Nadja Loschky inszeniert Alban Bergs Zwölftonoper Lulu in Frankfurt. Stefana Sabin war von der düsteren Stimmung der Inszenierung und der musikalischen Meisterschaft der Produktion beeindruckt.
Als Alban Berg am 24. Dezember 1935 an einer Blutvergiftung starb, lagen von seiner Oper, die als Lulu in die Musikgeschichte eingehen sollte, der 1. und der 2. Akt als vollständig instrumentierte Partitur vor, vom 3. Akt, dessen Particell 1326 Takte umfasst, waren nur 390 Takte instrumentiert. Das Opern-Fragment wurde 1937 in Zürich uraufgeführt, während Bergs Witwe Helene sich vergeblich bemühte, Arnold Schönberg, Anton Webern oder Alexander von Zemlinksy für die Fertigstellung der Oper zu gewinnen. Und zumal da die Zürcher Uraufführung ein großer Erfolg wurde, lehnte sie fortan alle Versuche ab, die Oper von dritter Hand vollenden zu lassen.
So konnten erst nach ihrem Tod die rechtlichen Hürden überwunden und die Oper mit der Instrumentierung des 3. Akts durch den österreichischen Komponisten und Dirigenten Friedrich Cerha aufgeführt werden. Die Inszenierung, die am 24. Februar 1979 im Pariser Palais Garnier aufgeführt wurde, ist legendär: Pierre Boulez dirigierte, Patrice Chéreau führte Regie, Richard Peduzzi entwarf das Bühnenbild und die Star-Sopranistin Teresa Stratas sang die Titelrolle. Und im Publikum saßen der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt und der französische Premierminister Raymond Barre, Opernchefs aus West- und Ostberlin, Wolfgang Wagner, Robert Wilson und Peter Handke und der damals zweiundneunzigjährige Pianist Artur Rubinstein.
Schon damals war klar, dass Bergs Oper kein Fragment mehr, sondern durch Cerhas mühelos sich einfügende Instrumentierung eine vollständige, wenn auch vervollständigte Oper geworden war. Und tatsächlich wird Bergs Lulu seitdem als „vervollständigte Fassung von Friedrich Cerha“ gespielt – so letztes Jahr am Staatstheater Darmstadt und nun an der Oper Frankfurt.
In Darmstadt hatte Eva-Maria Höckmayr eine plausible Lesart des Stücks geliefert, in der eine verderbende Mischung aus Besitzgier und Verlustangst, die (Männer)Welt zum Einsturz bringt. Das Staatsorchester unter der Leitung von GMD Daniel Cohen stieg zu unvermuteten musikalischen Höhen auf und Juliana Zara gab eine grandiose Lulu.
In Frankfurt inszeniert nun Nadja Loschky, die in der letzten Spielzeit mit Händels Giulio Cesare in Egitto ihr Debüt gab, eine dunkle, verstörende (Frauen)Geschichte, die in der Gosse beginnt und in der Gosse endet: im Prolog wird Lulu aus dem Szenenboden emporgehoben und als „Urgestalt des Weibes“ präsentiert, „geschaffen, Unheil anzustiften, zu locken, zu verführen, zu vergiften und zu morden – ohne daß es einer spürt“. Im dritten Akt, nachdem sie Vergewaltigung, künstlerischen Erfolg, gesellschaftlichen Aufstieg und Abstieg und schließlich völlige Demütigung als Hure (über)erlebt hat, versinkt die von einem Freier ermordete Lulu wieder im Boden.
Die Handlung der Oper, die auf Frank Wedekinds Tragödien Erdgeist und Die Büchse der Pandora basiert, und die Personenkonstellation sind symmetrisch angelegt: Auf den gesellschaftlichen Aufstieg folgt der Abstieg, auf drei Liebhaber bzw. Ehemänner folgen drei Kunden. Die Männer um Lulu leiden und sterben: sie ist eben die ‚femme fatale’, die lockt und verführt, wie es zu Beginn heißt. Aber in dieser Inszenierung wird sie gleichermaßen zur ‚femme fragile’, die eine Projektion von Männerphantasien ist und als Opfer männlicher Gewalt endet. Nicht von Lulus Willen zur Verführung, sondern von der männlichen Besitzgier kommt in Loschkys Version das Verhängnis. Die Verwundbarkeit Lulus arbeitet Loschky heraus, indem sie ihr eine Doppelgängerin an die Seite stellt, eine Tänzerin, die wohl als Seele, als anima, fungieren soll und der Inszenierung eine psychologische Dimension gibt ̶ und einige effektvolle Momente schafft, wenn Lulu im Spiegel das eigene, mahnende Selbst erblickt.
Dieser Spiegel ist eine der wenigen Requisiten, mit denen das Bühnenbild von Katharina Schlipf auskommt. Schlipf hat für die Drehbühne wuchtige graue Rundmauern entworfen, die sich ineinander und umeinander drehen und sich dabei teilen und so die verschiedenen Schauplätze – Maleratelier, Theatergarderobe, Salon, Elendsquartier ̶ freigeben. Das Bühnenbild ebenso wie die Kostüme von Irina Spreckelmeyer sind eher expressionistisch suggestiv, als dass sie sich einer Zeitepoche zuordnen lassen könnten, und sie haben eine bedrückende, depressive Anmutung.
Diese Stimmung wird durch eine dramatische Musik verstärkt, die auf einer Zwölftonreihe basiert, bei der von der durch Permutation mit verschiedenen Auswahlmodi weitere Reihen abgeleitet sind, die bestimmten Figuren leitmotivisch zugeordnet werden. Diese komplexe kompositorische Konstruktion tritt hinter die atmosphärische Wirkung zurück, umso mehr, als es Thomas Guggeis am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters gelingt, die Dramatik, die kammermusikalische Eleganz und die jazzige Vitalität der Musik in ihrem Klangfarbenreichtum herauszuarbeiten.
Das Premierenpublikum belohnte vor allem die Sopranistin Brenda Rae, die eine berührende Lulu gab und scheinbar mühelos zwischen Koloraturen und Sprechgesang wechselte, und den Bariton Simon Neal, der in der Doppelrolle Dr. Schön/Jack the Ripper schauspielerisch und musikalisch die obsessive Beziehung zu Lulu überzeugend darstellte. Auch die Mezzosopranistin Claudia Mahnke als Gräfin Geschwitz und der Tenor AJ Glueckert als Alwa fanden für ihre verkorksten Beziehung zu Lulu den subtilen Ausdruck zwischen Emphase, Erotik und Verzweiflung. Der Bass Alfred Reiter schließlich war ein nüchtern kraftvoller Schigolch.
Dass am Ende des Abends nicht nur die Sänger und der Dirigent, sondern das ganze Orchester auf der Bühne standen, nährte den Schlussapplaus ganz besonders ̶ auch weil das Orchester als „Orchester des Jahres“ und das Haus als „Oper des Jahres“ durch die Zeitschrift Opernwelt ausgezeichnet wurden.
Letzte Änderung: 06.11.2024 | Erstellt am: 06.11.2024
Die weiteren Veranstaltungstermine von “Lulu” in der Oper Frankfurt finden Sie hier.
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