„When the Dust settles“ nannte die Frankfurt Dance Company ihre Aufführung mit dem hr-Sinfonieorchester im Bockenheimer Depot: „Wenn der Staub sich legt.“ Die Musik dazu kam von Giacinto Scelsi, Ferruccio Busoni, John Tavener und den lebenden Zeit-genossen Steve Reich, Arvo Pärt, Wolfgang Liebhart und Johannes S. Sistermanns, überwiegend Klassiker der neuen Musik also, die Walter H. Krämer im Einklang mit der Körper- und Lichtkunst erlebte.
Tanzabend mit der Dresden Frankfurt Dance Company und dem hr-Sinfonieorchester
Jacopo Godani hat schon des Öfteren die Zusammenarbeit mit anderen künstlerischen Formationen gesucht. Für „When the Dust settles“ ist es jetzt das hr-Sinfonieorchester. 65 Musiker*innen spielen live vor Ort Werke – mit einer Ausnahme – von Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts. Allesamt neue Musik, die unseren Ohren noch wenig vertraut ist. Und das ist gewollt so. Normalerweise transportiert uns die Musik in eine bestimmte Richtung: ein Gefühl, in Erinnerungen oder Situationen. Das soll durch uns bisher wenig vertraute Klänge zumindest behindert werden. Die Musik soll ein Gefühl der Begleitung durch Zeit und Raum vermitteln und weniger ein gerahmter Gefühlzustand sein.
Der gut einstündige Abend ist konzipiert als Begegnung auf Augenhöhe, bei der die Company und das Orchester, Tanz und Musik also, als gleichberechtigte und zugleich voneinander abhängige Einheiten aufeinandertreffen.
Das Bockenheimer Depot ist ganz ausgeräumt – keine eingebauten Wände versperren Wege und Blicke – und man kann die ganze Schönheit der Konstruktion dieses ehemaligen Straßenbahndepots genießen. An der Frontseite (normalerweise der Foyerbereich) sitzt das Orchester. Gegenüber auf einer Tribüne, die bis zu den hohen Fenstern des Depots reicht, das Publikum. An den Seiten ebenfalls Sitzmöglichkeiten für Zuschauer*innen und ab und an Musiker*innen). Dazwischen die Tanzfläche, die alle Tänzer*innen und ihre Bewegungen spiegelt – ein interessanter und auch irritierender Anblick mit besonderem Reiz – wirklicher Staub wirbelt allerdings an keiner Stelle des Abends auf.
Jeder Musik ist eine bestimmte Formation der Tänzer*innen zugeordnet und die Reihenfolge der Musikstücke folgt einer wohl durchdachten Dramaturgie.
Godanis Körper- und Bewegungssprache, von dem Ensemble virtuos umgesetzt, erscheint harmonisch und wellenartig. Die Tänzer*innen werden eins mit dem Raum und mit der Musik. Einige Bewegungen dominieren – wie beispielsweise die flügelhaften Schulter- und Armbewegungen, die sich im ganzen Körper fortsetzen. In den Gruppenchoreographien fließen die Tänzer*innen wie ein Körper zusammen. In den Soli, Pas de Deux, Pas de Trois und Pas de Quatre wirken sie oft in sich versunken – zum Teil wie in Trance.
Der Titel des Abends „When the dust settles“ eröffnet vielfältige Assoziationsräume. Hat sich nach einem Sturm die Erde wieder beruhigt? Orientieren sich Mensch und Natur neu?
Wie Tiere bewegen sich die Tänzer*innen, staksig wie Störche oder gleitend wie Schlangen. Und besonders die Arme und Schultern erscheinen manchmal wie das Schlagen von Flügeln. Geflügelte Schlangen, die sich aus dem Staub erheben.
Der Mensch auf der Suche – unterstützt durch vielfältige und abwechslungsreiche Musik und Töne – die man bisher so noch nicht oder selten gehört hat – immerhin erleben zwei der Komposition hier ihre Uraufführung (Talos von Wolfgang Liebhardt und Orchestertraube von Johannes S. Sistermann).
Wohin geht die Reise? Auch für die Zuschauer*innen? Kein Halt, keine Orientierung nirgends. Unterstützt wird dies noch durch den spiegelartigen Tanzboden. Die Konturen der Tänzer*innen vermischen sich mit den Spiegelbildern – fließen ineinander über.
Eröffnet wird der Abend im Bockenheimer Depot von Johannes S. Sistermanns’ OrchesterTraube – einer performativen Komposition, die vom hr-Sinfonieorchester Frankfurt für „When the Dust settles“ in Auftrag gegeben wurde und die die einzelnen Tänzer*innen zur Gruppe formen soll.
Musik von Giacinto Scelsi war Ausgangspunkt auf der Suche nach weiteren geeigneten Musikstücken für den Ballettabend. Angeregt durch Erkenntnisse der östlichen Philosophie und Mystik hat der in La Spezia geborene – auch der Choreograph Jacopo Godani kam hier zur Welt – italienische Komponist zu einem gänzlich neuen und besonderen Verhältnis zur Musik gefunden. Scelsi widmete sein Schaffen einer Musik, die nicht mehr auf die Ebene von Tonfolgen, Rhythmus, Melodie und Harmonik konzentriert ist, sondern auf das Pulsieren
einer »inneren« Energie.
1962 schuf Scelsi zwei Kompositionen mit dem Titel Riti: eines für vier Schlagzeuger und ein weiteres für elektronische Orgel, Kontrafagott, Tuba, Kontrabass und Schlagzeug Die Riti stehen modellhaft für Scelsis Aufbruch in das Innere des Klanges: als Beschreibung eines Raums, der Prozesse und damit Zeit ausblendet – ein Raum, der in die Tiefe führt.
Mantram für Kontrabass solo gehört zu Scelsis letzten Werken. Die Komposition entstand 1987 und entwickelt in ihrem Verlauf eine raga-ähnliche Gestalt. Im Zusammenspiel mit dem tanzenden Paar ein stiller und ruhiger Höhepunkt des Abends.
Mit dem Nocturne Symphonique von Ferruccio Busoni wird eine rare Orchestermusik eines Komponisten präsentiert, der über seine Oper Doktor Faust hinaus heute vor allem als Musiktheoretiker bekannt geblieben ist. In seinem 1916 veröffentlichter „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“, stellte Busoni Überlegungen zu neuen Tonskalen und einem grundlegend veränderten, avantgardistischen Musikverständnis an.
Klangfarben spielen für das Komponieren des Österreichers Wolfgang Liebhart eine zentrale Rolle. „Am Beginn stelle ich mir einen bestimmten Klang vor und dann begebe ich mich auf die Suche nach musikalischem Material, um diesen bestmöglich zu verwirkliche“, so der gebürtige Kärntner. Liebharts Musik zeigt sich dabei von Jazz, Elektronik und vor allem asiatischen Traditionen beeinflusst.
Seine Orchestermusik Talos greift die altgriechische Sage vom bronzenen Riesen Talos auf, der wahrscheinlich zum Schutz der von Zeus nach Kreta entführten Europa ebendort stationiert war und die Insel dreimal täglich umkreiste. Näherten sich Schiffe, warf er solange Steine auf diese, bis sie abdrehten. Schaffte es dennoch ein Eindringling auf der Insel zu landen, erhitzte sich der Riese zur Abschreckung bis zur Rotglut und verbrannte Angreifer, die sich davon unbeeindruckt zeigten, indem er sie umarmte.
„Nun ist meine kurze Orchesterkomposition absolut keine Blaupause dieser griechischen Sage“, so Wolfgang Liebhart, „sie ist vielmehr ein akustisches Psychogramm des Kontinents Europa, der ob der aktuellen Flüchtlingsproblematik einerseits, gegenüber einigen polarisierenden Politikerpersönlichkeiten andererseits, bar jeglicher gesellschaftspolitischer wie ethischer Lösungen zu sein scheint“.
1982 für unbegleiteten Chor entstanden, ist John Taveners The Lamb, im Original eigentlich eine Vokalmusik, der das gleichnamige Gedicht des berühmten englischen Dichters und Naturmystikers William Blake zugrunde liegt. Weltweit bekannt wurde Tavener durch seinen „Song for Athene“, der 1997 beim Begräbnis von Lady Di erklang.
Arvo Pärts Cantus in Memoriam Benjamin Britten – 1977 für Streichorchester und Glocke geschrieben – gehört zu den bekanntesten Kompositionen des estnischen Klangmystikers.,
Die Musik ist im „Tintinnabuli“ -Stil verfasst, einer Kompositionstechnik, die Pärt in den 1970er Jahre entwickelte. „Tintinnabuli“ heißt „Glöckchenklingeln“.
Den Abschluss von „When the Dust settles“ bildet Steve Reichs Clapping Music – ein kurzes Werk, das 1972 aus dem Wunsch heraus entstand, ein Stück zu komponieren, für das lediglich der menschliche Körper als Instrument erforderlich ist. Im Original für zwei klatschende Spieler konzipiert, sind in der Aufführung von „When the dust settles“ alle beteiligt: Orchestermusiker*innen zusammen mit den Tänzer*innen. Eine großartige Schlussszene, in der nach Alleingängen sich das Ensemble wieder als Gruppe findet und gemeinsam klatschend und stampfend den Abend beschließt.
Wie meist ist Jacopo Godani auch diesmal wieder für Kostüme, Bühne und Licht verantwortlich. Ich finde, er hat diese Aufgabe hervorragend gemeistert und das Bockenheimer Depot in eine Kathedrale goldenen Lichts verwandelt.
Ein in sich stimmiger Abend, den ich nur empfehlen kann: Die Dresden Frankfurt Dance Company im Zusammenspiel mit dem hr-Sinfonieorchester begeistert dank des gut aufgelegten Ensembles, das durch Virtuosität und Zusammenspiel überzeugen konnte und den Musiker*innen unter Leitung von Lucas Vis, die die Schwierigkeiten beim Spielen neuer Musik bravourös meisterten – auch dann, wenn sie verteilt im Raum musizierten.
Letzte Änderung: 02.12.2021 | Erstellt am: 30.11.2021
„When the dust settles“ – getanzt von der Dresden Frankfurt Dance Company im Bockenheimer Depot
www.dresdenfrankfurtdancecompany.com
Aufgrund der Coronalage werden derzeit weder -Termine noch Spielorte angegeben – bitte informieren Sie sich auf der Webseite der Company über die neusten Entwicklungen.
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