Als der Stuhl brannte

Als der Stuhl brannte

Gunter Rambows Literaturplakate in Güstrow
Gunter Rambow | © Harry Oberländer

Wer in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in Frankfurt lebte, weiß, was gemeint ist mit dem brennenden Stuhl, der unübersehbar die Litfasssäulen erhellend verdunkelte. Gunter Rambow hatte mit ihm und anderen Plakaten dem Theater eine spektakuläre Außenwirkung verliehen. Harry Oberländer beschreibt in seiner Ansprache zu einer Ausstellung dieser Plakate in Güstrow, wo Rambow als Heranwachsender lebte, Werden und Wirken des Grafikers und Fotografen, der bis heute mit Angelika Rambow-Eschbach die Plakate der Frankfurter Oper gestaltet.

Als Gunter Rambow 1954 aus Güstrow fortging, hatte er noch Rudi Michels legendäre Rundfunkreportage aus dem Wankdorfstadion in Bern im Ohr, wo die Mannschaft des DFB Fußballweltmeister geworden war. Damals war ich noch keine drei Jahre alt und kriegte von alldem überhaupt nichts mit. Ich wuchs in Karlshafen an der Weser auf, nur 50 Kilometer von Kassel entfernt, wo Gunter von 1958 bis 1964 an der Hochschule für Bildende Kunst studierte. Damals war ich sieben respektive 13, und deshalb haben wir uns auch in Kassel nicht kenngelernt, sondern in Frankfurt am Main, in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Wir waren Nachbarn geworden im Frankfurter Westend, das damals kein Nobelstadtteil war wie einst und jetzt wieder, sondern ein Stadtteil, dem in großen Teilen der Abriss drohte. Gunter hatte dort ein Haus und ein Atelier, in dem das Team Rambow, Lienemeyer und van de Sand arbeitete, während ich etwas weiter nördlich in der Nähe des IG Farben Hauses, der heutigen Universität, in einer studentischen Wohngemeinschaft lebte. Wir lernten uns hier dann schließlich kennen, er ein bereits renommierter Plakatkünstler, ich ein Student mit literarischen Neigungen.

Zusammengebracht hat uns ein gemeinsamer Freund, der Schriftsteller Adam Seide, der damals die zweite Ausgabe seiner in Text und Bild anspruchsvollen Zeitschrift Der neue Egoist plante. Die erste Ausgabe hatte Adam seiner Heimatstadt Hannover gewidmet, wo er eine später legendäre Galerie betrieben hatte, die zweite Ausgabe galt Frankfurt am Main, wo er als Kunstkritiker und Romanautor seine Zelte aufgeschlagen und sogleich einen illustren Kreis von bildenden Künstlern und literarischen Autoren um sich versammelt hatte. Von hier an kann ich nun behaupten, ich war damals mindestens schon 23 und hatte einen Lyrikpreis gewonnen, von nun an war ich dabei. Dabei zunächst einmal beim Feiern von Atelierfesten in der Kronberger Straße, bald darauf bei der Zusammenarbeit für ein Buchprojekt.

Gunters Lehrer in Kassel war Hans Hillmann (1925 – 2014) gewesen, ein Schüler Ernst Leistikows (1892- 1962). Leistikow, der 1948 an die Kunsthochschule Kassel berufen worden war, hatte in den zwanziger Jahren in Frankfurt am Main als Designer mit Ernst May Wettbewerbe für Filmplakate. Für sie waren illustrative und typographische Gestaltungen kennzeichnend. Dabei ging es Hans Hillmann schon frühzeitig darum, nicht einfach die Story eines Films zu illustrieren, sondern visuelle Metaphern zu entwickeln. Zunehmend wurde dabei die Photographie als Darstellungsmittel eingesetzt, heute selbstverständlich, damals noch nicht. 1979 erschien dann das Buch ein Plakat ist eine Fläche, die ins Auge springt bei Zweitausendeins, Plakate der Kasseler Schule, herausgegeben von Hans Hillmann und Gunter Rambow. Die Mitarbeit an diesem Buch, die ich Gunter verdanke, hat mich damals wirklich vorangebracht. Das Buch ist hier erhältlich, und Sie finden darin zahlreiche Plakate, die nur zum Teil auch hier in der Ausstellung hängen. Erstens die von anderen Plakatkünstlern der Kasseler Schule wie Hans Hillman, Gunters Lehrer, Isolde Baumgart, Bernd Bexte, Karl Oskar Blase, Jürgen Spohn und vielen anderen, und zweitens von Gunter Rambow auch solche, die heute hier nicht ausgestellt sind. Die Plakate für den Verlag S. Fischer (und das heisst ausgeschrieben: Samuel Fischer, so lautet der Namen des Firmengründers, der den jungen Thomas Mann entdeckte und Hesse, Hoffmannsthal und Zweig verlegte), Plakate, die sich auf ein poetisch-surrealistisches Spiel mit dem Buch als Gegenstand einlassen, diese Plakate sehen Sie hier. Sie finden im nächsten Raum den bereits erwähnten Adam Seide und die Zeitschrift Egoist als gefiederte Plakatobjekte. Dort geht es sehr farbig zu, und zwar so, dass es einem dabei nicht zu bunt wird. Denn Gunter Rambows Plakate lösen zwar Gefühle aus, sprechen aber immer auch den Verstand an, sprechen also von Kopf zu Kopf.

 | © Foto: Harry Oberländer

Dabei sind auch Plakate, mit denen Gunter kulturelle Initiativen unterstützte, wie das Festival Interlit, den Verband deutscher Schriftsteller und die Zeitschrift Hessischer Literaturbote, mit deren Herausgabe ich einen geraumen Teil meines Lebens zugebracht habe. Der Satz Wer auf dem Kopf geht, hat den Himmel als Abgrund unter sich – Paul Celan hat das in seiner Büchnerpreisrede 1960 gesagt, ein Kommentar zu Büchners Erzählung Lenz, der auf seinen Füßen ging, über die Vogesen ins Steintal.

Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht – und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump.
 
Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.

Wir wollen nicht vergessen, dass Georg Büchner, als er noch Student war, als Mitverfasser des Hessischen Landboten die unerträglichen sozialen und politischen Verhältnisse im Großherzogtum Hessen-Darmstadt angeprangert hatte und steckbrieflich gesucht wurde. Während sein Genosse, der Pfarrer Weidig aus Butzbach in der Darmstädter Haft ums Leben kam, gelang Büchner die Flucht in die Schweiz. Sein Stück Dantons Tod über den Terror der Jakobiner endet hingegen mit dem Satz Vive le roi – es lebe der König! 1837 starb Büchner im Alter von nur 23 Jahren in Zürich an Typhus, und niemand kann wissen, worüber manche seiner Biographen spekulieren: Er wäre mit zunehmenden Alter ein konservativer Naturwissenschaftler geworden.

In dieser Ausstellung finden wir Plakate mit Büchnerpreisträgern der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. Uwe Johnson, Max Frisch, Golo Mann und Ingeborg Bachmann. In Güstrow über Uwe Johnson reden, übersteigt meinen Mut, Golo Mann hat die Stadt ja in seiner detaillierten Wallensteinbiographie ausführlich gewürdigt. Und Max Frisch und Ingeborg Bachmann haben je eine eigene und eine gemeinsame Biographie. Die Literatur hinter uns, was ist denn das: hat Ingeborg Bachmann in einer ihrer Frankfurter Poetikvorlesungen 1959 gefragt. Von Herzwänden geschnittene Worte und tragisches Schweigen, und Brachfelder von zerredeten Worten und Tümpel von stinkendem, feigem Schweigen, und von zweierlei Art. Und immer winkt und verlockt beides, unser Anteil am Irrtum, der ist ja gesichert, aber unser Anteil an einer neuen Wahrheit, wo beginnt der?

 | © Foto: Harry Oberländer

Im August 1973 brannte in Frankfurt am Main das Selmi Hochhaus, am Rande des Westendes gelegen, gegenüber dem Polizeipräsidium. Es brannte weithin sichtbar in den oberen Etagen wie eine Fackel, und brennende Teile fielen herab. Trotzdem zog der Brand zahlreiche Schaulustige an, von denen einige ihre Schadenfreude unverhohlen zur Schau stellten. „Wir verbrennen unserm Selmi sein klein Häuschen“ sangen Studenten und tanzten Ringelreigen dazu. Es war die Zeit des Frankfurter Häuserkampfs, in dem sich linke Studentengruppen und Bürgerinitiativen der Westendbewohner verbündet hatten, um die Bebauungspläne des Frankfurter Magistrats zu Fall zu bringen. Der Iraner Ali Selmi war einer der Frankfurter Grundstücks- und Immobilienspekulanten.

Gunter Rambow, der sein Atelier damals im südlichen Westend hatte, fand die zur Schau getragene Freude über eine Brandkatastrophe deplatziert. Der Brand des Selmi-Hochauses war für ihn ein Impuls für eine geschnittene Montage, ein Plakat mit dem Titel Utopie – Dynamit. Das Hochhaus dieses Plakats brennt nicht, sondern die oberen Stockwerke zersplittern, werden zersprengt. Wie die meisten früheren Plakate Rambows ist es schwarzweiß. Es fand einen ständigen Platz in der Designabteilung des Museum of Modern Art in New York. Es hat einen merkwürdig prophetischen Charakter. Das Motiv tauchte später wieder auf: Diesmal, in eisblauer kalter Farbgebung, war es das Coverfoto des Katalogs einer Ausstellung der Akademie der Künste 2009 in Berlin unter dem Titel Embedded Art. Was ich da sah, war nicht mehr das Selmi-Hochhaus der schlechten alten Zeit, das waren die New Yorker Twin Towers des World Trade Center, die in noch schlechterer, neuer Zeit am 11. September 2001 auseinandergeflogen waren, nachdem Terroristen zwei vollbesetzte Flugzeuge hineingelenkt hatten.

Wir leben seither in einer anderen Welt als der des späten 20. Jahrhunderts. Das Plakat aus dem Jahr 1973 war ein Titelblatt der Zeitschrift Der neue Egoist, in der Herausgeber Adam Seide zahlreiche Frankfurter Autorinnen und Autoren versammelt hatte. Adam Seide betonte mit der Namensgebung der Zeitschrift die Apriorität des Individuellen in einer unruhigen Zeit, als politische Aktivisten all überall mit Kollektivierungen und Entprivatisierungen beschäftigt waren. Gunter unterstützte diese das Subjekt und die Individualität betonende Namensgebung Egoist mit seiner Plakatgestaltung. Zum Beispiel entwarf er für Adam ein Plakat mit zwei Kartoffeln. Die kleinere der beiden befindet sich in einem rechteckig ausgehöhlten Fenster der größeren Kartoffel. Die große wie auch die kleine Kartoffel stehen für das „o“ in „Ego-ist“. Aus dem Egoist wird ein Ego, welches isst, nämlich die besagte Kartoffel.

Gunter, der nach dem Krieg auf dem Land aufwuchs, kann sich erinnern, dass Kartoffeln dem Sechsjährigen das Überleben ermöglichten. Er pflanzte und erntete Kartoffeln und trennte im Keller die guten von den faulen, was unter olfaktorischen Aspekten keine angenehme, aber doch eine sehr notwendige Tätigkeit war. Und später wusste er um die Kulturgeschichte der Kartoffel in Europa und deren Bedeutung. Als Student in Kassel ernährte er sich fast ausschließlich von Kartoffeln, Speck und Zwiebeln, eine Lebensweise, die günstig zu finanzieren war und ihm Unabhängigkeit verschaffte. Er fand es wichtig, dass seine individuellen Erfahrungen auch millionenfach in ähnlicher Weise von anderen Menschen gemacht wurden.

So feierten wir, die wir in Gunters Frankfurter Atelier in der Kronberger eingeladen und von ihm, Rambow, fotografiert wurden, manches Fest unter Kohlkunst- und Kartoffelplakaten und einem Karl Marx, der einen Federbart trug, als sei er ein Kakadu. Unsere Portraits erschienen am Rand des Plakats Utopie – Dynamit, und ich erkenne dort heute noch außer mir selbst Paulus Böhmer, Hadayatullah Hübsch, Uve Schmidt, Almut Gernhardt, Robert Gernhardt, Wilhelm Genazino und viele andere aus der Frankfurter Literaturszene.

Utopie lag damals als ein Versprechen in der Zeitgeistluft, und Dynamit war auch eine Chiffre dafür, dass man die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen wollte. Das wollten auch die, deren Verhältnis zu Sprengstoff und Waffen leider weniger metaphorisch als praktisch war. Gunter Rambows Plakate waren immer auf die Gesellschaft bezogen und politisch. Sie bezogen Position: Das nicht im Sinne von Forderung oder gar Belehrungen, sondern als Widerhaken oder Stachel in einer metaphorischen Bildsprache, die Scherz und Satire und schon gar nicht Ironie ausschließt. Sie stellen sich quer zur alltäglichen Wahrnehmung, sie stellen sich dem Betrachter in Weg.

Seine Plakate sind eindeutig. Sie markieren Stellungnahmen, Positionen. Positionen, die nicht mahnen, fordern oder gar belehren, sondern Positionen, die sich quer stellen. Plakate sind hier ausschließlich Energie, Beschleuniger und Verstärker: Gunter Rambow tritt uns unmittelbar und frontal gegenüber. Ausweichen geht nicht. Die Chronik der Stadt Frankfurt für 1978 verzeichnet zahlreiche Konzerte von Albert Mangelsdorff im Jazzkeller und von Emil Mangelsdorff im Sinkkasten, im Januar wird der 80. Geburtstag des Architekten Ferdinand Kramer gefeiert, Frank Zappa gastiert in der Frankfurter Festhalle, und bei den städtischen Kammerspielen sagt das Ensemble die Aufführung von Büchners „Leonce und Lena“ vor vollem Haus ab, weil ein Angehöriger des Ensembles als Sympathisant der Baader-Meinhof-Gruppe zu einem Jahr Freiheitsentzug wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung verurteilt worden ist. Im Februar wird der hundertste Geburtstag von Martin Buber mit der Verleihung eines Preises an den Bankier Walter Hesselbach gefeiert, und im März erscheinen wegen eines Streiks in der Druckindustrie an mehreren Tagen keine Zeitungen, am Schauspiel haben Harold Pinters Hausmeister in der Inszenierung von Peter Palitzsch und Kleists Penthesilea Premiere, die Plakate dazu hat Gunter Rambow gemacht, Astrid Lindgren erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Nicolas Born wird Stadtschreiber von Bergen, und im November hat die Antigone des Sophokles in Übersetzung von Hölderlin und inszeniert von Christoph Nel Premiere am Schauspielhaus Premiere.

Es war jedem vollkommen klar, dass diese Aufführung in Zusammenhang stand mit den Ereignissen des Vorjahres, die als deutscher Herbst in die Geschichte eingegangen sind.

Nachdem die zu lebenslanger Haft verurteilten Mitglieder der Roten Armee Fraktion sich in der Nacht zum 17.Oktober 1977 in der JVA Stammheim das Leben genommen hatten, war es zu einer hasserfüllten und erbitterten Debatte darüber gekommen, ob es zumutbar sei, diese Toten auf dem städtischen Friedhof in Stuttgart zu bestatten. Oberbürgermeister Manfred Rommel entschied damals im Alleingang zugunsten der Toten Baader, Ensslin und Raspe und genehmigte die Beerdigung auf dem Friedhof Dornhalden. Die Parallele zum Stoff der antiken Tragödie Antigone lag auf der Hand. Antigone bricht das Verbot ihres Onkels, des Königs Kreon, ihren toten Bruder Polyneikes zu bestatten, und stirbt in der darauf folgenden Haft den Hungertod. In dem Episodenfilm Deutschland im Herbst, der 1978 in die Kinos kam, spielte Volker Schlöndorff sich selbst in einer von Heinrich Böll entworfenen Episode als Theaterregisseur, dessen Aufführung der Antigone von Sophokles zensiert wird, weil die Darstellung des antiken Stoffes als Aufruf zur Gewalt und zum Terrorismus interpretiert werden könnte. Für die Frankfurter Antigone-Aufführung von 1978 hat Gunter Rambow ein Plakat gestaltet, das zur Ikone wurde: Ein brennender Stuhl auf dunklem Boden unter einem ebenso dunklen Himmel. Sie war in der ganzen Stadt unübersehbar. In diesem Bild sind alle Gefühle verdichtet, die in den siebziger Jahren die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland markiert haben. Der Zorn, die verlorene Liebe, die gescheiterten Hoffnungen. Dazu ein Kommentar von Friedrich Hölderlin: „Du räumst dem Staat denn doch zu viel Gewalt ein. Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann. Was aber die Liebe gibt und der Geist, das lässt sich nicht erzwingen.“

 | © Foto: Harry Oberländer

Von heute aus gesehen sind das alte Geschichten aus entlegenen Gebieten. Nicht nur für die Bundesrepublik war das Thema staatlicher Gewalt, sondern auch für die DDR. 1990, als dieser Staat untergegangen war, gab es in Berlin eine Rambow-Ausstellung der Akademie der Künste. Heiner Müller hat aus diesem Anlass das folgende Prosagedicht geschrieben.

Im Fernsehen die Verhaftung Erich Honeckers nach der Krebsoperation am Tor der Charité. Ein alter Mann, gezeichnet von 16 Jahren Macht, die seinen Verstand überfordert und seinen Charakter, ausgehöhlt von zehn Jahren Haft im Zuchthaus Brandenburg, zermürbt hat, trauriger Beleg für Jüngers These von der wachsenden Disproportion zwischen dem Format der Akteure und ihrem Aktionsradius in der neueren Geschichte, von seinen Kreaturen jetzt dem Volkszorn als Sündenbock präsentiert. (Inzwischen hat ihn die Kirche aufgenommen, eine alte Macht, die nur noch nach den Seelen greift, nicht mehr nach den Körpern.) Ich sehe die Bilder und denke an Rambows Theaterplakate in Frankfurt, Hauptstadt der Banken und der Prostitution und eine kurze Zeit lang des politischen Theaters in der Bundesrepublik. ANTIGONE: Hölderlins republikanischer Stuhl brennend auf dem Scheiterhaufen der Restauration GUNDLING zerrissene Figur des zweigeschlechtlichen stürzenden IKARUS, Lessing Kleist Friedrich der Große, oben links flatternd das NEUE DEUTSCHLAND, Zeitung ohne Leser , verlorenes Bramsegel der sozialistischen Todgeburt. ZEITMASCHINE: der Hamletdarsteller ohne Gesicht im Rücken eine Mauer, sein Gesicht eine Gefängniswand. Bilder, die keine Aufführung einholen konnte. Wegmarken durch den Sumpf, der sich schon damals zu schließen begann über dem vorläufigen Grab der Utopie, die vielleicht wieder aufscheinen wird, wenn das Phantom der Marktwirtschaft, die das Gespenst des Kommunismus ablöst, den neuen Kunden seine kalte Schulter zeigt, den Befreiten das eiserne Gesicht seiner Freiheit.

Dichtung nennen wir etwas, das uns die Wirklichkeit in komprimierter, eben verdichteter Form vor Augen führt, und insofern haben wir hier ein_ poéme en prose_, eine sprachliche Verdichtung der Historie, die in kongenialer Weise der bildlichen Verdichtung in den Plakaten von Gunter Rambow zur Seite steht.

Bei alledem tröstet uns die Musik, und deshalb zum Abschluss eine kleine Geschichte, die über diese Ausstellung hinausweist, vielleicht auf die nächste oder auch übernächste.

1890 erreichte den Komponisten Engelbert Humperdinck, der immer noch damit beschäftigt war, sich von seinem Übervater Richard Wagner zu lösen und inzwischen in Frankfurt am Main als Dozent am Hoch’schen Konservatorium tätig war, die Bitte seiner Schwester Adelheid, die Musik zu einem von ihr verfassten Märchenspiel für Kinder zu schreiben. „Etwas recht Hübsches, Volkstümliches“ sollte es sein.

Für Engelbert Humperdinck wurde es die Heilung seiner Wagner-Blockade. Er entwickelte das familiäre Singspiel zur vollständigen Oper weiter, die im Dezember 1893 in Weimar unter der musikalischen Leitung von Richard Strauß uraufgeführt wurde. Humperdinck eroberte damit die deutschen Gemüter im Sturm. Der Erfolg beim Publikum war ungeheuer. 50 Bühnen nahmen das Stück in ihr Programm auf. Seither gehört Hänsel und Gretel zu den meistgespielten Opern.

Zur selben Zeit, 1889 gründete ein Mann namens Hermann Bahlsen die „Hannoversche Cakesfabrik“ um dort Butter-Biscuits herzustellen, wie er sie in England kennengelernt hatte. Er verkaufte die Cakes abgepackt in Tüten und benannte sie nach Gottfried Wilhelm Leibniz, den er zu Recht als einen großen Hannoveraner verehrte und damit zu Unrecht auch unterschätzte. Bahlsens Werbeslogan war: „Was isst die Menschheit unterwegs? Selbstverständlich Leibniz Cakes!“

Da die Deutschen seinerzeit aber noch nicht gelernt hatten, englische Wörter auch englisch auszusprechen, erfand er kurzerhand auch noch das neue deutsche Wort „Keks“. Für Humperdincks „Hänsel und Gretel“ hat Gunter Rambow einen vom Zentrum her an- und ausgeknabberten Leibnizkeks entworfen, der seine 52 Zähne vollständig vorweisen kann. Es ist ein großes Loch in deutschen Keks. Voltaire hatte das schon früher geahnt und sich im Candide einen Spaß daraus gemacht: Wir leben nicht in der besten aller Welten, wie Gottfried Wilhelm Leibniz deduziert hatte. Humperdincks Oper handelt auch von Armut und Kindesmissbrauch, ihrem Happy End zum Trotz. Für eine ganze Weile werden wir uns damit trösten müssen, dass die beste aller Welten die Welt der Oper und die Welt der Plakate ist.
 
 
 
 

Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung „Galerie Rambow zeigt Rambow”
1. Literaturplakate Güstrow, 17. September 2022

Letzte Änderung: 29.09.2022  |  Erstellt am: 29.09.2022

Die Ausstellung in Güstrow hat keine festen Öffnungszeiten, wer sie sehen will muss bei Gunter Rambow klingeln oder anrufen und einen Termin vereinbaren.

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Kommentare

Kammann, Petra schreibt
Großartige Darstellung der Atmosphäre Ende der 70er in Frankfurt und eine tolle Würdigung der Arbeit von Gunter Rambow. Hat mir etliches wieder in Erinnerung gerufen
Wolf von Wolzogen schreibt
... Ich denke auch an die kongenialen Plakate "Goncourt oder die Abschaffung des Todes" oder "Mein Museum am Main. Städel", das mir über Jahre in einer U-Bahn-Station vor die Augen trat. Plakate, die einem nicht nur "ins Auge springen, sondern dann auch nach Jahrzehnten mit einer Geschichte erinnerlich bleiben.

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