„Nicht die Natur lehrt uns die Liebe, es tut der erste Kitschroman. Wir wollen früh das Leben ahnen, und wir erkennen’s – aus Romanen.“ So übertrug Elfriede Eckardt-Skalberg Verse aus dem ersten Kapitel des „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin. Was aber erkennen wir, wenn aus dem Versroman eine Oper von Pjotr Iljitsch Tschaikowski wird, die in Darmstadt aufgeführt wird? Walter H. Krämer hat seine Erfahrung damit notiert.
Isabel Ostermann inszeniert Tschaikowskis Oper Eugen Onegin in Darmstadt
Im Folgenden einige Gedanken und Fakten zu dem Komponisten P.I. Tschaikowski, seiner Oper Eugen Onegin und der Inszenierung der Oper in Darmstadt.
1. Die Oper Eugen Onegin wurde um 1878 von Pjotr Iljitsch Tschaikowski komponiert und basiert auf dem gleichnamigen Versroman Jewgeni Onegin von Alexander Puschkin. Tschaikowski wählte für seine Oper den Untertitel Lyrische Szenen. Die Uraufführung der Oper fand am 29. März 1879 im Maly Theatre in Moskau statt.
2. Am Anfang stand die Suche Tschaikowskis nach einem Sujet, das mit seiner eigenen Geschichte zu tun hatte. Er fand dies in dem Versroman Jewgeni Onegin von Alexander Puschkin, der als Vorlage für das Libretto der Oper diente. P.I. Tschaikowski schrieb 1878 in einem Brief an Sergej Tanejew „Ich suche ein intimes, starkes Drama, das auf Konflikten beruht, die ich selber erfahren oder erlebt habe, die mich im Innersten berühren können.“ Liest man das Libretto von P.I. Tschaikowski und Konstantin S. Schilowskij und hört in die Oper hinein, so darf man feststellen, dass ihm dies mit der Oper Eugen Onegin – Lyrische Szenen in drei Aufzügen vollends gelungen ist.
3. Eugen Onegin hat mit den Opern von Mozart, Wagner, Verdi und Puccini wenig gemein. Form und Erzählweise dieser Oper sind vollkommen undramatisch. Abgesehen von dem Tod Lenskijs (er wird bei einem Duell erschossen) am Ende des zweiten Aktes passiert wenig Aufregendes. Die Oper besteht vielmehr aus einer Reihe von lyrischen Szenen – kein Wunder, dass die Oper 1879 beim Publikum in Moskau, das an die Grand Opéra gewohnt war, nicht gut ankam. Der Untertitel Lyrische Szenen in drei Akten mag ein Hinwies darauf sein, dass er Szene für Szene, wie die Strophen eines Gedichts ins Blickfeld bringen wollte. Ähnlich den Versen Alexander Puschkins, der in überhöhter lyrischer Form eine Geschichte erzählt. Feine Nuancen und Veränderungen kennzeichnen das Libretto und die Komposition Tschaikowskis. Ein Wech-sel von groß angelegten Bällen mit Chor und intimen Begegnungen der Solisten wechseln sich in der Oper ab.
4. Personen in der Oper Eugen Onegin: Larina, Gutsbesitzerwitwe (Mezzosopran), Tatjana, ältere Tochter (Sopran), Olga, jüngere Tochter (Mezzosopran), Filipjewna, Kinderfrau (Mezzosopran), Lenskij, Gutsnachbar und Dichter (Tenor), Eugen Onegin, Gutsnachbar (Bariton), Triquet, ein Franzose (Tenor), Fürst Gremin (Bass), Saretzki, Sekundant (Bass), Guillot, Onegins Kammerdiener (stumme Rolle), Chor: Bauern, Beerenpflückerinnen, Festgäste
5. Olga (Lena Sutor-Wernich) und Tatjana (Megan Marie Hart) leben mit ihrer Mutter Larina (Katrin Gerstenberger) und der Dienerin Filipjewna (Judith Christ-Küchenmeister) auf einem Gut in Russland. Tatjana lebt eher zurückgezogen, liest viel und leidet mit ihren Romanfiguren. Die lebenslustige Olga ist mit dem Schriftsteller Lenskij (David Lee) verlobt, der sie seit Kindertagen liebt. Als Lenskij seinen Freund Eugen Onegin (David Pichlmaier) eines Tages mit auf das Gut mitbringt, verliebt sich Tatjana auf der Stelle in ihn.
Noch in der Nacht schreibt sie ihm einen langen Brief, in dem sie ihm ihre Gefühle offenbart und ihm ihre Liebe gesteht. Als Tatjana ihn wiedertrifft, erklärt er ihr, dass sie nur auf Grund ihrer Jugend in ihn verliebt ist, ohne zu wissen, was das bedeutet und erteilt ihr eine Abfuhr. Auf einem Ball zum Namenstag von Tatjana singt der Franzose Monsieur Triquet (Michael Pegher) ein Loblied auf die schöne Tatjana. Lenskij und Onegin sind ebenfalls eingeladen. Onegin fühlt sich in dieser Atmosphäre allerdings nicht sonderlich wohl und ärgert sich über Lenskij, weil der ihn mit hierhergeschleppt hat. Aus Verärgerung flirtet und tanzt er demonstrativ und provokativ nur noch mit dessen Verlobte Olga. Rasend und wütend vor Eifersucht, fordert Lenskij Eugen Onegin zum Duell. Im Morgengrauen haben beide nicht mehr die Größe, das Duell abzusagen und so endet es mit dem Tod Lenskijs.
Nach Jahren begegnen sich Tatjana und Eugen Onegin auf einem Ball des Fürsten Gremin (Johannes Seokhoon Moon) wieder.
Aus dem kleinen Teenager ist eine selbstbewusste und schöne junge Frau geworden, während Onegin ruhelos umherschweift, immer mit Lenskijs Schatten im Nacken. Sie wirft ihm vor, dass er sie damals mit seiner schroffen Zurückweisung sehr verletzt habe und obwohl sie ihn immer noch liebe, jetzt verheiratet sei und ihrem Mann treu ergeben. Trotz seines Flehens weist sie ihn ab und Eugen Onegin bleibt einsam und verlassen zurück.
6. Die Frauenfigur der Tatjana ist wahrlich einzigartig in der Opernliteratur. Sie unterscheidet sich grundsätzlich von allen anderen Frauenfiguren und Frauenbildern, die in der Opernliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts zu finden sind. Tatjana ist weder krank, noch verrückt, muss nicht sterben, ist nicht grausam, kein Vamp und auch kein Opfer. Verkörpert weder ein erotisches noch moralisches Idealbild. Ist weder Dienerin noch Herrin. Sie ist ganz einfach eine Frau, die klug ihre eigenen Entscheidungen trifft mit all – auch schmerzhaften – Konsequenzen.
7. Ganz am Anfang steht ein Duett der beiden Schwestern Olga und Tatjana, in denen sie ihre Gedanken, Gefühle und Eindrücke einander mitteilen. In dieses Duett hinein komponiert ist die Unterhaltung der beiden älteren Frauen, Larina und Filipjewna. Alt trifft auf jung, und Erfahrungen mit der Liebe werden hörbar und warnend zugleich wird die Vergeblichkeit von Liebe, die immer enttäuscht wird, besungen.
8. Die Briefszene ist eine der schönsten Szenen dieser Oper. Tatjana gesteht in diesem Brief Eugen Onegin ihre Liebe und Bewunderung – ein 17jähriges Mädchen einem 20jährigen jungen Mann. Hier zeigt sich Tatjanas ganze Verliebtheit und dadurch ausgelöste Verwirrung, ihre Frustration, ihre Lust, ihre Erotik und ihre Sehnsucht. Heute weiß man, dass Verliebtheit einen Gefühlscocktail wie bei Zwangserkrankungen auslösen kann, so ist das hier sehr treffend beschrieben. Tatjana kann nicht anders, sie muss sich offenbaren. Das Schreiben dieses Briefes ist ein vielstimmiger innerer Dialog, in dem sie sich über ihre Gefühle und Gedanken gegenüber Onegin klar werden will. Sich selbst, ein Stück Papier und einen Stift – mehr braucht sie nicht, um emotionalen Aufruhr und Verzückung auszudrücken und zu Papier zu bringen. Dieser Ausbruch ihrer Gefühle spiegelt sich auf geniale und mitreißende Weise in der Komposition Tschaikowskis wider.
9. Eugen Onegin erscheint in der Inszenierung von Isabel Ostermann als ein gemeiner und egomaner Mensch, der skrupellos die Gefühle anderer verletzt. Warum er so ist, was er erlebt hat, bleibt im Dunkel. Seine zarte Seite, seine Verletzlichkeit wird nicht deutlich; dabei ist Onegin ist wie Tatjana ein Außenseiter.
10. Tatjana als in sich zurückgezogene, ständig Bücher lesendes und wissbegieriges Mädchen. Onegin als Rebell, aufgebracht gegenüber den bürgerlichen starren Strukturen der russischen Gesellschaft des Adels und der Großgrundbesitzer. Beide, immer am Rande der Gesellschaft stehend. Onegin hat keinen Zugang zu seinen Gefühlen gegenüber Tatjana. Er liebt sie schon, so behauptet er, mehr als ein Bruder, weist sie aber trotzdem ab. Er verlässt sie, reist in der Gegend herum, um sich abzulenken, um sie in der Ferne zu vergessen
Als er nach Jahren zurückkommt, einsam und von seinem rastlosen Leben enttäuscht, ihr unerwartet seine Liebe gesteht und jetzt bereit für eine Beziehung zu sein scheint, ist es zu spät. Tatjana ist längst verheiratet und wird ihrem Ehemann gegenüber auch treu sein und bleiben.
11. Man kann – und hier macht es durchaus Sinn – biografische Momente aus dem Leben des Komponisten bei der Beurteilung der Oper heranzuziehen. Man kann durchaus davon ausgehen, dass sich das Leben Tschaikowski sowohl in der Figur der Tatjana als auch in der Figur von Eugen Onegin spiegelt. Als nicht geouteter schwuler Mann identifiziert sich Tschaikowski sicherlich mit Tatjanas Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, mit ihren Gedanken, ihren Fantasien und ihrer Offenbarung, die ihr letztlich nur Pein und Verletzung bereiten und einbringen. Das alles muss auch Tschaikowski gekannt haben – grüblerische Nächte, Zweifel, ob er jemanden seine Gefühle gestehen, ob er einen Brief verfassen sollte. Enttäuschte Hoffnungen und die damit verbundene Scham. Von Tschaikowski sind mehr als fünftausend Briefe erhalten, die diese Sichtweise bestätigen. Anderseits konnte sich Tschaikowski auch in der Figur des Eugen Onegin – einem Außenseiter mit einem unglücklichen Leben – spiegeln.
Also alles Voraussetzungen für einen wahrhaft tiefgründig packenden Opernabend. Wie sieht es damit jetzt im Staatstheater Darmstadt aus? Entwarnung vorab: die Musik bleibt einem. Notfalls kann man die mehr als zwei Stunden mit geschlossenen Augen durchstehen und die Musik genießen.
12. Ich denke, die Oper als Kammerspiel zu inszenieren (was mag die Regisseurin wohl dazu bewogen haben) – und dafür eine sehr kleine Guckkastenbühne auf die große Bühne des Staatstheaters zu wuchten war keine gute Idee und schafft mehr Probleme als dass sie sich als tragfähig erweist. In dieser Bühne – denn es gibt viel Chorisches und Tänzerisches zu bewältigen – drängeln sich die Protagonisten und es bleibt kaum Raum für Bewegung, sodass die Sänger*innen oft und meist starr und steif im tristen Einheitsbühnenbild von Stephan von Wedel herumstehen.
13. Was die Kostüme (Julia Burkhardt) betrifft, so ist auch hier graue Tristesse in Blockkaro und Leinen angesagt. Solisten und Chor tragen Schlabberlook von Feinsten. Später, als reife Frau trägt Tatjana ein bürgerliches Kleid in braun-gold.
14. Alle drei großen Gesangspartien – Tatjana, Eugen Onegin und Lenskij – sind mit Ensemblemitgliedern besetzt, die in ihren jeweiligen Rollen ihr Debüt geben.
Megan Marie Hart spielt Tatjana – durchaus angemessen – als schwärmerischen Teenager, der sich von null auf gleich in Eugen Onegin verliebt und diesem nach etlichen Grübeleien per Brief ihr Liebe gesteht. In Darmstadt wirkt diese Szene sehr hektisch – mit Krabbeleien auf dem Boden und hektischer Griffel Führung. Das schwärmerische Verliebtsein und die Sehnsucht gehen unter in rastlosem hin und her. Nach Jahren ist sie gereift und kann die zu spät erfolgte Werbung Eugen Onegins klar und deutlich zurückweisen. In Darmstadt öffnet sich dafür die hintere Wand der Guckkastenbühne, und man sieht einen gedeckten Tisch, an dem schon ihr Mann, ihre Schwester und ihre Mutter Platz genommen haben. Demonstrativ setzt sie sich dazu. Onegin im Vordergrund kauert weinend und wehklagend im Vordergrund. Ein treffendes Bild. Deutlich wird hier auch, dass die Beziehung der beiden nicht an Intrigen oder Standesunterschieden scheitert, sondern einzig und allein an der nicht synchron verlaufenden emotionalen Entwicklung der beiden Hauptfiguren. Wer sich fragt, ob die Beiden wirklich eine Chance gehabt hätten oder ob ihre Liebe an der Unstetigkeit Onegins gescheitert wäre, erhält keine Antwort.
15. Die Figur des Eugen Onegin (David Pichelmaier) erscheint als dezenter Paradiesvogel in braun, im kariert und grau dominierten Bühnen- und Kostümbild. Man nimmt ihm sein Draufgängertum nicht wirklich ab. Seine stärkste Szene hat er, als er seinem Duellgegner Lenskij zur Versöhnung die Hand reichen will, um das Duell noch zu verhindern. Dieser lehnt jedoch ab und das Duell – in der Inszenierung wahrlich besonders und meisterhaft gestaltet – keine Schießeisen, sondern das Umkreisen des Gegners und ein tödlicher Blick lässt Lenskij zu Boden sinken. Jetzt erst realisiert Eugen Onegin die Tragik des Geschehens und beugt sich über seinen toten Freund. Jetzt – so fragen sich interessierte Zuschauer*innen – wie kommt der Leichnam von der Bühne? Eugen Onegin hebt ihn auf, umklammert ihn und ein Tanz mit dem Toten nimmt seinen Lauf. Am Ende erscheint Lenskij Eugen Onegin als Geist, der ihn nicht in Ruhe lässt. Eine Verfolgungsjagt folgt auf das Tänzchen, bis Lenskij endlich im Bühnenhintergrund verschwindet.
16. Vielleicht wäre es gut gewesen, mehr mit Licht zu arbeiten, dieses Medium zu nutzen, als eine von vielen Möglichkeiten, um die Szenerie zu beleben und Stimmungen und Gefühle auszudrücken. Im letzten Akt beispielsweise taucht das Licht die Bühne in Gold und ein gewisser Glanz und Zauber durchflutet den Raum.
17. Gesanglich ragen David Lee als Lenskij und Johannes Seokhoon Moon auf Seiten der Männer hervor. Auf Seiten der Frauen Megan Marie Hart als Tatjana und Lena Sutor-Wernich als Olga – die im Übrigen leichtfüßig und spielerisch durch die Szene tanzt. Vieles an Gesang und Darstellung blieb an diesem Premierenabend auf der Bühne und fand nicht den Weg zum Publikum. Die Charaktere wurden im Laufe der Oper nicht transparenter, sie blieben starr und ihre Motivationen und Gefühle wirkten eher wie einstudierte Gesten.
Einen letztlich sehr komischen Auftritt darf Michael Pegher als Monsieur Triquet hinlegen, wenn er Tatjana zu ehren, ein französisches Couplet im wahrsten Sinne des Wortes auf rutschenden Knien zum Besten gibt.
18. Das Staatsorchester Darmstadt unter Leitung von Johannes Zahn war bemüht, Tschaikowskis Partitur zum Klingen zu bringen. Ebenso der Opernchor und der Extrachor des Staatstheaters.
Der musikalischen Interpretation fehlten allerdings die Feinheiten und Nuancen. Tschaikowski hat mehr komponiert, als hier in der Partitur gelesen wurde.
19. Alles in allem war dieser Premierenabend eher zu wenig als zu viel, ohne dass man hätte sagen können: Weniger ist mehr!
PS: Wann begreifen Opernbesucher*innen endlich, dass eine Oper keine Nummernrevue ist, und jedes Lied / jede Arie mit Klatschen goutiert werden muss, sondern, ein stetiger musikalischer Fluss, an dessen Ende wohlverdienter Beifall steht?!
Nächste Vorstellungen am 14. Mai sowie 2. und 22. Juni im Staatstheater Darmstadt
https://www.staatstheater-darmstadt.de/veranstaltungen/eugen-onegin.1149/
https://www.suhrkamp.de/buch/alexander-puschkin-jewgeni-onegin-t-9783458342243
Letzte Änderung: 11.05.2023 | Erstellt am: 10.05.2023
LARINA
KS Katrin Gerstenberger
TATJANA
Megan Marie Hart
OLGA
Lena Sutor-Wernich
FILIPJEWNA
Judith Christ-Küchenmeister
EUGEN ONEGIN
David Pichlmaier
LENSKIJ
David Lee
FÜRST GREMIN
Johannes Seokhoon Moon
SARETZKIJ
Stefan Grunwald
TRIQUET
Michael Pegher /
Marco Mondragon
HAUPTMANN
Myong-Yong Eom
MONSIEUR GUILLOT
Khvicha Khozrevanidze
VORSÄNGER
Juri Lavrentiev
Staatsorchester Darmstadt
Opernchor des Staatstheaters Darmstadt
Extra-Chor des Staatstheaters Darmstadt
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MUSIKALISCHE LEITUNG
Johannes Zahn /
Jan Croonenbroeck
REGIE
Isabel Ostermann
BÜHNE
Stephan von Wedel
KOSTÜM
Julia Burkhardt
CHOREOGRAFIE
Tiago Manquinho
CHOREINSTUDIERUNG
Ines Kaun
DRAMATURGIE
Frederike Prick-Hoffmann
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