
Eine großartige Sängerriege und ein enorm nuancierter Orchesterklang sorgen in der neuen Parsifal-Produktion an der Oper Frankfurt für einen besonderen Musikabend, wie Stefana Sabin findet. Das Premierenpublikum war begeistert und feierte mit anhaltendem Applaus Sänger und Orchester.
Der Dirigent schleicht sich unbemerkt in den Orchestergraben, während auf dem als Leinwand fungierenden Vorhang eine schemenhafte Kirchenfassade erscheint. Bei den ersten Klängen des Vorspiels dann hat man die Kathedrale von Rouen in der impressionistischen Sichtweise von Claude Monet erkannt.
Damit versetzt Brigitte Fassbaender in ihrer jetzigen Parsifal-Inszenierung die Handlung der Oper in die Zeit ihrer Entstehung, also von ursprünglich Ende des 13. Jahrhunderts ans Ende des 19. Jahrhunderts, als sowohl das kirchliche Bauwerk (1876) als auch die Gemälde (1892-1894) und die Oper (1882) entstanden sind. Den drei musikalischen Motiven aus dem Vorspiel werden jeweils drei Varianten des malerischen Motivs zugeordnet. Die Bilder verblassen nach und nach, und der Vorhang gibt den Blick frei auf eine dunkle Bühne, die links und rechts von grauen Mauern umschlossen ist; in der Mitte stehen Felsen, die zu den wenigen Accessoires gehören; im Hintergrund kann man eine Waldlichtung ausmachen, in der wiederum ein impressionistisches Gemälde von Monet einen ruhig dahinfliessenden Fluß zeigt, also das, was Wagner als Schauplatz des ersten Bildes im ersten Akt des Parsifal vorsah.

Auch in den anderen Akten werden die Schauplätze der Handlung eher suggeriert als dargestellt. Die Gralsritter um den verletzten Amfortas sind in dieser Inszenierung ein Männerbund in Gründerzeit-Kleidung (Bühnenbild und Kostüme Johannes Leiacker), der merkwürdige Rituale wie die Enthüllung des Grals zelebriert.
Denn die Oper, deren erste Skizze 1857 in Zürich entstand und deren komplette Partitur Anfang 1882 während eines längeren Aufenthalts in Palermo fertig wurde, ist ein Bühnenweihfestspiel, so die Gattungsbezeichnung, die Richard Wagner für sein letztes musikdramatisches Werk prägte. Wagner glaubte, wie er in seiner Schrift Religion und Kunst formulierte, dass es „der Kunst vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche sie im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach erfasst, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen.“ Um die tiefe Wahrheit von der Möglichkeit der Erlösung durch Mitleid freizulegen, griff Wagner auf das mittelalterliche Versepos von Wolfram von Eschenbach über den Ritter Parzival zurück, der seinerseits den altfranzösischen Roman Perceval ou le Conte du Graal von Chrétien de Troyes adaptiert hatte.

Den Namen Parzival hatte Wolfram vom französischen Perceval angepaßt, das soviel heißt wie „Taldurchdringer.“ Schon bald nachdem er begonnen hatte, die Geschichte des Ritters Parzival für sich zu erschließen, änderte Wagner die Schreibweise des Namens zu Parsifal. Er soll sich dabei auf die angeblich persischen Worte „parsi“ für „Tor“ und „fal“ für „rein“ bezogen haben und somit den Namen entwelscht haben. Wagners Parsifal ist ein herzensreiner Tor.
Wagner reicherte die mittelalterliche Rittergeschichte mit christlichen Motiven an und konzentrierte die Handlung auf den Erlösungsgedanken, der auch in seinen frühen Werken dominiert. Zugleich reduzierte er das Personal auf wenige Hauptfiguren und änderte die Bedeutung der Reliquien: Der Gral ist bei Wagner Jesu Trinkbecher beim Abendmahl, der auch sein Blut am Kreuz auffing. Der Heilige Speer ist jener, mit dem Jesus am Kreuz seine Seitenwunde beigebracht wurde.

Es geht in Wagners Bühnenweihfestspiel um den guten Gralskönig Amfortas, der sich im Kampf vom bösen Zauberkönig Klingsor den Heiligen Speer entnehmen ließ, als er von Kundry, „einem furchtbar schönen Weib,“ das im Auftrag Klingsors agierte, verführt wurde. Klingsor verletzte ihn mit dem heiligen Speer wegnehmen und seitdem hat Amfortas eine Wunde, „die nie sich schließen will“ und die jedesmal, wenn der Gral enthüllt wird, von neuem aufbricht und blutet. Aber der Gral muß enthüllt werden, um den Rittern Kraft zu spenden. Erlösung wird Amfortas nur bringen „durch Mitleid wissend, der reine Tor.“
Das alles erzählt der Gralsritter Gurnemanz im ersten Akt, während er auf den leidenden Amfortas wartet, der im heiligen See baden will. Da stürzt ein Schwan herab und in dem herbeigeführten Schützen Parsifal glaubt Gurnemanz jenen reinen Tor zu erkennen, der seinem König Erlösung bringen würde. Im zweiten Akt ist Parsifal in Klingsors Reich, wo er Kundrys Verführung tapfer widersteht, und denn Klingsor den Heiligen Speer wegnimmt, sodass das Zauberreich versinkt. Im dritten Akt dann, der an einem Karfreitag spielt, kommt ein scheinbar Fremder ins Gralsgebiet und in ihm erkennen Kundry und Gurnemanz den reinen Tor Parsifal, der den Heiligen Speer trägt. Als Zeichen, dass sie in ihm den Erlöser sieht, wäscht ihm Kundry die Füße, wie Maria Jesu die Füße wusch, und Gurnemanz salbst ihn zum neuen Gralskönig. Parsifal tauft Kundry und tritt dann zu den Rittern, die von dem leidenden Amfortas die Enthüllung des Grals verlangen. Durch die Berührung mit dem Heiligen Speer schließt sich Amfortas Wunde und wird der Gral enthüllt.
Fassbaender inszeniert ein Happy End: erlöst fallen sich Kundry und Amfortas in die Arme und gehen als Paar ab, während die Gralsritter sich selbst feiern und auf die Gralsenthüllung mit Sektkelchen anstoßen.
Mit derart prosaischen Einschüben versucht Fassbaender bei allem Verzicht auf Aktualisierung und Modernisierung den mythisch aufgeladenen Inhalt der Handlung zu konterkarieren, ja ihn zu relativieren, was nur bedingt gelingt. Denn in ihrer essentiellen Wucht läßt die Musik keine Relativierung zu und ohne den mythischen Ernst droht die Geschichte ins Albernen zu versinken.
Was Fassbaender dagegen durchaus gelingt, ist die Deutung der Kundry als eine zerrissene Figur: “Urteufelin” und zugleich “Höllenrose”, Verführerin und zugleich büßende Dienerin. War sie in der Frankfurter Inszenierung von Christof Nel eine besonders tragische Gestalt, die von Klingsor wie eine Puppe gelenkt und von den Rittern bedrängt wurde, wird Fassbaenders Kundry regelrecht gerettet: Statt im Blechbläsercrescendo am Altar tot umzufallen, wie im Libretto vorgesehen, wird sie zum Leben und zur Liebe erweckt. Auch die Besetzung der Kundry mit einem Sopran und nicht, wie heute üblich, mit einem Mezzo, verleiht der Figur eine besondere emotionale Dimension. Und Jennifer Holloway in ihrem Rollendebüt als Kundry wechselt souverän zwischen der einschmeichelnden Melodie der Verführung und den dynamischen Tönen der Sünderin.
Alles in allem ist diese Aufführung ein musikalisch großartiger Abend. Der Chor unter Gerhard Polifka füllt den Raum mit Sphärenklängen, und das Orchester unter Thomas Guggeis erreicht eine symbiotische Einheit ̶ ein Sonderlob verdienen die Hornisten und die Harfe-Spieler. Guggeis läßt die Tempi regelrecht strömen, ganz wagnerisch erzählend.
Außer Alfred Reiter als Titurel, der im kurzen Auftritt die Tragik des ermatteten Königs wiedergibt, sind die großen Partien Rollendebüts. Was zuerst als mutige Entscheidung erschien, trug möglicherweise geradezu zum musikalischen Erfolg dieser Produktion bei, insofern als die Sänger gewissermaßen unbelastet waren und sich auf die eher kammerspielartige Rollenführung von Fassbaender und auf das subtile Dirigat von Guggeis uneingeschränkt einließen.
Als Klingsor setzte Iain MacNeill alle Register stimmlicher Charakterisierung ein und schuf eine schillernde, mephistophelisch perfide Gestalt. Nicholas Brownlee verlieh seinem Amfortas mit nuanciert machtvollem Gesang glaubhafte Zerrissenheit und Verzweiflung. In der Rolle des Gurnemanz, der größten Partie der Oper, war der Jenaer Bass Andreas Bauer Karnabas eine rührende und berührende Figur und verband scheinbar unangestrengt kraftvollen Gesang mit bemerkenswerter Textverständlichkeit ̶ und trat so an der Seite der wohl prominentesten Gurnemanz-Interpreten René Pappe und Georg Zeppenfeld. Und der amerikanische Tenor Ian Koziara gab den Parsifal mit angemessen naivem Charme und gezähmter stimmlicher Kraft.
In Wagners Kunstreligion ist Parsifal der Heiland, der die Wunden der Menschheit zu sühnen und zu schließen vermag. Wagner meinte, in dieser Oper eine musikalisch-dichterische Kunstform gefunden zu haben, die eine „entrückende Wirkung auf das Gemüt“ ausübe. Falls das überhaupt gelingen kann, dann bei dieser musikalisch tatsächlich großartigen Aufführung in Frankfurt.

Letzte Änderung: 22.05.2025 | Erstellt am: 21.05.2025
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