Der Funke springt über
Die Liste der Monodramen ist überraschend lang. Das mag ökonomische Gründe haben, sich aus Künstlerfreundschaften ergeben oder dem Wunsch entspringen, die Aufmerksamkeit – möglichst ohne Bühnenhandlung – auf das Wort der Persona zu lenken. Mit dieser Konzentration hat, wie Walter H. Krämer erleben durfte, der in Syrien geborene Schauspieler Abdul Aziz Al Khayat in der Frankfurter Produktion von Wajdi Mouawads „Im Herzen tickt eine Bombe“ beeindruckt.
Mitten in einer stürmischen Winternacht erhält Wahab einen Anruf seines Bruders: Ihre Mutter liege im Sterben. Auf dem Weg ins Krankenhaus kämpft Wahab mit seinen Gedanken und Erinnerungen an seine Mutter, seine Familie, seine ferne Heimat und an den Krieg, den er dort als Kind miterleben musste. Und je näher Wahab dem Krankenhaus kommt, desto mehr nähert er sich dem traumatischen Punkt seiner eigenen Geschichte: jenem Zwischenfall, der alles veränderte.
„Wir wissen nie, wie eine Geschichte beginnt. Ich meine, wenn eine Geschichte beginnt und wenn euch diese Geschichte passiert, dann wisst ihr nicht, dass sie beginnt. Ich meine … Ich meine, ihr lauft nicht gemütlich die Straße runter, und auf einmal denkt ihr: Schau mal einer an, da beginnt eine Geschichte“.
Mit diesen Worten beginnt in der Box von Schauspiel Frankfurt eine Geschichte – zunächst ertönt die Stimme aus dem Lautsprecher – später spricht der Schauspieler direkt zu seinem Publikum. Zwischendurch wechselt er auch ans Mikrofon und ins Arabische. Auch einmal ins Hessische. Viel sprachliche Abwechslung also, die Abdul Aziz Al Khayat – Studierender an der HfMDK und bald im 4. Studienjahr – bravourös bewältigt.
Wajdi Mouawad – ein libanesisch-kanadischer Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur – erzählt von einem jungen Mann, dessen Erfahrung sich nicht nur in seiner eigenen Biografie, sondern in vielen Biografien spiegelt: Flucht, Migration, Gewalt – sie hinterlassen Spuren im Menschen. Doch nicht nur das, auch das Erwachsenwerden hinterlässt seine Spuren: Da liegen Schmerz und Liebe, Wut und Zärtlichkeit oft ganz dicht beieinander und suchen nach Ausdruck.
Wie soll man erzählen? Wie beginnen, wenn man noch mittendrin steckt in einer Geschichte? Auch mit solchen Brechungen arbeitet der Text und zwingt sowohl den Erzähler als auch das Publikum immer wieder zum Nachdenken – bringt ihn zurück ins hier und heute.
Das Team – Olga Gromova (Bühne), Anna Sünkel (Kostüme), und Katja Herlemann (Dramaturgie) – um die Regisseurin Martha Kottwitz, hat sich für die Inszenierung einiges einfallen lassen. So beginnt die Aufführung damit, dass der Spieler Farbeimer, Pinsel, Bürste und auch einen Eimer mit Waser hereinträgt. In wechselnden Abständen bewirft er die weiße Wand und verreibt die Farben. So entsteht nach und nach ein farbenfrohes abstraktes Gemälde. Besonders dann, wenn die weiße Wand auch als Projektionsfläche für – in der Art einer Graphic Novel – gezeichnete Bilder und Geschichten dient, kann es schon einmal vorkommen – Zufall oder nicht – dass eine Sonnenblume in strahlendem Gelb leuchtet. Das Abbild des jungen Mannes mit der Wollmütze taucht auf. Es ist der Spieler auf der Bühne und somit findet die Erzählung von Wahab noch einen weiteren künstlerischen Ausdruck.
„Komm schnell.“ Ein Anruf seines Bruders treibt Wahab nach draußen ins Schneegestöber. Ein Busfahrer macht ihn wütend. Dem fetten Weihnachtsmann, dessen Auto im Schnee feststeckt, ist nicht zu helfen. Doch der Weg zum Krankenhaus, in dem Wahabs Mutter im Sterben liegt, wird mehr und mehr zu einer Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit: der Erinnerung an einen gescheiterten Aufbruch mit vierzehn, an ein Mädchen, das ihm ihr Schweigen als Waffe schenkt und an das fürchterliche Ereignis während seiner Kindheit im Bürgerkriegsland. Im Innern des Protagonisten überlagern sich Trauer und die Traumata, der Schmerz und die Wut ob der Gewalterfahrung durch Krieg und Migration und die Erfahrungen seiner Kindheit. Denn nicht zuletzt geht es in dieser Erzählung auch um das Erwachsenwerden, um Bewältigung mittels der Kunst, der Malerei, um einen Aufbruch ins Leben.
Erst durch die Abbildung des Erlebten mit Hilfe der Malerei gelingt es dem Erzähler, das Chaos im Kopf zu ordnen. In Frankfurt entsteht dabei ein abstraktes Gemälde. Selbst die Spritzer auf dem Pullover ergeben eines und man ist geneigt, dieses Motiv mit nach Hause zu nehmen. Einzig und alleine die Lettern F*** Weihnachten auf der weißen Fläche wirken störend – unabhängig davon, dass diese Stelle bei dem meist jugendlichen Zuschauer*innen Gelächter hervorrief.
Wahab, mittlerweile 19 Jahr alt, lebt schon seit einigen Jahren in Europa, wo es Sicherheit, Schnee und mitunter auch mitfühlende Busfahrer gibt. Doch die traumatischen Erfahrungen von Terror und erfahrener Grausamkeit bewirken, dass er sich nach wie vor als „der Zwillingsbruder eines Bürgerkriegs, der meine Heimat verwüstet hat“ sieht, und vorerst das vollständige Ankommen in der neuen Umgebung verhindert.
Der Autor und somit auch Abdul Aziz Al Khayat lässt uns an den Erinnerungen teilhaben, die Wahab auf dem Weg zu seiner todkranken Mutter und an ihrem Sterbebett überfallen. Da gibt es den 14-Jährigen, der seine Mutter auf einmal nicht mehr erkennt und entsetzt vor der „schlanken Frau mit den blonden Haaren“ ausbüxt. Und es gibt vor allem das siebenjährige Kind, das Zeuge wird, wie religiöse Fanatiker einen voll besetzten Bus in Brand stecken. Der Junge, der ihm gerade noch zugelächelt hat, wird verschlungen von einer „schwarzen Frau mit hölzernen Gliedern“, die Wahab bis in seine Träume verfolgt und ihm schließlich auch im Krankenhaus erscheint. Doch dieses Mal weiß er, wie er sich gegen sie wehren kann und stellt sich ihr.
Abdul Aziz Al Khayat gelingt es, den Text, der zwischen derber Umgangssprache, profaner Erzählung und einem poetischen Ton wechselt, lebendig zu machen. Dabei ist Abdul Aziz Al Khayat ganz beim Text und seiner Rolle. Der Funke springt über, man hört ihm gebannt zu und lässt sich in seine Geschichte hineinziehen, sich von ihr berühren – zumal er sie glaubhaft verkörpert. Dabei kommen ihm sicher seine eigenen Fluchterfahrungen zugute. In Damaskus geboren, verließ er 2012 aufgrund des Krieges seine Heimat und flüchtete mit nur zwei weiteren Familienmitgliedern über Kairo nach Deutschland.
Abdul Aziz Al Khayat überzeugt in der Rolle von Wahab, der sich seinen inneren Dämonen stellen muss, ehe er befreit von diesen, hinaus ins Leben treten kann, in sein eigenes und dann selbstbestimmtes Leben.
Ganz am Ende die Einsicht „Die Angst ist bezwungen, Mama. Für mich kann die Reise beginnen“. Dieses Mal stehen die Chancen gut, dass Wahab ankommt. Bei sich selbst und überhaupt. In der Box fährt am Ende der hintere Rollladen hoch und Abdul Aziz Al Khayat alias Wahab verlässt durch die Zuschauerreihen den Saal hinaus in die Freiheit.
Jubel und großer Beifall für diese beeindruckende Leistung. Unbedingt ansehen.
Letzte Änderung: 27.07.2022 | Erstellt am: 27.07.2022
Wajdi Mouawad
Im Herzen tickt eine Bombe
Premiere war am 16. Juli 2022. Wird in der kommenden Spielzeit 2022/2023 wieder aufgenommen und gespielt – Tickets ab dem 10. September 2022
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