In einer opulenten Produktion präsentiert die Oper Frankfurt das musikalische Volksdrama „Boris Godunow“ von Modest Mussorgski mit dem ukrainischen Bass Alexander Tsymbalyuk in der Titelrolle. Stefana Sabin hat sich an den antirussischen Demonstranten vor den Städtischen Bühnen vorbeigeschlichen und den langen Opernabend am vergangenen Sonntag miterlebt.
Die Handlung lässt sich einfacher nacherzählen, als sie eigentlich ist: Boris, ein Bojar, wie die russischen Großgrundbesitzer hießen, gelangt nach der vermeintlichen Ermordung des legitimen Thronfolgers Dimitri an die Macht, wird zum Opfer der Intrige eines mächtigen Mönches, der ihn zum Mörder erklärt und einen Novizen dahingehend beeinflusst, dass dieser sich für den dem Attentat entkommenen Dimitri ausgibt und schließlich, angestachelt von einer ihrerseits machtgierigen Woiewoden-Tochter, selbst an die Macht kommt. Ob Boris tatsächlich ein mörderischer Usurpator ist, bleibt in der Oper zumindest unklar – und ist historisch höchst umstritten.
Tatsächlich geht das Geschehen auf historische Ereignisse zurück. Boris Godunow war ein Vertrauter des Zaren Fjodor I. und wurde nach dessen Tod von 1598 bis 1605 selbst Zar. In Friedrich Schillers Fragment gebliebenem Trauerspiel „Demetrius“ ist Godunow eine Nebenfigur, in dem Drama von Alexander Puschkin ist er die titelgebende Hauptfigur. Puschkin schuf eine shakespearesche Szenenfolge um Macht und Intrige und führte nicht zuletzt auch den Wankelmut des Volkes vor – ein Historiendrama, das der Komponist Mussorgski in einem eigenen Libretto bearbeitete und zwischen 1868 und 1870 in Musik setzte. Mussorgski kürzte und ebnete die Handlung, die dennoch eher eine Folge von Episoden als ein durchgehendes Geschehen blieb, und, indem er auf Volks- und Kirchenmusik zurückgriff, verlieh er dem Werk ein erkennbar autochthones Klangkolorit – und nannte es programmatisch “musikalisches Volksdrama“.
Wurde schon Puschkins Stück von der zaristischen Zensurbehörde einbehalten und erst dreißig Jahre nach dem Tod des Dichters freigegeben, so wurde auch die Oper von Mussorgski zuerst von der Kaiserlichen Oper in St. Petersburg abgelehnt und erst nach einer Umarbeitung und Hinzufügung einer Frauenfigur 1874 im Mariinski Theater uraufgeführt. Aber die Zensurbehörde verhinderte Folgeaufführungen, so dass sich die Oper nicht etablieren konnte. Nach Mussorgskis Tod erarbeitete sein Freund Nikolai Rimski-Korsakow eine neue Orchestrierung, die sich vom Original musikalisch effektvoll absetzte und bis ins 20. Jahrhundert die meistgespielte Fassung blieb. 1939/1940 schuf Dimitri Schostakowitsch eine eigene Orchestrierung, die zwischen dem musikalischen Glanz von Rimski-Korsakow und dem spröden Original changiert.
1996 dirigierte der damalige Frankfurter GMD Sylvain Cambreling die „Urfassung“ von 1870. Nun hat sich der jetzige GMD Thomas Guggeis für die Schostakowitsch-Bearbeitung als Grundlage der neuen Produktion und somit für die längstmögliche Fassung entschieden.
Der britische Regisseur Keith Warner bleibt der Szenenfolge der Oper treu, und in viereinhalb Stunden gestaltet er auf der düsteren Bühne von Kaspar Glarner opulente Tableaus, die die machtpolitischen Kämpfe und ihre religiöse Durchdringung und die Wechselstimmung des Volkes eindrucksvoll zeigen. Warner inszeniert regelrechte Aufmärsche, die mit Chor, Extra- und Kinderchor (Chor: Alvaro Corral Matute) ihre Wirkung entfalten, und die Videoeinlagen ebenso wie die riesigen, bedrohlichen Kirchenglocken (Video: Jorge Cousineau) verleihen dem Geschehen immer wieder eine unheimliche Note. Das Machtzentrum, der Zarenthron, ist in Warners Inszenierung ein riesiges Fabergé-Ei, wohl ein Hinweis auf russische Pracht, die mit dem emotionellen Verfall des Zaren und dem Zerfall seiner Macht umso deutlicher kontrastiert.
Zwar erzählt die Oper vom russischen Bürgerkrieg Anfang des 17. Jahrhunderts, aber Machtstreben und Tatsachenverdrehung sind allgemeingültig, und Warner vermeidet geschickt jede offene Aktualisierung. Nur eine Weltkugel als Spielball lässt sich als Hinweis auf den real existierenden russischen Imperialismus deuten. Aber die antirussischen Demonstranten vor den Städtischen Bühnen verkennen möglicherweise die implizite kritische Dimension der Oper und der Inszenierung, die eindrucksvoll vorführt, dass Macht immer ungerecht ist und nur mit Gewalt erhalten wird.
Thomas Guggeis am Pult des Orchesters lässt das Epische (wie in der Krönungsszene) ebenso wie das Lyrische (wie in der Liebes- bzw. Verführungsszene zwischen dem falschen Dimitri und Marina) und das Gewalttätige (wie im Schlusschor) meisterhaft zum Ausdruck kommen und dirigiert stets besonders sängerfreundlich.
In der Titelpartie brilliert der ukrainische Bass Alexander Tsymbalyuk, der dem zwischen (Un)Schuld und Sühne verzweifelten Zaren Boris Godunow eine musikalisch und schauspielerisch beeindruckende Bühnengestalt gibt. Als orthodoxer Mönch, dessen geschichtsrevisionistische Intrige brisante politische Konsequenzen auslöst, glänzt Andreas Bauer Kanabas, und Dmitry Golovnin als doppelter Dimitri trägt den changierenden Haltungen der Figur überzeugend Rechnung. Sofija Petrovic gelingt als polnischer Woiewoden-Tochter Marina ein fulminantes Haus- und Rollendebüt. Aber auch die kleinen Rollen sind geschickt besetzt, so dass trotz kleiner inszenatorischer Unklarheiten (Kissen à la turca im Salon des Zaren?) diese Produktion gelungen, ja gewissermaßen überwältigend ist.
Letzte Änderung: 05.11.2025 | Erstellt am: 05.11.2025
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