Der aktuelle Zeitgeist

Der aktuelle Zeitgeist

David Gieselmanns Komödie „Das Ministerium“ in Wiesbaden
Das Ministerium. Nils Willers | © Karl und Monika Forster

Wie jeder Zeitgeist bringt auch der aktuelle seine eigenen Versatzstücke, Klischees, Vorurteile und andere Dummheiten hervor. Dazu gehört auch die Forderung, dass diese auch in den Medien widergespiegelt werden müssen, damit der Bezug zur Wirklichkeit, der damit verloren geht, nicht verloren gehe. Walter H. Krämer hat David Gieselmanns Komödie „Das Ministerium“ am Staatstheater Wiesbaden aufgesucht und wurde enttäuscht.

Als Claus Peymann – erfolgreicher Regisseur und Intendant u. a. an Bühnen in Stuttgart, Bochum, Wien und Berlin – am Ende des letzten Jahrhunderts vom Wiener Burgtheater ans Berliner Ensemble wechselte, um die Leitung des früheren Brecht-Theaters zu übernehmen, hatte er zwei Vorsätze im Gepäck: Der Politik, die ihm zum Antritt einen roten Teppich ausgerollt hatte, wollte er ein Stachel im Fleisch sein und das Publikum der Hauptstadt mit einem Spielplan verstören, der sich explizit als politisch begreift.

Unabhängig davon, ob Uwe Eric Laufenberg, dem noch Intendanten des Wiesbadener Staatstheaters, ähnliche Gedanken, bezogen auf Wiesbaden und sein Theater, durch den Kopf gingen, wirft sein Verhalten Fragen auf. Corona-Monologe, in denen er die Corona Maßnahmen der Regierung unterlief und – obwohl von der Landesregierung ausdrücklich nicht gewünscht – die Einladung an Anna Netrebko im Rahmen der Maifestspiele 2023. Das Tischtuch zwischen Theaterleitung und Landesregierung ist endgültig zerschnitten; da ist es gut und von Vorteil, wenn ab der Spielzeit 2024/2025 ein neues Leitungsteam in die Landeshauptstadt und an das Theater kommt.

Dass es zwischen Landesregierung und Theaterleitung knirscht und auch innerhalb des Hauses einiges im Argen liegt, ist unbestritten; scheibchenwiese kommen davon Details an die Öffentlichkeit. Da ist es nur verständlich und sinnvoll, wenn man darin einen Stoff für das Theater findet und diesen auf die Bühne bringen will.

„In Hessen stehen die Wahlen – gewählt wird am 8. Oktober 2023 – vor der Tür. Und diese entscheiden bekanntermaßen nicht nur über die Geschicke des Landes, sondern auch über die Karrieren einzelner Politiker*innen. Also heißt es Image pflegen, Profile schärfen und Skandale meiden. Doch nicht selten geraten bei dieser politischen Kür die ein oder anderen unter die Räder …“ , beschreibt die Produktionsdramaturgin Marie Johannsen die Arbeit an der Inszenierung „Das Ministerium“ und führt weiter aus:
„Der Regisseur Clemens Bechtel und ich haben uns in der Recherche auf die Suche nach den Schmerzpunkten im ministerialen Politik-Karussell gemacht und zusammen mit Autor David Gieselmann zu einer semi-fiktionalen Komödie gesponnen. Irgendwo zwischen ernst gemeintem politischem Engagement und dem Traum von Berlin sind nicht nur ein paar Kröten unter die Räder gekommen, sondern vielleicht sogar die eigenen Ideale – und die Generation der eigenen Tochter.“

David Gieselmann ist preisgekrönter Autor und Blogger. Clemens Bechtel ist dem Hessischen Staatstheater Wiesbaden bereits seit der Spielzeit 2014/2015 verbunden und hat seitdem mehrere Theaterstücke inszeniert, so führte er auch für das erfolgreiche Stück „Casino“ über den Wiesbadener Politklüngel Regie. Nun kehrte er mit dem Auftragswerk „Das Ministerium“ – einem weiteren so genannten „Political“, einer Recherchearbeit über den aktuellen Zeitgeist in der Politik, zurück.

Sie ist jung, sie ist erfolgreich, sie ist bei der richtigen Partei: Die perfekten Voraussetzungen, um den freigewordenen Ministerposten zu besetzen. Früher hat Annika zusammen mit ihrer Freundin Kröten über die Straße getragen, heute ist sie Ministerin. Eine steile Karriere, die noch weitergehen könnte – wäre da nicht ihre pubertierende Tochter, die sich zunehmend dem Aktivismus verschreibt und so gar nichts mit der Politik ihrer Mutter anfangen kann. Und während Annika noch damit beschäftigt ist, den Spagat zwischen Familie, Karriere und dem eigenen Perfektionismus hinzubekommen, taucht plötzlich eine alte Schulfreundin auf und stellt unangenehme Fragen.

Das hätte ein Stück werden können und sollen, das wirklich ein Stachel im Fleisch der Politik – und sonstiger Akteure hätte werden können – doch solle man die Wirksamkeit von Theaterstücken auch nicht zu hoch einschätzen – und den Finger in die Wunde unhaltbarer Zustände legen. Wurde es aber nicht. Und auch die Inszenierung nicht. Kein Biss, kein Zugriff auf die aktuellen Situationen und schon gar nicht ein Stück im Sinne der Aufklärung. Verspielt, verschenkt und keine Sternstunde des Theaters – eines politischen und aufklärerischen Theaters. Da kann sich die Ministerin – denn gemeint ist erkennbar Angela Dorn – getrost zurücklegen, auf die Kunstfreiheit verweisen und ansonsten anderswo einen vergnüglichen Abend verbringen. Da hinkt das Theater, das Theaterstück und dessen Inszenierung der Wirklichkeit weit hinterher und ist nicht einmal sehenswert. Schade.

Letzte Änderung: 31.10.2023  |  Erstellt am: 28.10.2023

Inszenierung: Clemens Bechtel
Bühne: Till Kuhnert
Kostüme: Vesna Hiltmann
Musik: Alex Halka
Dramaturgie: Marie Johannsen

Mit Maria Luisa Kerkhoff, Tobias Lutze, Martin Plass, Lena Hilsdorf, Evelyn M. Faber, Felix Strüven, Nils Willers, Vera Hannah Schmidtke, Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden

Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Jeweils von 19:30 bis 21:10 Uhr im Kleinen Haus am 20.10. + am 1. + 10. + 18.11.2023

Staatstheater Wiesbaden

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