhin etwas über Theaterfotografie, Tanz und Musik. Auch der Alabama-Halle ist ein Kapitel gewidmet.
Ein Portrait der freien Szene mit vielen Interviews und einer großen Anzahl von Fotos.
http://www.deutschestheatermuseum.de/p/blog-page_20.html
Mit dem ersten Internationalen Theaterfestival 1977, das vor allem unbekannte internationale Theaterkünstler auch mittelfristig nach München lockt, entwickelt sich die Stadt zunehmend zum Schauplatz künstlerischer Offenheit und Experimentierfreude. Doch bleibt freies Künstlertum aufgrund fehlender finanzieller Absicherung immer auch eine Frage des Überlebens. Umso mehr beeindruckt die schier grenzenlose Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen, die sich im Spannungsfeld von künstlerischer Selbstbehauptung und Existenzkampf bis heute entwickelt haben.
„Nebel lässt sichtbare Dinge unsichtbar werden, während unsichtbare – wie Wind – sichtbar werden.“ Fujiko Nakaya
Fujiko Nakaya ist eine visionäre Künstlerin, deren Arbeit nicht nur von ökologischem Bewusstsein angetrieben wird, sondern die sich auch von den etablierten Traditionen der ostasiatischen und westlichen Bildhauerei abhebt. Ihr Werk lässt die Grenzen zwischen Wissenschaft, Kunst und Technologie verschwimmen und lädt durch direkte körperliche Erfahrung dazu ein, die Beziehung von Mensch und Umwelt neu zu denken.
„Nebel Leben“ ist die erste umfassende Werkschau von Fujiko Nakaya (*1933 in Sapporo, Japan) außerhalb Japans. Ihre Nebelskulpturen bestehen vollständig aus Wasser und fordern damit traditionelle Vorstellungen von Skulptur heraus, indem sie sich je nach Temperatur, Wind und Atmosphäre in jedem Augenblick verändern und das Publikum mit einbeziehen. Eine sehr besondere Erfahrung.
Eine große Liebe zur Natur, ihren Formen und Strukturen, ist auch in ihren Gemälden erkennbar. Auf den ersten Blick monochrom, erkennt das Auge bald die feinen Farbnuancen und Muster, die den Bildern Tiefe verleihen. Ihr Vater war Wissenschaftler, auch er kommt zu Ehren in dieser Ausstellung. Er forschte an Schneeflocken und brachte ein Werk über die unglaublich vielfältigen Eisstrukturen von Schneeflocken heraus. Jede Schneeflocke ein kleines Kunstwerk der Natur. Er war der Erste, der Schneeflocken künstlich herstellte. So setzt Nakaya die Arbeit ihres Vaters im umgekehrten Sinne fort: Aus Nebel entstehen Schneeflocken.
SURFING IN THE CITY – Die Kids am Eisbach
Das Schöne am Eisbach ist einfach die Lage. Mitten in der Stadt am südlichen Rand des Englischen Gartens in der Nähe des Museums Haus der Kunst läuft diese stehende Welle und gilt als beliebter Hotspot für Surfer, Zuschauer und Fotografen. Diese Stelle des Eisbachs gilt als weltweit konstanteste, größte und beste Flusswelle mitten in einer Großstadt und ist seit 40 Jahren besurfbar. Nicht für Anfänger*innen geeignet.
Letzte Änderung: 19.08.2022 | Erstellt am: 19.08.2022
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