Der Himmel ist bei Marc Chagall zumeist bevölkert. Geigen, Liebespaare und Tiere fliegen, Engel stürzen. WELT IN AUFRUHR. Unter diesem Titel sind in der Kunsthalle Schirn Frankfurt noch bis zum 19. Februar 2023 rund 60 Gemälde, Papierarbeiten und Kostüme Chagalls zu sehen. Walter H. Krämer lenkt den Blick allerdings auf dessen Gemälde „Commedia dell’arte“ im Foyer der Städtischen Bühnen Frankfurt.
Für die einen ist der Maler Marc Chagall der Meister der Farbe und der Gestalter der Bibel. Für andere ist er ein Küchenkalender-Maler. Die wenigsten aber wissen, dass er ein russischer Jude war, der schon 1938 die Schrecken der Nazis vorhersah. Seine Auseinandersetzung mit den politischen Ereignissen der Zeit lässt sich besonders gut anhand des Entstehungsprozesses und mehrerer Überarbeitungen seines Gemäldes „Der Engelssturz“ in den 1930er und 1940er Jahren nachvollziehen. Der Künstler selbst bezeichnete das Bild nach 1945 als „das erste Bild der Serie von Vorahnungen“. Die endgültige Version des Gemäldes im Jahre 1947 zeigt sich dann auch deutlich verändert. Besonders deutlich die Veränderung des Engels. Dieser zeigt jetzt eindeutig weibliche Züge und stürzt mit weit aufgerissenem Mund auf die Erde nieder. Der Engel ist nun nicht mehr Ursache des Schreckens, vor dem die Menschen fliehen, sondern er erschrickt selbst vor dem, was er auf der Erde sieht. (siehe hierzu auch den Katalog zur Ausstellung MARC CHAGALL. WELT IN AUFRUHR)
Ich nehme diese Ausstellung https://www.schirn.de/ausstellungen/2022/chagall/
zum Anlass, um über eines seiner Werke, das seit dem 15. Dezember 1963 – allerdings mit Unterbrechungen – im Foyer von Schauspiel und Oper Frankfurt zu sehen ist:
Die italienische Commedia dell’arte gilt als Ausdruck des Theatralischen schlechthin. Sie steht für Vitalität, Sinnlichkeit und Spontanität. Der Zusatz „dell’arte“ bedeutet in diesem Zusammenhang „Kunst“ und verweist auf die Professionalität und Virtuosität dieser neuen von Berufsschauspieler*innen erschaffenen Theatergattung. Mit der Commedia dell’arte rückten die Aktionen der Mimen in den Mittelpunkt des Geschehens. Improvisationskunst und ein bunter Reigen mimischer, musikalischer und choreographischer Einfälle waren dabei die besonderen Merkmale des italienischen Stehgreifspiel. So gesehen ist der Titel des Gemäldes für das Theaterfoyer der Städtischen Bühnen eine gute Wahl.
Im Januar 1958 besuchte der damalige Kulturdezernent von Frankfurt am Main, Karl Julius Herbert Viktor vom Rath (1915–1986), Marc Chagall in Südfrankreich und besprach mit ihm ein mögliches Auftragswerk für das Theaterfoyer. Chagall sagte zu, eine zweite, größere Fassung seines Gemäldes Commedia dell’ arte anzufertigen.
Mitte Dezember 1958 beschloss die Stadtverordnetenversammlung den Kauf des Bildes und der dazugehörigen 14 Skizzen von Marc Chagall – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Kaufpreis in Höhe von 150.000 Mark durch Spenden von Frankfurter Firmen und Privatleuten aufgebracht würde. Das wurde letztlich auch mit Hilfe der Adolf und Luisa Haeuser-Stiftung, die seit dieser Zeit Eigentümerin des Gemäldes ist, erreicht.
Pünktlich zur Eröffnung der so genannten Theaterdoppelanlage im Jahre 1963 hing das 2,50 × 4,00 Meter große Gemälde bis 2004 im Chagallsaal. Danach folgten Restaurierungsarbeiten am Gemälde, Ausstellungen im Frankfurter Ikonenmuseum und Reisen zu anderen Ausstellungen in Europa. Seit dem 25.9.2008 ist das Gemälde – nachdem alle Auflagen der Stiftung (Alarmanlage, Umbau und Klimatisierung der Vitrine) erfüllt, ein neuer Leihvertrag zwischen Stiftung und Städtischen Bühnen geschlossen und die „Commedia“ gründlich restauriert – wieder dort zu sehen, wofür es gemalt wurde: im Chagallsaal der Theaterdoppelanlage.
Eine Bemerkung am Rande: Seit 2008 verwendet der Frankfurter Verein Kultur für ALLE e.V. das Motiv des Bildes Commedia dell’Arte für seinen Kulturpass, den Interessierte für einen Euro (Kinder die Hälfte) erwerben können. Der Kulturpass schmückt sich mit Chagalls Bild, denn, so der Verein: er soll “kein Armutspappendeckel” sein, sondern soll mit Stolz als Ausweis des Rechts und Interesses an Teilhabe an Kultur vorgezeigt werden können.
Marc Chagall malte im Auftrag der Stadt Frankfurt für das Foyer des neuen Theatergebäudes das Gemälde Commedia dell’arte. Es hängt im dafür vorgesehenen Chagallsaal, der gleichzeitig als Verbindungsraum des Opern- und Schauspielfoyers dient. Das Besondere an diesem Werk ist, dass es Chagall nicht für andächtige Kunstbetrachter im Museum geschaffen hat, sondern für Flaneure im Theaterfoyer, die sich im Vorübergehen an dem heiteren Farbenkosmos erfreuen können.
Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt die Mehrheit des deutschen Publikums, Chagall als modernen Maler zu entdecken. Sein Werk bereitet wesentlich den Weg zum Verständnis moderner, auch abstrakter Kunst. Gleichzeitig werden vor allem Chagalls biblische Bilder als Zeichen der Versöhnung und eines neuen Friedens wahrgenommen.
Für die Theaterdoppelanlage wollte man die darstellende und die bildende Kunst zusammenbringen: das Theater als eine ganz eigene Welt, zu der die bildenden Kunst unbedingt gehörte. Kein Geringerer als Marc Chagall sollte mit dieser Aufgabe betraut werden … und er sagte zu, obwohl er 1941 vor den deutschen Truppen aus Frankreich in die USA fliehen musste. Seine Liebe zum Theater gab letztlich den Ausschlag, diesen Auftrag der Stadt Frankfurt anzunehmen. „Es ist nicht so“, sagte er, „dass ich die Welt als Commedia dell’arte male. Die Welt ist die Commedia dell’arte. Und genau das ist es, was dieses Bild so besonders macht: es erzählt von den Schauspieler*innen, den Sänger*innen, den Tänzer*innen und der Musik. Die Realität wird ins Phantastische gewendet und das Alltägliche als bunte Bilderwelt gestaltet. Die Welt des Dichters ist ebenso eingefangen wie die des Regisseurs und des Publikums.
Beim Flanieren durch das Pausenfoyer sollte man das Gemälde Szene für Szene wahr- und in sich aufnehmen – genau wie den Theaterbesuch selbst.
Das Bild wurde von Chagall – und dies ist eine Besonderheit – für diese Stadt, dieses Theater und diesen Raum (den es im Übrigen zur Zeit der Entstehung des Gemäldes noch gar nicht gab) geschaffen:
„Chagall hatte sich die genauen Maße dieses Raumes geben lassen, die Grundrisse und den Aufriss und legte zunächst das Format des Bildes nach diesen Gegebenheiten fest. Die Größe des Foyer-Raumes bewog ihn, auf 2,50 × 4 Meter zu gehen.
Chagall ging von dem Gedanken aus, dass der Betrachter ein Bild in einem Theaterfoyer „im Vorbeigehen“ erlebt. Er war ferner der Meinung, der Theaterbesucher solle in der Pause nicht aus dem Erlebnis der Aufführung gerissen werden; mit anderen Worten: das Bild müsse ihm die Illusionswelt der Bühne erhalten, gleichsam ein Zwischenvorhang von einem zum anderen Akt sein. Chagall wusste auch, dass ein Bild in einem Foyer fast immer bei künstlichem und nicht bei Tageslicht gesehen wird, und er hat seine Farben sorgsam darauf eingestellt.
Die Frankfurter Commedia dell’arte ist also nicht irgendein Bild, das an einem beliebigen, unbestimmten Ort aufgehängt werden kann, sondern es ist für einen bestimmten Ort, für eine bestimmte Gelegenheit, für eine bestimmte Stadt und es ist fester Bestandteil der Theaterarchitektur.“ (Karl vom Rath in: „Frankfurt und sein Theater“, Bibliotheksausgabe mit Nachwort und Register, Frankfurt am Main, 1971)
Das traditionsreiche Schauspielhaus Frankfurt soll abgerissen werden – oder auch nicht – und durch einen Neubau – oder auch nicht – ersetzt werden. Noch ist nichts endgültig entschieden. Wie auch immer die Entscheidung ausfällt – auch für das Gemälde Commedia dell’arte von Marc Chagall muss und sollte dann ein neuer und stimmiger Ort gefunden werden.
Ehe es soweit ist: Gehen sie ins Theater, besuchen sie eine Vorstellung und lassen sie sich von diesem farbenfrohen Gemälde inspirieren und erfreuen.
PS: Die Fenster in der Kirche St. Stephan zu Mainz und das Gemälde Commedia dell’arte in Frankfurt am Main sind die beiden einzigen Werke, die er für Deutschland nach dem Krieg gemalt hat und er war dafür keinen Moment vor Ort – nach dem Krieg wollte er Deutschland nicht mehr betreten.
Letzte Änderung: 16.01.2023 | Erstellt am: 16.01.2023
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