Eine unendliche Klaviergeschichte

Eine unendliche Klaviergeschichte

CD-Empfehlungen

Wer auch nur ahnt, wie viel Musik für Klavier komponiert wurde und wie viel davon seit der Ära der Tonträger davon aufgezeichnet wurde, wird darüber staunen dürfen, wie viel davon aufgezeichnet, aber nicht veröffentlicht wurde. Was in letzter Zeit von Scarlatti bis Ligeti auf CDs erschien, eingespielt von bekannten Musikern von Walter Gieseking bis Yuja Wang, hat Hans-Klaus Jungheinrich in seinem letzten Beitrag vor seinem plötzlichen Tod assoziativ miteinander in Beziehung gesetzt.

Viel Klaviermusik heute, das meiste aus den 1940er bis 1960er Jahren, durchweg Unveröffentlichtes oder wenig Bekanntes, vom Hänssler-Verlag nun in der Profil-Reihe präsentiert in ansprechenden Kassetten oder Mehrfachalben mit ausreichenden, aber nicht gerade splendiden Booklets – über die Aufführungs- und Veröffentlichungsgeschichte der vorgelegten Tondokumente hätte man gerne mehr erfahren.

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Zur Einstimmung aber eine übersichtliche pianistische Aktualität, mit der das Label Deutsche Grammophon Gesellschaft, ein Schmetterling, der gewissermaßen winterlich schlafstarr an der frostigen Scheibe des Tonträgergeschäfts klebt, wieder einmal an seine offiziell noch nicht aufgegebene Existenz erinnert. Die Zeiten, als aus diesem Haus bibliothekfüllende Großanthologien und Gesamtausgaben hervorgingen, sind lange vorbei. Aber zu saisonalen Recitals reicht’s noch, und so kann man auch fern der Hauptstadt das Berliner Konzert der chinesisch-kanadischen Pianistin Yuja Wang nacherleben, das sie im Juni 2018 im Kammermusiksaal der Philharmonie gab (DG 4836280).

Ein ambitioniertes, modernes, nicht allzu breit facettiertes, ein auf seine Weise schnittig-elegantes Programm: Vier Rachmaninow-Piècen, mehr „sophisticated“ als neronisch auftrumpfend; Aleksandr Skrjabins in sanft mystischer Atonalität brodelnde 10. Sonate; drei behänd-verhexte Proben aus der virtuos-alchimistischen Giftküche des Etüdenœuvres von György Ligeti; schließlich, als Hauptwerk, Prokofjews 8. Sonate, ebenso von melodiöser Intensität erfüllt wie mit prunkenden Tastengewittern aufwartend. Mit wachem dramaturgischen Instinkt absolviert die junge Erfolgskünstlerin den atemberaubenden Gang durch diese funkelnd klavieristische Geschmeide-Galerie, und mit ihrem Talent, noch das Extravaganteste (Ligeti!) leicht und „natürlich“ erscheinen zu lassen, gemahnt sie, wie schon mancher feststellte, an die junge Martha Argerich, an deren federnde Beweglichkeit und jäh zupackende Kraft.

Noch eine Spitzmarke zur Edition: Das Coverfoto zeigt Yuja Wang als Pinup-Girl in mutmaßlich bikinihaftem Dessous am Klavier stehend. Rückseite und Rückenansicht korrigieren: Es handelt sich um ein besonders raffiniert geschnittenes, um die zierliche Figur sich schmiegendes Abendkleid. Man kennt das seit längerem, vor allem bei sehenswerten Geigerinnen: Die Karte der Sex-Animation muss auch im „seriösen“ Klassik-Geschäftsfeld ausgespielt werden, um nach Kräften noch die verborgensten Kaufgelüste hervorzulocken. Oder fröhnen hübsche Artistinnen bloß ganz banal ihrem Narzissmus?

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Vier CDs unter dem Motto „The Successful Beginning“ mit der jungen Martha Argerich (Hänssler Profil PH 18050). Ihr Ravelspiel von damals hörend, versteht man, warum ihre frühen Auftritte wie musikalische Vulkanausbrüche empfunden wurden. Ausgreifende Dynamik, blitzschnelle Farbwechsel, ein jäh zwischen wütender Tongewalt und ersterbender Zartheit changierender Duktus – das Triptychon „Gaspard de la Nuit“ ist kaum je spannender evoziert worden. Nicht minder bestrickend die sublime Infantilität der Sonatine. Und schließlich Ravels Klavierkonzert G-Dur, an deren schneidend-schnörkellosem Lakonismus auch die Wiedergabekunst des Südwestfunk-Sinfonieorchesters unter der Leitung von Ernest Bour (1960) ihren gebührenden Anteil hat.

Auf problematischere Weise interessant als die Ravel-CD sind die Mozartsonaten mit Martha Argerich. Die gemeinhin als eher grimmig empfundenen Ecksätze der a-moll-Sonate KV 310 erscheinen hier merkwürdig miniaturisiert und puppenhaft, wie aus einem umgedrehten Fernglas betrachtet. Ein seltsames Mozartbild. Zumal sich die Pianistin als eine im Dauerpresto losflitzende Schnellspielerin geriert. Unvermeidlich, dass man da an die betuliche, eigentlich ein bisschen unmögliche Grete Wehmeyer denkt und ihr Gebot, alle „Klassiker“-Tempi um die Hälfte zu reduzieren.

Erholung findet man überraschenderweise bei Walter Gieseking, einem für Deutschland wichtigen Debussy-Vermittler, der freilich das „Impressionistische“ an dessen Klaviersphäre favorisierte. Nichts von Sfumato bei seinem Mozartsonatenspiel. Im Vergleich zu Argerich wirkt zum Beispiel das a-moll-Eingangsallegro bei ihm ernst, gesammelt und ohne die sozusagen falsch perlende Eiligkeit der Argerich. Etwas kürzere Spieldauern kommen dennoch zustande, weil Gieseking Wiederholungen weglässt, worüber man streiten kann. Davon abgesehen, bringen die 8 Hänssler-CDs (PH 18026) jedes Spänchen und Stäubchen, was Mozart für das Soloklavier geschrieben hat.

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Der in Odessa geborene Shura Cherkassky gehörte vor 50 Jahren zu den fleißigsten internationalen Tournéekünstlern; in manchen Jahren soll er über 200 Auftritte hinter sich gebracht haben. Vielleicht hat er damit seinem künstlerischen Nimbus eher geschadet – ganz konträr zu einem Michelangeli, der seinen Marktwert durch radikale Verknappung – seine seltenen Abende waren immer unkalkulierbare Glückssache – steigerte. Legendär wurde indes Cherkasskys Gewohnheit, quasi Tag und Nacht zu üben. Ein obsessiver Dauerklavierspieler.

Das Gros seiner Klavierabende wurde sicher durch bekannte Repertoire-Schlachtrösser dominiert, wofür vor allem die Veranstalter verantwortlich waren. Denn Cherkassky hatte ein immenses, bis weit in die Moderne hineinreichendes Repertoire. Mit Stücken aus dem 20. Jahrhundert allein hätte er viele Konzerte bestreiten können. Das vorliegende Hänssler-Gebinde aus 10 CDs (HP 18037) vermittelt immerhin einige Andeutungen, darunter Alban Bergs frühe Klaviersonate, die Cherkassky ohne Exaltiertheit interpretiert, stilsicher und mit „konstruktiv“ gezügelter Expressivität.

Auch beim glamourösen Repertoire meidet Cherkassky die Extreme, ohne dabei je zum Langweiler zu werden. Natürlich kann auch er der Einleitung von Tschaikowskijs b-moll-Konzert die dröhnende Kulissenhaftigkeit nicht wegnehmen. Wenn diese Passage vorbei ist, hat man immer irgendwie das komische Gefühl, das ganze Konzert sei schon vorbei. Vielleicht wird man doch viel mehr elektrisiert vom G-Dur-Konzert, das kaum jemand spielt, das aber ungemein lebendig und kraftvoll daherkommt, gleichsam mit einer ländlich-slawischen Frische und im Finale einer zündenden Motivik, die zudem sehr eingängig ist. Bemerkenswert auch im Kopfsatz (ähnlich wie in demjenigen der 6. Symphonie) Tschaikowskijs anti-beethovensche Strategie, das zweite Thema wie eine in sich geschlossene Welt des „ganz Anderen“ vom Hauptthema abzuheben. Zu diesem Werk, das Cherkassky viel weniger aufgedonnert wiedergibt als etwa Bernhard Böttner, passt diese im schönsten Sinne sachliche Annäherung besonders gut.

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Um deutsche Konzertsäle machte die im 2. Weltkrieg auf alliierter Seite engagierte griechische Pianistin Gina Bachauer auch nach 1945 einen großen Bogen, nicht aber um die deutsche Musik. Der aus vier CDs bestehende Blick auf ihr rares Tonträgererbe ist eine besonders verdienstvolle Veröffentlichungstat (Hänssler Profil PH 18018). Da figuriert, neben Klavierkonzerten von Grieg, Beethoven und Mozart und Solomusik u.a. von Ravel, Debussy und Liszt als geheimes Kern- und Hauptstück das 2. Klavierkonzert B-Dur von Brahms, 1962 aufgenommen mit dem London Symphony Orchestra unter der kongenialen Leitung von Stanisław Skrowaczewski. Bachauer spielt den ausladenden Viersätzer mit unerschütterlicher Grandeur und einer großen inneren Ruhe, zu der sie immer wieder auch nach vehementen Ausbrüchen zurückkehrt. Sicher eine der bewegendsten Vergegenwärtigungen dieser Musik auf Tonträgern.

Selbst ein Hochbedeutender wie Svjatoslav Richter bleibt dahinter zurück, zumindest bei der Version dieses B-Dur-Konzerts von 1960 mit dem Boston Symphony Orchestra. Bei dieser aufnahmetechnisch auffällig imperfekten, verzerrt-eindimensionalen Live-Aufzeichnung mutet Richter deutlich nervös an, was man besonders bei den Schlusspassagen des Scherzos bemerkt. Mehr befreunden konnte ich mich mit der selten gespielten 2.Brahms-Sonate in fis-moll, wo Richter etwa in der letzten Variation des langsamen Satzes mit plötzlich aufrauschenden emphatischen Klangkaskaden aufhorchen lässt.

Gleichzeitig mit dieser umfangreichen Brahms/Schumann-Kassette, die auch einige Kammermusik enthält (PH 17067), wurde noch ein voluminöses Liszt/Chopin-Album publiziert (PH 18041), das ebenfalls Richters eigenwillige Neigung zeigt, dezidierte oder implizite Zyklen zu zerpflücken und zu neuen Zusammenhängen zu fügen. So spielt er nicht alle Chopin-Etüden, sondern stellt eine Auswahl aus den Opera 10 und 25 zusammen. Die Balladen fasst er freilich als Einheit auf und beleuchtet sie in einer auf extreme Kontraste hin ausgelegten Lesart, die gleichwohl überzeugend anmutet – exemplarisch etwa die wie ein rasanter Spuk vorüberhastende Mittelepisode von Nr.2 (F-Dur), die zwanglos in die stille Intimität der Eingangssequenz zurückfindet. Die 4. Ballade f-moll, einer der Höhepunkte von Chopins grenzüberschreitender, poetisches Neuland gewinnender Klavierromantik, wird von Richter mit dem strengen Pathos erfüllt, das stets auch seinen Bach-Exerzitien eigen war.

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Richter und Gilels, ein pianistisches Dioskurenpaar, dessen Verbindung mit der sowjetischen Musikkultur ungeachtet zahlreicher Westreisen erhalten blieb. Insbesondere Richter trat indes ungern in großen Metropolen auf, eher an einem verschwiegenen Treffpunkt für Kenner wie in der sagenumwobenen Scheune („Grange“) im französischen Tours. Richter hatte das wohl noch riesenhaftere Repertoire, das er nicht etwa wiederholsam-schlicht „verwaltete“, sondern auf unberechenbare Weise immer wieder neu sich anzueignen schien. Emil (ursprünglich: Shmuel) Gilels war aber ein ähnlicher Universalist; zu seinen Spezialitäten gehörte etwa die fast nie gespielte As-Dur-Sonate von C.M. von Weber. Diese taucht leider nicht in der 13 CDs enthaltenden Kassette mit Aufnahmen von 1933-1963 auf (PH17065), wohl aber Schuberts ähnlich monumentale „Gasteiner“ Sonate in D-Dur, deren Herzstück der 2. Satz („Con moto“) ist mit einem unfassbar anrührenden, gleichsam in flehenden Synkopen sich aussingenden Mittelteil. Gilels lässt sich hier alle Zeit der Welt, rafft aber die fast unmäßig eloquenten Ecksätze plausibel, so dass kein pomphafter Leerlauf entsteht.

Einer der Größten, die je für ein Tasteninstrument schrieben, war Domenico Scarlatti. Seine unzähligen einsätzigen, in der Regel monothematischen Sonaten werden gerne, vor allem in diversen Gesamtaufnahmen, wie abschnurrende Ermunterungsmaschinen exekutiert. Da klingt dann jede ein bisschen wie im Dutzend. Nichts davon bei Gilels, der geradezu fanatisch und akribisch jede Sonate zu einem „Charakterstück“ formt. Man kann das als „Romantisierung“ apostrophieren; von philologisch informierter Praxis ist Gilels noch weit entfernt. Und der Konzertflügel ist ja tatsächlich eine – heikle – „Transzendierung“ des barocken Originalinstruments. Dennoch hat diese durchaus ins Phantastische vorstoßende Individualisierung der Kleinformate ihr Imponierendes. Gleichsam das Rezept zu seiner Methode liefert Gilels mit zwei behutsam operierenden Scarlatti-Bearbeitungen von Tausig nach, die den programmatischen Effekt einer „Pastorale“ oder eines „Capriccio“ verstärken.

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„The First Steps To Glory“ ist eine Sammlung von frühen Barenboim-Aufnahmen pragmatisch untertitelt – tatsächlich ist die „Glory“ noch unerreicht, es bedarf dafür noch vieler „Steps“. Der junge Barenboim frappierte vor allem durch Unbekümmertheit und eine enorme Kapazität, die sich keine Erreichbarkeitsprobleme zumaß. Schon der Siebzehnjährige traute sich 1959 die Beethoven’sche „Hammerklaviersonate“ zu, und deren monströses Finale samt Fuge klingt bei ihm konziser und durchsichtiger als beim jungen Eschenbach. Das überrascht angesichts des reichlich verschlampten, mit viel Pedal zugedeckten, in seltsam instabilen Tempi dahertaumelnden Kopfsatzes; auch das Scherzo neigt zum Verwischen. Im keineswegs zerdehnten 3.Satz nimmt Barenboim dann aber wirklich große Fahrt auf. Da blitzt also doch schon eine Begabung durch – soll man sie als „episch“ bezeichnen?. Obwohl die Beethovensonaten, hier gut repräsentiert (PH18038), immer ein Zentrum von Barenboims Praxis blieben, kündigt sich doch auch schon ein auf weitere und weiteste Betätigungsfelder sich erstreckender Machtanspruch an. Für ihn wurde bald auch die Pianistik zu eng. Als Musikmacht (nicht zufällig fand Barenboim in Boulez einen Gleichtemperierten) reifte auch die sozusagen säkulare Bedeutung dieses Künstlers, damit zugleich eine gestaltende Präsenz, die das in pianistischer Realisierung Erreichte überflügelte.

Nachbemerkung: Zugegeben, es ist ziemlich verrückt, in einem relativ schmalen Aufsatz nicht weniger als acht oder neun mammutöse Objekte würdigen zu wollen, die zusammen an die 80 Hörstunden beinhalten. Allein Richter ist mit 25 Silberscheiben vertreten. Keineswegs habe ich das alles von A bis Z an- oder abgehört (den hässlichen letzteren Ausdruck vermeide ich fast immer), wenn auch mehr, als im Text erwähnt wird. Das Hörprogramm an einigen Adventsnachmittagen und –abenden folgte keiner vorgefassten Idee, sondern hangelte sich von einem zum anderen. Der Mozart von Martha Argerich leitete zwanglos zum Mozart von Walter Gieseking. Ebenso hätte sich natürlich Bachauers, Cherkasskys oder Gilels‘ Mozart daran anknüpfen lassen. Es war mancherlei Zufälliges, was diese tendenziell unendliche Klaviergeschichte generierte und auf ein – hoffentlich – kommensurables Maß zusammenstutzte. Andere Zufälle, andere Autoren hätten aus dem gleichen Material eine ganz andere Geschichte gemacht.

Letzte Änderung: 27.07.2021

Yuja Wang The Berlin Recital DG 4836280
Martha Argerich The Successful Beginning 4 CDs Hänssler Profil PH 18050
Walter Gieseking Mozart Solo Recordings 8 CDs PH 18026
Shura Cherkassky Piano Masterpieces HP 18037
Gina Bachauer The Rare Recordings 4 CDs Hänssler Profil PH 18018
Svjatoslav Richter plays Schumann & Brahms 12 CDs PH 17067
Svjatoslav Richter plays Chopin & Liszt 12 CDs PH 18041
Emil Gilels Edition 1933-1963 13 CDs PH17065
Daniel Barenboim The First Steps To Glory 4 CDs PH18038
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