Lockerer November

Lockerer November

Musik für schwere (Jahres-)Zeiten

E, die Ernste Musik, und U, die Unterhaltungsmusik, das entspricht den Absichten des Apollinischen und des Dionysischen. Ist das Ernste stets einer geschichtsphilosophischen oder religiösen Moralvorstellung unterworfen, beharrt das Unterhaltende auf unbekümmerte Körperlichkeit und dem Vergnügen des Hier und Jetzt. In der Überschneidung beider Sphären hat Hans-Klaus Jungheinrich hörenswerte CD-Neuveröffentlichungen gefunden.

Tja, zu den so richtig beliebten Monaten gehört der November – wenn unserer Umschau zu trauen ist – nicht. Die Tage werden kurz, die Nächte lang; aber die Evolution verweigerte, minder großmütig als bei den Bären, unserer Spezies den heilsamen Winterschlaf, ein im kulturellen Sinne wenig erfreulicher Umstand. So sieht sich die Menschheit der hiesigen Weltregionen dazu veranlasst, sich sorgenfaltend zu verhalten und Trübseliges in den Sinn zu fassen wie Kreuz und Buße, Heizkosten, blöde Wahlausgänge, Friedhof, Nebel und panschigen Glühwein. Letzterer mag auf das sich ankündigende Weihnachtsgeschäft hinweisen, dessen kalendarischer Höhepunkt der Novembertristesse einen in seinem Schillern zwischen Hektik und anzweifelbarer Friedfertigkeit nicht rundum begeisternden Vorschein vermittelt. In summa genug Anlass, der misanthropischen Generalstimmung zumindest musikalisch zu entweichen und sich ein Hörprogramm zu verschreiben, das den Ernst der Stunden mit Leichtigkeit und Unernst pariert. Hinweg, ihr Allerseelen-, Requiem- und sonstigen unheiteren Gedenkgedanken, ihr seid für diesmal beurlaubt! Locker, lächelnd und problemfrei kann mithin die folgende kleine CD-Kollektion registriert werden.

Carl Reineckes „Aschenbrödel“-Melodram erinnert an eine Epoche, in der bildungsbürgerliche Kreise Hausmusik pflegten und, mit der Möglichkeit großfamiliärer oder freundschaftlicher Geselligkeit, dabei auch größere Besetzungen und Formate wagten. Reineckes Märchenerzählung beschäftigt einen Kammerchor, zwei Vokalsolisten und einen Rezitator sowie, als instrumentale Stütze, das Klavier. In Habitus und Tonfall erinnert das an Schubert und die harmloseren Schubertiaden der frühen Restaurationszeit, die der eine Generation jüngere Komponist als nette Unterhaltung für bürgerliche Amateure gleichsam neuverpackt. Etwas vom Geist gepflegten Dilettantentums herrscht auch in der vorliegenden Detmolder Interpretation, die zumindest mit dem Sprecherpart (Martin Christian Vogel) recht betulich und „kindgerecht“ serviert wird. Im zugegebenen kleineren Melodram „Der Schweinehirt“ nach H.C. Andersen sind neben dem Erzähler nur zwei Klaviere beschäftigt. Sie paradieren mit einem üppigen Ouvertüren-Entrée, das sich in seinem Schwung der Sphäre von Johann Strauß nähert.

Und, siehe da, auch der hochdekorierte Walzerkönig Johann Strauß (Sohn) hat ein „Aschenbrödel“ komponiert, ein abendfüllendes Ballett, über dem er 1899 verstarb, weshalb es vom jüngeren Kollegen Josef Bayer (als Autor der „Puppenfee“ berühmt) fertiggestellt wurde. Fremde Mithilfe bei seinen Partituren beanspruchte Strauß allerdings oft auch mitten zu seinen Lebzeiten angesichts großmanufaktureller Produktion bei heißer Auftragslage . „Aschenbrödel“ wurde aber trotz vielfacher Bemühungen der Witwe nicht aufgeführt und erst unlängst wieder „entdeckt“ und rekonstruiert. Das Werk ging aus einem Libretto-Wettbewerb hervor und zeigt Strauß als dramaturgischen Nachfolger der St. Petersburger Balletttradition à la Tschaikowskij. Dabei bleibt er seinem mit ein paar ungarischen Spritzern versetzten Wiener Walzer-Gestus durchaus treu. Im Alter sprudelten allerdings die melodischen Einfälle nicht mehr so mühelos. Eine „symphonische“ Kompensation ist indes auch kaum anzutreffen. Kurzweil schaffen geistreiche Momente, etwa eine Reminiszenz des Donauwalzers für drehorgelndes Harmonium gleich im ersten Akt. Liebevoll-zuverlässige Wiedergabe mit den ORF-Radiosymphonikern unter Leitung von Ernst Theis.

Nun der andere Strauss: Beim jungen Richard S. kann man sich auf eloquente, nonchalante Leichtgewichtigkeit verlassen. Erst mit den gewichtigen Tondichtungen und „Salome“ kamen die Hämmer. Die Anfänge, deutlich vom Wagnerhass des hornspielenden Vaters beeinflusst, üben sich in musterhafter Mimikry. So würde das mit 20 komponierte Klavierquartett c-moll, stammte es von Brahms, mit seinen 40 Minuten als respektables Hauptwerk durchgehen; als Stilkopie ist es nicht mehr als ein frappierender Talentnachweis. Strauss komponierte es in Meiningen, wo er Lehrjahre als Kapellmeister absolvierte. Das Orchester der kleinen Residenzstadt hatte einen guten Ruf, obwohl es (auch mit dilettierenden Honoratioren bestückt) seinerzeit lausig geklungen haben muss, besonders, wenn es von Brahms dirigiert wurde. Das Scherzo-Trio des c-moll-Quartetts bringt einen verhuscht-leisen Walzer, eine der frühesten Annäherungen an das von Richard Strauss später so markant beschworene Wiener Idiom. Ein Blick auf das im Booklet beigegebene Jugendfoto des Komponisten ist vielleicht auch nicht verkehrt. Schon da sieht man eine rätselhafte Unnahbarkeit. Der Mann lässt sich nicht in die Karten schauen.

Ins Reich des reinen Wohlklangs entführt die CD mit den „Stuttgart Winds“, die sich Bläserbearbeitungen Lortzing’scher Opernmusik zuwenden. Das für diese Besetzung geläufige Wort „Harmoniemusik“ gilt hier im umfassendsten Sinne, denn in der Klangwelt des deutschen Spielopernmeisters ist alles in bester „Harmonie“, sogar, wenn es wie in „Regina“ quasi nebenbei auch um eine Fabrikstreik-Darstellung auf der Opernbühne geht. Melodische Höhenflüge und Ensemblekünste von Mozart’scher Dignität verraten das Seitenthema der „Zar und Zimmermann“-Ouvertüre oder das letzte „Wildschütz“-Finale auch und gerade in der zeichnerischen Reduktion auf Blasinstrumente. Kreative Metamorphosen offeriert ebenfalls die Recital-CD mit der phänomenalen Violoncellistin Anja Lechner und ihrem Gitarrenpartner Pablo Márquez. Auch hier weht noch einmal der Geist Schuberts, und die Ersetzung des Klaviers durch das Zupfinstrument verstärkt den Eindruck intimer Idyllik und subtiler Lyrik, vor allem bei der Arpeggione-Sonate, aber auch in der „Leiermann“-Liedbeschwörung, die in dieser Verklanglichung zwar nicht heiter, aber nicht mehr untröstlich anmutet. Umrahmt werden die Schubertstücke durch schubertnahe, zartfarbene Nocturnes von Friedrich Burgmüller.

Irgendwas zwischen Halloween und Fastnacht möchte sich auch noch hineinmischen. Bei „Lilith’s Lullabies“ geht es um neu aufgeputzte, sozusagen eisgekühlte Kinderwiegenlieder. Die 14 Titel kultivieren einen sorgfältig abgemischten Plastik-Sound. Der genre-notorische Einschläferungseffekt wird immer wieder durch aparte Pointen konterkariert. Der dazugehörige spirituelle Background offenbart sich am besten in der ästhetisch-autobiographisch getönten Booklet-Einleitung des Komponisten Damian Marhulet: „Seit meiner Teenager-Zeit hatte ich so eine Art Vorahnung, eine Gewissheit, dass ich eines Tages Vater einer Tochter sein würde… Ich wusste einfach, dass es so kommen würde.“ Eine derart extraordinäre Vision erzeugt unweigerlich entsprechende musikalische Ergebnisse.

In die gewöhnlichen Geleise des Klavierlieds geleitet die Tschaikowskij-CD der Schwestern Julia und Elena Sukmanova (Künstlerinnen aus Hamburg mit St. Petersburger Hintergrund). Der Titel „Lyrisches Tagebuch“ ist insofern etwas irreführend, weil es kein Werk dieser Art von Tschaikowskij gibt. Die Interpretinnen wählten ihn für eine eigene „Gesamtkomposition, die eine Auswahl aus Tschaikowskijs Liedschaffen mit drei Titeln aus dem „Jahreszeiten“Klavierzyklus des Komponisten kombiniert. Die prägnanten Monatsporträts zählen zu den inspiriertesten Klavierkompositionen dieses Autors (der November figuriert nicht auf der CD). Unter den von Julia Sukmanova mit leicht abgedunkeltem, nach russischer Tradition „brustig“ voluminösem Sopran intonierten Liedern gibt es auch ein etwas eingetrübtes, fast gespensterhaftes Wiegenlied sowie eine Kuckucks-Evokation, bei der das für diesen Vogel charakteristische Terzintervall in besonders aparten Varianten und Einkleidungen vergegenwärtigt wird. Wenn wir gerade bei angenehmer Vokalität sind: Zum Schluss kann ich mir ein geistliches Passions oder Novemberwerk jetzt doch nicht verkneifen. Man darf Pergolesis „Stabat mater“ aber auch ganz pur als selig-somnambule Selbstentäußerung zweier traumschöner Frauenstimmen empfinden. Erst recht, wenn Ileana Cotrubas (Sopran) und Lucia Valentini-Terrani (Alt) uns bei diesen gut 40 Minuten bei der Hand nehmen. Um eine Formel Thomas Manns zu benutzen: „Fülle des Wohllauts“!

Letzte Änderung: 27.07.2021

Carl Reinecke Aschenbrödel, Der Schweinehirt (Melodramen) cpo 555 084-2
Johann Strauss Aschenbrödel (Komplette Ballettmusik) ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Dirigent: Ernst Theis cpo 777950-2
Richard Strauss Klavierquartett op.13, Klaviertrio D-Dur Daniel Blumenthal (Klavier), Doren Dinglinger (Violine), Tony Nys (Viola), Alexandre Vay (Violoncello) cpo 555 116-2
Albert Lortzing Der Wildschütz u.a. (Harmoniemusik) Stuttgart Winds cpo 555 045-2
Franz Schubert Die Nacht Anja Lechner (Violoncello), Pablo Márquez (Gitarre) ECM New Series 2555
Damian Marhulet Lilith’s Lullabies Edel Records
Pjotr Iljitsch Tschaikowskij „Das lyrische Tagebuch“ (Lieder und Klaviermusik) Julia und Elena Sukmanova Hänssler Classic HC 17079
Pergolesi: Stabat mater; Vivaldi: Stabat mater Ileana Cotrubas (Sopran), Lucia Valentini-Terrani (Alt), I Solisti Veneti (Claudio Scimone), Gulbenkian Orchestra (Michel Corboz) Erato 8256-4631.37
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