Die verblendete Seite der Aufklärung

Die verblendete Seite der Aufklärung

Die Auswahl des Theatertreffens der Berliner Festspiele 2024
Nora Hertlein-Hull, Leiterin des Theatertreffens | © William Hull

Mit einer Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen zu werden, berechtigt zu den schönsten Hoffnungen. Die Jury hat entschieden, wer kommen darf. Und eine neue Leiterin, die das bis dahin amtierende Kollektiv ablöst, ist eingestellt. Die in Österreich geborene Nora Hertlein-Hull ist eine studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin, leitete internationale Festivalproduktionen und arbeitete als Produktionsleiterin und Tournee-Regisseurin. Walter H. Krämer hat sich die Auswahl der Produktionen angesehen.

Die siebenköpfige Jury für das Theatertreffen hat entschieden, und die Vorfreude auf das Treffen in Berlin 2024 vom 2. bis 19. Mai ist groß. Nach dem untauglichen Versuch, das Theatertreffen zu internationalisieren und ein vierköpfiges Leitungsteam zu etablieren, richtet sich das Theatertreffen in diesem Jahr neu aus und hat mit der Festivalleiterin Nora Hertlein-Hull eine erfahrene und kompetente Frau an der Spitze gefunden, die gleich bei ihrem ersten Auftritt den Eindruck erweckte, dass sie die Richtige ist für diesen Job.

Auf einer Pressekonferenz am 26. Januar 2024 im Haus der Berliner Festspiele gab die neue Festivalleiterin Nora Hertlein-Hull gemeinsam mit der Jury des Theatertreffens die Auswahl der zehn bemerkenswerten Inszenierungen bekannt, die für eine Einladung zum 61. Theatertreffen nominiert sind.

Die Kritiker*innen Eva Behrendt, Janis El-Bira, Theresa Luise Gindlstrasser (Jurytätigkeit bis Ende 2023), Valeria Heintges, Martin Thomas Pesl, Katrin Ullmann und Sascha Westphal sichteten und diskutierten im Zeitraum vom 21. Januar 2023 bis 17. Januar 2024 insgesamt 690 Inszenierungen in 82 Städten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Für den Auswahlprozess galt weiterhin die im Jahr 2020 eingeführte Frauenquote von mindestens 50 Prozent in der Regieposition. Die finale Jurysitzung über die 43 Produktionen – siehe Shortlist* – die letztlich zur Auswahl standen, fand am 25. Januar 2024 im Haus der Berliner Festspiele statt.

Und das Ergebnis kann sich diesmal wirklich sehen lassen und, soweit ich das überblicke, ist das Gemurre über die Auswahl in diesem Jahr kaum vorhanden. Kann nur an der diesjährigen Auswahl der 10 bemerkenswerten Inszenierungen liegen und die hat es in sich. Neben „Die Hundekot-Attacke“ sind neun weitere Stücke aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zum Berliner Theatertreffen 2024 eingeladen.

Erstmals eingeladen ist die Regisseurin Jette Steckel mit der Tragikomödie Die Vaterlosen von Anton Tschechow von den Münchener Kammerspielen. Jette Steckel inszeniert Anton Tschechows erstes Theaterstück als zeitgenössischen Tanz auf dem Vulkan mit u.a. Wiebke Puls und Joachim Meyerhoff. Und als ob das nicht schon genug wäre, gibt es noch einen zusätzlichen Monolog von Katja Brunner und die „Dead Man Talking“, in der bei jeder Aufführung der Dramaturg Carl Hegemann ältere Herren (und Damen) nach den Erfahrungen von Vaterlosigkeit befragt. „Ein Schauspielfest der kollektiven Verdrängungen und Projektionen!“

Nach 2023 zum zweiten Mal dabei ist Rieke Süßkow mit ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM und Ein europäisches Abendmahl von Werner Schwab vom Staatstheater Nürnberg. Inszenierungen von der noch jungen Regisseurin scheinen die Mitglieder der Jury zu beeindrucken. War doch in diesem Jahr noch eine zweite Inszenierung von ihr im Gespräch. Rieke Süßkow hat das 1991 erschienene „Fäkaliendrama“ von Werner Schwab genau gelesen und es perfekt in Szene gesetzt.

Und auch in Zürich ist die Freude über eine Einladung groß. Eingeladen ist Riesenhaft in Mittelerde™ – ein 1250-Seiten Roman nach „Der Herr der Ringe“™ von J.R.R. Tolkien auf der Bühne. Eine begehbare Inszenierung von Theater HORA, Das Helmi Puppentheater und Schauspielhaus Zürich. Regie: Nicolas Stemann, Stephan Stock, Florian Loycke & Der Cora Frost. „Das hat Klasse, das hat Selbstbewusstsein, das feiert das Theater (…) Ein immersives Spektakel, bei dem sowohl Tolkien-Expert*innen als auch Hochkultur-Nerds auf ihre Kosten kommen und alle gemeinsam das Böse besiegen“.

Mit dem Titel Die Hundekot-Attacke hat das Theaterhaus Jena maximale Aufmerksamkeit bekommen, und ganz nebenbei ist es auch noch ein gut gemachtes Stück über Theatermachen in der Provinz, Differenzen im Ensemble, das Sein als Schauspieler und über mediale Aufmerksamkeit geworden. Ein Abend über die Machtstrukturen im Theater, den Geniekult, über das „zugleich anziehende und ekelerregende Wort“ Hundekot. Und es ist vor allem ein Abend, der den Theater- und Kunstbetrieb hinterfragt. „Kurz gesagt: ein charmanter, hinreißender Abend, in dem natürlich ein Dackel eine Rolle spielt, ein Choreograf und eine Kritikerin.“

Gleich zweimal sind Produktionen der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin eingeladen. Da ist einmal Falk Richter mit The Silence und Yael Ronen mit Bucket List.

In Bucket List gelingt es, gegenwärtig zu sein, ohne sich konkret mit dem Grauen des 7. Oktober 2023 auseinanderzusetzen. „Stattdessen: Vertrauen aufs Eigene, die Kunst, Musik und die ursprüngliche Geschichte.“ Ein berührender Abend – hochaktuell und mitten ins Herz.

Falk Richter macht sich in seinem autofiktionalen Stück The Silence auf die Suche nach Gründen für das Schweigen, das seine Kindheit und Jugend in der Nordheide geprägt hat und reflektiert am Beispiel der eigenen Familie, wie tief die Spuren von Faschismus und Kriegserfahrung in die bundesrepublikanische Mentalität reichen und lässt das Publikum daran teilhaben.

Im letzten Jahr nicht dabei: die großartige Schauspielerin Lina Beckmann – jetzt mit Laios / ANTHROPOLIS II von Roland Schimmelpfennig in der Regie von Karin Beier vom Deutsches SchauSpielHaus Hamburg zum Theatertreffen eingeladen. „Mit einer irrlichternden Sicherheit füllt Lina Beckmann die schwarzen Bühnenweiten. Mit grandioser Geistesgegenwart, körperlicher Geschmeidigkeit und überwältigender Spiellust beschwört sie eine große ferne Welt und bleibt dabei stets in Kontakt mit dem Publikum. Von der Unbeschwertheit eines Teenagers über die Abgründe eines Butoh-Tänzers, das Kalkül eines Politikers bis hin zum unheilvollen Husten einer Seherin fasziniert Beckmann in wechselnden Rollen.“

Das Schauspielhaus Bochum versucht sich in der Regie von Johan Simons mit einer neuen Deutung des Macbeth von William Shakespeare als Prototyp des absurden Theaters. „Als Farce gedacht erstrahlt die Tragödie in neuem Glanz, den ihr nicht zuletzt Marina Galic, Jens Harzer und Stefan Hunstein verleihen. Sie spielen alle Rollen und nutzen die schnellen Übergänge von einer Figur zur anderen immer wieder für abgründige Gags.“

Einmal mehr eingeladen eine Produktion von Ulrich Rasche wie immer verantwortlich für Regie und Bühne. Diesmal mit Nathan der Weise Dramatisches Gedicht in fünf Akten von Gotthold Ephraim Lessing, produziert für die Salzburger Festspiele. „Das Licht der Aufklärung strahlt in Ulrich Rasches Inszenierung von Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ so hell und gleißend, dass niemand sagen kann, ob es die Menschen in eine bessere Zukunft führt oder einfach nur blendet. Die kurzen, eingestreuten Fremdtexte von Johann Gottlieb Fichte und Voltaire deuten Letzteres an. In ihnen offenbart sich die verblendete Seite der Aufklärung, unter deren Denkern sich auch hemmungslose Antisemiten befanden. Antisemiten, gegen die Lessing auf eher pessimistische Weise Stellung bezogen hat.“ Eine Inszenierung, die aktueller nicht sein könnte in diesen Zeiten, wo sich Antisemitismus verstärkt auf unseren Straßen und an Hauswänden zeigt. Und kaum eine andere Schauspielerin könnte den Nathan so gedankenscharf und bewegend darstellen wie die – erst drei Wochen vor der Premiere eingesprungene – Schauspielerin und Sprecherin Valery Tscheplanowa. Ein Glücksfall für die Inszenierung, für das Theater und für die Zuschauer*innen.

Last but not least noch Extra Life von Gisèle Vienne. Eine Produktion von DACM / Company Gisèle Vienne mit vielen weiteren Kooperationspartnern und im Rahmen der Ruhrtriennale 2023 gezeigt. Einzelne Spots und farbige Laserstrahlen markieren Seelenlandschaften, durch die sich die Performer*innen in Zeitlupe bewegen. So lösen Gisèle Vienne und die Performer*innen Zeit, wie wir sie kennen, konsequent auf. Sie vergeht nicht, sie öffnet sich vielmehr in unterschiedlichste Richtungen. „Das fortdauernde Trauma der missbrauchten Kinder drückt sich in ebenso poetischen wie schmerzlichen Bildern aus und wird künstlerisch erfahrbar.“

Die Auswahl zum diesjährigen Theatertreffen zeigt, wie sich unschwer erkennen lässt, eine Vielfalt des Theaters im deutschsprachigen Raum. Neben Inszenierungen, die ganz auf großartige Schauspieler und Schauspielerinnen setzen und deren Können in den Mittelpunkt stellen, gibt es Stückentwicklungen und experimentelle Formen in Zusammenarbeit mit Theatergruppen auch aus der freien Szene. Klassisches Sprechtheater mit Experimenten stehen neben sehr persönlichen und biografischen Arbeiten. Und auch der Blick auf das Zeitgeschehen bleibt nicht außen vor.

War lange nicht so begeistert und beeindruckt von der differenzierten Auswahl, die auch Arbeiten aus der „Provinz“ berücksichtigt und theatraler Vielfalt und schauspielerischer Größe Ehre erweist. Freuen wir uns auf ein Theaterfest vom 2. bis 19. Mai 2024 in Berlin.

Jury Begründungen, die in den Text eingearbeitet sind, sind als Zitate erkenntlich markiert.

PS 1: Drei der zehn ausgewählten Inszenierungen werden von 3sat aufgezeichnet und sind dann für 100 Tage in der Mediathek abrufbar.

PS 2: Der Spiel- und Zeitplan für das Theatertreffen erscheint am 5. April

https://www.berlinerfestspiele.de/theatertreffen
https://www.berlinerfestspiele.de/theatertreffen/programm/2024/10-inszenierungen/inszenierungen-diskutiert

Letzte Änderung: 06.02.2024  |  Erstellt am: 06.02.2024

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