Das Rascheln und Rieseln des Torfs

Das Rascheln und Rieseln des Torfs

Tanztheater Wuppertal Pina Bausch nimmt „Viktor“ wieder auf
Fliegende Haare.  „Viktor” Ensemble  | © Laszlo Szit

„Viktor“, heißt es, sei das erfolgreichste Tanzprojekt Pina Bauschs – mit der Besonderheit, dass es fast nur aus Gruppentänzen besteht. Anstelle der Befindlichkeit des Individuums ist gleich das Beziehungsnetz zwischen Individuen gesetzt, in dem der Prozess des Miteinander, Gegeneinander und des Aneinandervorbei die Gestaltung einfordert. Walter H. Krämer erinnert sich und freut sich auf die Wiederaufführung.

Die Stücke von Pina Bausch erscheinen zeitlos, sodass man Stücke auch nach fast 40 Jahren noch wahrnimmt, als seien sie gerade erst entstanden. Die Choreographin hat vor Jahren schon Bilder erschaffen, die noch heute aktuell sind und für Diskussionen sorgen: Gleichberechtigung der Geschlechter, das Gender-Thema – Männer in Frauenkleidern sah man oft in ihren Stücken.
Vielleicht liegt es an ihrer Arbeitsweise – „Das Fragen hört nicht auf und die Suche hört nicht auf. Es liegt etwas Endloses darin, und das ist das Schöne daran“ – und daran, dass sie sich mehr dafür interessiert, was die Tänzer und Tänzerinnen bewegt: „Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt“. Und sie blickt in die Welt – weit hinaus über die Grenzen der Stadt Wuppertal, indem sie – oft auf Einladung des Goethe-Institutes – mit ihrer Companie in ferne Länder reist, um sich dort von Land und Leuten inspirieren zu lassen. Diese gesammelten Eindrücke und Erfahrungen fließen dann ein in ihre Arbeit und die Produktion eines neuen Stückes.

„Viktor“, das sind Eindrücke und Erfahrungen aus dem Rom der 1980er Jahre, wo Pina Bausch und ihre Truppe mitsamt Bühnenbildner Peter Pabst mehrere Wochen zu Gast war, was sich erkennbar im Stück wiederfindet. Vieles erinnert an italienische Straßen- und Familienszenen.
Bühnenbilder bei Pina Bausch haben oft etwas Poetisches, manchmal Geheimnisvolles, oft auch auf den ersten Blick Unerklärliches. Bieten Raum für Wünsche, Erinnerungen, Projektionen der Phantasie, Sinnesreize, Enttäuschungen und Ängste.
Und man fragt sich bei „Viktor“, was wohl den Bühnenbildner Peter Papst dazu veranlasst haben mag, die Bühne mit einem mehrere Meter hohen Wall aus Torferde zu umgeben. Ein riesiger rechteckiger dunkelbrauner Erdwall, in dem am Rand ein altes Klavier steht. Im Verlauf des dreieinhalbstündigen Abends wird darauf auch noch gespielt werden.
Sehen wir in dem Bühnenbild ein Grab, ein Massengrab? Oder doch eher eine Ausgrabungsstätte für Erinnerungen, einen Steinbruch für Gedanken und Ideen? An der Klippe oben steht jemand, der von Zeit zu Zeit eine Schaufel Erde hinunterwirft.

In diesem höhlenähnlichen Raum entfalten sich die 27 Tänzer*innen und es entstehen immer wieder neue Bilder und Szenen, die Raum für unser Projektionen und Phantasien geben.
Wer überhaupt ist dieser Viktor? Die rothaarige Tänzerin, die es von sich behauptet? Oder doch eher ein älterer Herr, der im bodenlangen Pelz, mondänem Damenhut und Pömps an den nackten Füßen extravagant durch den Bühnenraum spaziert?

Viktor ist bildmächtiges Theater – doch getanzt wird auch. Alle tanzen mit ausladenden Bewegungen und fliegenden Haaren, oder schlängeln sich zum Paartanz durch das Publikum.
Auch das immer wieder eine Besonderheit bei Pina Bausch: der Kontakt mit dem Publikum, die direkte Ansprache.

 „Viktor” Ensemble  | © Foto: Laszlo Szit

Eine Frau ohne Arme in einem roten Kleid stöckelt lächelnd auf das Publikum zu. Ein Herr mit Hut legt ihr seinen Pelz um und beide gehen von der Bühne. Eine Tänzerin lässt sich in einen Teppich einrollen. Ein Tänzer verteilt Pflasterstein im Publikum. Zwei Schafe tauchen auf der Bühne auf. Gemüse wird geschnitten und an das Publikum verteilt, und ein trauriges Märchen von einem einsamen Kind wird erzählt. Antiquitäten werden versteigert.

Volksmusik aus der Lombardei, der Toskana, Sardinien und Bolivien begleitet die Szenen. Aber auch Tschaikowsky, Buxtehude, Dvořák, mittelalterliche Tanzmusik, ein mitreißender russischer Walzer und New-Orleans-Jazz ist zu hören. Und immer wieder auch das Rascheln und Rieseln des Torfs.

Pina Bausch erfindet starke Bewegungssequenzen zu alten italienischen Volksliedern. Durchchoreographierte Frauen- und Männerformationen, die Dominique Mercy – ein Tänzer der ersten Stunde und vielleicht auch noch bei der Wiederaufnahme dabei – als böses, altes Weib immer wieder auseinandertreibt.

Gegen Ende kommen die Frauen in Ballkleidern und schwingen an von der Decke herabgelassenen Turnerringen in großen Schwüngen über die gesamte Bühne, angestoßen und behutsam wieder auf dem Boden abgesetzt von einem der Tänzer. Nicht nur wunderschön anzusehen, sondern es weckt womöglich auch Assoziationen und Erinnerungen an die eigene Kindheit. Und immer wieder finden sich die Tänzer und Tänzerinnen in Formationen zusammen und gleiten in weit ausholenden Armbewegungen über die Bühne.

Bei den Stücken von Pina geht es meist um Liebe, Glück, Vergänglichkeit, Trauer, Geschlechterrollen und auch um den Tod. Und es geht ihr nicht um endgültige Antworten, sondern ihr, so sagt sie, gehe es darum, „mehr Fragen zu stellen, als Antworten zu geben“. Möglicherweise geht es in „Viktor“ auch um die Vorahnung einer Katastrophe, um ein Leben unter einem Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann. Wer weiß das schon.

So wie sie ihren Tänzern und Tänzerinnen zu Beginn der Probenarbeit Fragen stellt, so entlässt sie auch das Publikum mit mehr Fragen als Antworten.

https://www.pina-bausch.de/de/plays/29/viktor

Letzte Änderung: 23.03.2024  |  Erstellt am: 22.03.2024

Pina Bausch:
VIKTOR
Die nächsten Aufführungen von „Viktor“ im Opernhaus Wuppertal
am 26. + 27. + 28. + 29.06.2024 – Vorverkauf ab dem 02.05.2024
Choreografie / Inszenierung -Pina Bausch
Dramaturgie -Raimund Hoghe
Bühne -Peter Pabst
Kostüme -Marion Cito
Musikalische Mitarbeit – Matthias Burkert
Musik – Pjotr Tschaikowski, Dietrich Buxtehude, Antonin Dvořák, Aram Chatscha-turjan, Italienische Volksmusik, Mittelalterliche Tanzmusik, New-Orleans-Musik, Tanzmusik der dreißiger Jahre, u. a.

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