Im Schauspielhaus Hamburg hat der Regisseur Falk Richter die „Combats et métamorphoses d'une femme“ des französischen Schriftstellers Édouard Louis dramatisiert. In diesem Stück, das im Deutschen „Die Freiheit einer Frau“ heißt, beendet eine Mutter ihre Leidenszeit mit ihrem Mann und setzt sich darüber mit ihrem Sohn auseinander. Walter H. Krämer hat das Stück gesehen.
Wenn einer in Zeiten der Pandemie eine Reise, verbunden mit Theaterbesuchen, plant, dann muss er mit kurzfristigen Änderungen rechnen. So fiel die Vorstellung von Robert Wilsons „H“ 100 seconds to midnight am Thalia Theater aus (14.10.) und in der Inszenierung von Falk Richter Die Freiheit einer Frau am Deutschen Schauspielhaus Hamburg wurde kurzfristig umbesetzt (15.10.).
Édouard Louis hat ein weiteres Mal ein stark autobiografisch gefärbtes Buch geschrieben. In „Die Freiheit einer Frau“ geht es um die Lebens- und Leidensgeschichte seiner Mutter, die mit einer Befreiung endet. Denn eines Tages steht Édouard Louis’ Mutter einfach auf und geht. Weg aus der Gegend, weg von ihrem zweiten Mann, der wie der erste soff und sie demütigte. Édouard Louis erzählt dabei eindringlich von seinem Wunsch, als Kind eine andere Mutter zu haben, und vom großen Glück, sie heute als befreite und glückliche Frau zu erleben.
Sensibel und bewegend zeichnet der Autor die Lebensgeschichte seiner Mutter nach. Gleichzeitig reflektiert Louis sein von frühester Kindheit an emotional distanziertes Verhältnis zur Mutter. Inzwischen sozial aufgestiegen und Teil des intellektuellen Lebens in Frankreich, bewundert er sie dafür, dass sie die Kraft und Energie aufbringt, endlich das selbstbestimmte Leben zu führen, nach dem sie sich lange gesehnt hat. Ist beeindruckt von ihrem Mut, in ein anderes Leben aufzubrechen.
Jetzt hat Regisseur Falk Richter aus dem Buch eine Theaterfassung auf die Bühne des Hamburger Schauspielhauses gestellt. Und es ist eine kongeniale Inszenierung daraus geworden. Gekonnt nutzt Falk Richter Mittel des Theaters, um von Klasse, Identität und Geschlechterrollen zu erzählen. Es ist ein unterhaltsames Mosaik, das den Zuschauern unter dem Oberbegriff Metamorphose dargeboten wird – nicht umsonst steht im Hintergrund ein riesiges, goldenes Säulentor mit der Aufschrift „Métamorphose” und gibt einen Hinweis darauf, dass man auch aus den ärmsten Verhältnissen heraus eine Verwandlung schaffen kann. Josefin Israel darf als junge Mutter zur Scorpions-Ballade “Send Me An Angel” schmetterlingsgleich vom Bühnenhimmel schweben und so die spätere „Entpuppung“ vorwegnehmen. Und im Bühnenbild thront über allem eine Faust, die alles gewaltsam nieder und nach unten drückt.
Dialoge und Spielszenen wechseln sich ab, ergänzt durch Videoaufnahmen auf drei unterschiedlich großen Leinwänden. Einmal live performt auf der Seitenbühne, ein andermal vorproduziert – besonders wenn der Autor in nachgestellten Szenen sich über seine Arbeit und die Aufgabe von Literatur äußert. Eine Rockband – Bernadette La Hengst und ihre drei Frauen – begleitet das Geschehen auf der Bühne mit Liedtexten, die an die frühen 70er Jahre erinnern und deutlich machen, dass noch viel zu tun ist, bis wir von einer Geschlechtergerechtigkeit reden können.
Paul Behren spielt den jungen Éduard Louis und er macht das sehr überzeugend. Mal erzählend, mal kommentierend, mal gesprochen, mal mit Gesangseinlagen. Es ist eine Freude, ihm beim Spiel zuzuschauen und sich in seinen Gedanken und Überlegungen zu verlieren.
Die alte Mutter – gespielt von Eva Mattes – sitzt zunächst vor der Bühne an einem Bistrotisch und schaut zu, greift dann aber immer stärker in das Geschehen auf der Bühne ein. Es ist eine Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn über deren beider Leben und die Sicht auf dieses. Über ihre frühe Entfremdung und jetzige Annäherung. Ein nicht ganz schmerzfreier Prozess, für den Falk Richter immer wieder eindrückliche Szenen findet. Mittels der Spieler*innen auf der Bühne verwandelt sich ein gedruckter Text in ein Bühnenspektakel mit Tiefgang.
Ein perfekt aufeinander abgestimmtes Ensemble, das sich um Paul Behren (Édouard), Eva Mattes (Mutter, alt), Josefine Israel (Mutter, jung) und Christoph Jöde (Vater) gruppiert, bringt die Worte zum Tanzen und lässt die Zuschauer*innen nicht unberührt zurück.
Erinnerungsträchtig auch, Eva Mattes jetzt wieder auf der Bühne zu sehen, auf der vor Jahren mit dem Regisseur Peter Zadeck, ihrem Kollegen Ulrich Wildgruber und ihrer Desdemona in Shakespeares „Othello“ ihre Karriere Fahrt aufnahm und der Stadt einen handfesten Theaterskandal bescherte.
Die Freiheit einer Frau
nach Édouard Louis in einer Fassung von Falk Richter
Regie: Falk Richter, Bühne: Katrin Hoffmann,
Kostüme: Andy Besuch,
Licht: Annette ter Meulen,
Video: Sébastien Dupouey,
Mitarbeit Video: Jonas Link,
Livemusik/Songs: Bernadette La Hengst,
Bühnenmusik: Daniel Freitag,
Dramaturgie: Beate Heine.
Mit: Paul Behren, Josefine Israel, Christoph Jöde, Eva Mattes, Eva Maria Nikolaus,
Musikerinnen: Peta Devlin, Bernadette La Hengst, Bärbel Schwarz.
Letzte Änderung: 31.01.2023 | Erstellt am: 31.01.2023
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