Künstlern wird gerne alles und jedes angelastet, vorzüglich, wenn sie denn eines haben, – ihr politisches Engagement. Was jeder Bürgerin und jedem Bürger als ihr gutes Recht zugestanden wird, schlägt den Künstlern stets zum Nachteil aus. Der Musikerkomponist Frederic Rzewski, eine Persönlichkeit mit Ecken und Kanten und ein Feuerkopf dazu, gehörte zu den wenigen, die mit Wort und Musik Stellung nahmen. Jetzt hat Benyamin Nuss Rzewskis Klaviervariationen über „El pueblo unido“ eingespielt, die Thomas Rothschild empfiehlt.
Benyamin Nuss mit Rzewskis „El pueblo unido“ und anderem auf 2 CDs
Auf der einen Seite verlangt man von russischen Musikern, bei Androhung eines Auftrittsverbots, dass sie explizit gegen Putin und den Angriff auf die Ukraine Stellung nehmen. Auf der anderen Seite beschimpft man Musiker, so etwa den Pianisten Igor Levit, wenn sie sich öffentlich zu politischen Themen äußern. Sie mögen sich doch bitte auf die Kunst beschränken. Es kommt eben immer drauf an, wofür oder wogegen gesprochen oder geschwiegen wird. Die Rügen der Außenstehenden sind pure Heuchelei. Sie geben sich moralisch und machen sich zu Bütteln der herrschenden Normen. Sie werfen Currentzis vor, was sie Karajan oder Karl Böhm verziehen haben. Nun mag man sich wünschen, dass jede und jeder, also auch Currentzis aufbegehrt gegen Krieg und Despotismus. Aber das Pharisäertum der doppelzüngigen deutschen Sittenwächter drängt den Schluss auf, dass ihnen Sympathisanten und Mitläufer des Nationalsozialismus näher sind als jemand, der der Loyalität mit Russland verdächtigt wird. Und wie immer man dazu steht, auch für die Russen gilt, was bei jeder Kritik an Israel über die Juden vorgebracht wird: Das Leid, das Deutsche ihnen im Zweiten Weltkrieg angetan haben, bedingt eine „besondere Beziehung“, die auch bei berechtigter Kritik Zurückhaltung fordert.
Wenn also Künstler politisch Stellung beziehen wollen, so mögen sie es, sagen manche Kulturpolizisten, in ihren Werken, in der Sprache der Kunst tun, nicht mit Worten (zu denen eigentlich jeder Bürger, ob Künstler oder Metzger, berechtigt ist). Politik in der Musik ist selten und nicht leicht umzusetzen, aber es gibt sie, auch ohne Lied- oder Operntexte. Zum Beispiel bei Krzysztof Penderecki, zum Beispiel bei Max Roach. Einen der bedeutendsten Belege lieferte in der Gegenwart der 1938 geborene und im vergangenen Jahr gestorbene amerikanische Komponist Frederic Rzewski mit seinen knapp einstündigen Variationen auf „El pueblo unido jamás será vencido“ von der chilenischen Gruppe Quilapayún und dem Komponisten Sergio Ortega, die übrigens bezeichnenderweise auch Igor Levit in seinem Repertoire hat. Das Lied wurde seinerzeit zur „Hymne“ des Widerstands gegen Pinochet. Dass die Wahl dieses Liedes für Rzewski ein politisches Statement war und nicht bloß die Ausbeutung einer schönen Melodie, verdeutlicht er durch die Amalgamierung mit Hanns Eislers „Solidaritätslied“.
Die meist weniger als zwei Minuten langen Variationen, die zum Teil ohne Unterbrechung in einander übergehen, bilden die Hälfte einer Edition von Klavierwerken Rzewskis in der Interpretation von des 33jährigen deutschen Pianisten Benyamin Nuss auf zwei CDs. Die zweite CD enthält „North American Ballads“, darunter – auch dies eine politische Aussage – das populäre Spiritual „Down by the riverside“, und Variationen über das jiddische Lied „Mayn Yingele“.
Rzewskis Klaviermusik ist schwer zu spielen und leicht zu hören. Die zeitgenössischen Kompositionstechniken sind Rzewski erkennbar vertraut, aber er liefert hinreichend tonale Stützen, um auch avantgardefernen Zuhörern den Zugang zu ermöglichen. In seine kurzen Stücke mischen sich sparsam Elemente des Jazz und der Folklore. In diese Richtung weisen auch die Improvisationen, die die Variationen von „El pueblo unido“ ergänzen.
Letzte Änderung: 29.08.2022 | Erstellt am: 29.08.2022
Frederic Rzewski Unite!
North American Ballads; Mayn Yingele; The People united will never be defeated
Benyamin Nuss (Klavier)
2 CDs
Label Berlin, DDD, 2022