Leichtigkeit und formale Strenge

Leichtigkeit und formale Strenge

Hagemeister und die Gegenwart
Carl Schuch: Porträt Karl Hagemeister, Venedig 1876 | © Wikimedia Commons

Das Ende der Malerei und ihre Wiederbelebung ist ein Thema, das unerbittlich die Geschichte der Malerei durchzieht. Dennoch ist das Gleiche nicht dasselbe. Wie in allen Künsten können sich selbst Replika nicht der Beeinträchtigung durch die jeweilige Zeitgenossenschaft entziehen. Das allein schon macht die Wiederbelebung interessant: Immer assistiert die Gegenwart der künstlerischen Arbeit. Die Ausstellung „Karl Hagemeister und die Malerei heute“ im Berliner Bröhan Museum zeigt farbverliebt und satt, wie Kunstwerke über ein Jahrhundert hinweg miteinander kommunizieren. Marius Hulpe berichtet.

Eine Erfahrung, die den Typus des mehr oder weniger fröhlich vor sich hin konsumierenden Laien mit dem des sortierenden, einordnenden, vergleichenden und strukturanalysierenden Connaisseurs verbindet, ist die der Wiederkehr: von Motiven, Anleihen, Strukturen, Narrativen. Formensprache ist nicht nur in den Künsten allgegenwärtig, sondern dimmt und belichtet sie bekanntlich jeden noch so profanen Alltagsvorgang, korrespondiert ein- und denselben Stoff durch ihr unerschöpfliches Reservoir an Wahrnehmungstrichtern und gibt diesem Stoff damit immer neue Bedeutungen. Lädt ihn mit Bedeutung auf, und entlädt ihn wieder. Oder aber wertet die Bedeutungen um. Schon Nietzsche beschwor generös die „Umwertung aller Werte“, und die Ex- und Impressionisten folgten oder entsagten ihm auf die eine oder andere Weise. Deutlich aber wurde: Form bewirkt fast alles, noch auf den schäbigsten Gegenstand, den hintergründigsten Stoff angewandt.

Eine der längst – und inflationär häufig – totgesagten Formensprachen ist die Malerei. Wer heute noch malt, ach was, wer noch im frühen 20. Jahrhundert gemalt hat, betritt und betrat ein Parkett, das historisch gesehen längst abgeräumt wurde, und zwar auch deswegen, weil man es bis in seine äußersten Winkel ausgereizt und plattgetanzt hat, nicht immer auf die sanfteste Tour. In der Malerei trafen schon immer grobe theoretische Anordnungen, die ihr Ende markieren sollten, auf neue, –„ernsthafte“ Anläufe, die Form als solche wiederzubeleben, aus der Wiederbelebung selbst wurde ein ganz eigener Sport.

Auf all diejenigen, die sich auch im 21. Jahrhundert noch vor die Aufgabe gestellt sehen, Malerei zu erneuern, muss dies als eine in sich zutiefst widersprüchliche Gemengelage wirken, in der eigentlich schon alles gesagt wurde, ohne dass man zu einem Ergebnis oder Urteil gekommen wäre. So oft das Ende der Malerei auch vermeintlich nachgewiesen worden ist, so oft wurde es auch mindestens auf praktischer Ebene widerlegt.

Dieser grundsätzlichen Überforderung wurde, ob kuratorisch, wissenschaftlich oder produktiv, immer wieder eine ganz besondere Aufmerksamkeit zuteil. Umso erstaunlicher ist es, wenn eine Ausstellung wie die aktuell im Berliner Bröhan Museum Gezeigte unter dem Titel „Das Ende der Malerei. Karl Hagemeister und die Malerei heute“ nicht nur in ihrem Titel auf diesen performativen, zugleich produktiven Widerspruch hinweist, sondern den Widerspruch gleichsam zu neuem Leben erweckt, ihm ein Eigenleben verleiht. Ihre Kraft bezieht die Ausstellung aus ihrem zentralen Motiv: der Korrespondenz der Formen und ihrer hergebrachten Bedeutungen.

Vom Ansatz aus, die Malerei Hagemeisters, der ein ländliches Leben dem Berliner Kunstbetrieb weitgehend vorzog, einerseits neu zu zeigen, andererseits als Ausgangspunkt dieser vielfältigen Korrespondenzen zu wählen, entstehen kleine Inseln voller Geschichte und Naturgeschichte, voller Spiegelungen, komplexer Brüche und erstaunlicher Fügungen. Den größten Brückenschlag zwischen Hagemeisterscher Moderne und Gegenwart schlagen dabei mit Swaantje Güntzel und Danja Akulin zwei Künstlerinnen, deren eher theorielastige (Güntzel) und an der produktiven und handwerklichen Praxis orientierte (Akulin) Ansätze einander diametral gegenüberstehen, und damit auch ihre Interpretationen des Endes der Malerei. In der Fotografie „Seestück III“ verfolgt Güntzel einen hochkonzeptionellen Weg der Wahrnehmungsverarbeitung, wenn die ein Luftballonknäuel haltende Künstlerin Hagemeisters „Wellen im Sturm“ (1915) betrachtet, während weitere Ballons, aus denen die Luft bereits entwichen ist und die sie an verschiedenen deutschen Stränden aufgelesen hat, links und rechts zu ihren Füßen liegen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Meeres klingen an, und auch ganz explizit bezieht sich Güntzel auf Hagemeister, dessen Bild des Meeres hier zu einem kontrastvollen Vorstellungsraum wird.

Implizit unterstreicht die Arbeit noch einmal Hagemeisters These von der Unmalbarkeit eines Meeres nach diesem letzten Versuch. Nur die von Müll und Kulturtrash durchzogene Installation kann den Pfad noch einmal ernsthaft aufnehmen und zeigt zugleich, dass sie in ihrer Vorstellung eines idealisierten Meeres ohne den modernen Hagemeister nicht mehr auskommt: Beschädigung der Meere bedeutet auch Beschädigung der Wahrnehmung.

Karl Hagemeister: Auf Wellen herabstossende Boe | © Foto: Wikimedia Commons

Dagegen liest sich die Gegenüberstellung von Akulin und Hagemeister wie ein Gespräch über die technische Reproduzierbarkeit natürlicher Strukturen überhaupt. Und nähert sich damit eindrucksvoll den Übersetzungsmöglichkeiten von Wahrnehmung in handwerkliche Prozesse an, wie sie bei jeder künstlerischen Innovation fundamental sind.

Die Kuration betont hier den Blick auf das Gemeinsame, und gemeinsam ist ihnen der Versuch, mit von der klassischen Malerei abweichenden Techniken Ufer- und Küstenlandschaften einzufangen, in lichtaffinen Graustufen. Während Hagemeister in seinen „Märkischen Studien“ (1890-1900) von der Malerei abwich und Landschaft per Glasnegativ auf Fotoplatte bannte, greift Akulin zurück zu Bleistift, Grafit und Papier, mittels deren interner Korrespondenz sie sich auf die Suche nach einem durchbrechenden Licht macht, nach einer Regung im Schilf oder einer Konstellation, die von Kontemplation statt Beschädigung zeugt. Insofern will auch Akulin zurück zu einer harmonischen Naturwahrnehmung, allein: es trennen sie gut hundert Jahre vom Naturbild Hagemeisters.

Deutlich urbaner geht es bei Erik Schmidt zu, der mit Ölfarbe die Strukturen eines Fine Art Prints mit mal konventionelleren, mal überraschenden Akzentuierungen nachvollzieht. Hier wird Großstadt zum Projektionsraum, der für Schmidt zwar nicht mehr malbar ist, sich in seiner Rezeption aber dennoch wahrnehmerisch kuratieren lässt. Viele urbane Flächen entziehen sich schlicht der Wahrnehmung, andere biedern sich ihr regelrecht an und stechen grell heraus aus dem Orkus der strukturellen Wiederholungen und Variationen. Dabei werden die verschiedenen Eigenschaften des Urbanen neu bewertet; mal werden sie bloß paraphrasiert, mal flächig verstärkt, durch Auslassung und Understatement ironisiert oder konterkariert. Stadt malt sich selbst und wird so zur Natur, die von keinem singulären Bewusstsein mehr erzeugt wird, sondern einem kollektiven.

Auf den nahe gehängten Markus Linnenbrink wiederum lassen sich diese Arbeiten deswegen so gut beziehen, weil es sich in beiden Fällen um Strukturanalysen handelt, wobei es sich im Falle Linnenbrinks eher um Grundlagenforschung von Malerei, im Falle Schmidts um deren Anwendung handelt. Als Anleihe für Linnenbrink ist zudem ein reduktionistischer Morris Louis („Saiph“, 1962) anbeigesellt, der den Archetypen malerischer Grundlagenforschung markiert. Im Zusammenhang der Ausstellung wirken diese Arbeiten wie Rückversicherungen, aber auch als Beförderer des Möglichkeitssinns. Alles, was da ist, lässt sich bis in seine Grundelemente hinein sezieren und neu rekombinieren. Auch die Geschichte hat es rekombiniert, und in den besten Fällen mit gutem und gravierendem Grund.

Karl Hagemeister: Mohnfeld 1910 | © Foto: Wikimedia Commons

Am exemplarischsten und für den großen Kunstmarkt vermutlich interessantesten, weil für die Formenkorrespondenz plakativsten, ist die Nebeneinanderstellung von Hagemeisters „Mohnfeld“ (Öl auf Leinwand, 1910) mit der „Untitled Number 325“ (2013) von Jerry Zeniuk, einer harmonisch auf Leinwand verteilten Ansammlung von leuchtenden, runden Farbtupfern. Hagemeister selbst lotet hier noch die Kippunkte zur Abstraktion aus, die roten Farbflecken können erst durch den Kontext als Mohnblüten identifiziert werden, nehmen zugleich eine dominante Rolle gegenüber ihrer Umgebung ein.
Für Zeniuk hingegen sind alle Abstraktionsfragen längst geklärt. Seine roten Tupfer stehen strukturell gleichberechtigt neben den andersfarbigen und stechen doch heraus – so wird das harmonische Eigenleben der Farben nicht nur demonstriert, sondern in seiner Lebensfreude auch zelebriert.

Weitere Arbeiten erweitern und bereichern den konstruktivistischen Ansatz der Kuratoren Tobias Hoffmann und Fabian Reifferscheidt. Etwa die Leichtigkeit versprühenden malerischen Anordnungen von Martha Jungwirth: Spritzer und Flecken, teils in pastellenen Tönen, auf pappbraunem und auf Leinwand gezogenem Papier. Was auf den ersten Blick wie hingeworfen, fast beiläufig wirkt, erweist sich als hochgradig komponiert. Leichtigkeit von hoher formaler Strenge, ein scheinbarer Widerspruch in sich. Doch Jungwirths Kunst besteht darin, die Harmonie der Elemente einzufangen und zugleich die Spannung zwischen ihnen zu wahren.
An dieser Stelle fügt sich Hagemeisters „Frühlingsabend I“, in dem er sich ähnlichen Dimensionen von Leichtigkeit in Bezug auf seine Naturwahrnehmung annähert, in besonderer Weise ein. Auch er suchte nach Wegen, das mitunter Idealtypische und zugleich doch Hingeworfene von Natur miteinander in Einklang zu bringen, so wie es seiner eigenen, wenn auch nicht durchgehenden, so doch wiederkehrenden Wahrnehmung entsprach.

Nicht zuletzt wartet die Ausstellung mit einigen sinnlichen, aber auch wiederum theorielastigen Höhepunkten auf. Kuno Gonschiors gelbe, saftige Akryltupfer auf braunem Leinen (o.T., 1999) erweisen sich ebenso als sinnlich aufgeladener, haptischer Sinnesmagnet wie die unvermeidliche Position eines Herman de Vries, vor der man nach all der Anordnung und Kuratierung, all der Reflexion und Infragestellung plötzlich steht. De Vries lässt sinnlich erfahren, was sich vor lauter Positionierung inner- oder außerhalb der Malerei beim Betrachtenden ohnehin als stetiger Hintergedanke entwickelt: der an die Eigenpotenz und -schönheit der Natur, an ihre schöpferische Eigenständigkeit. De Vries lässt die Natur schlichtweg selbst malen, ironischerweise also Landschaftsmalerei betreiben, und gezeigt wird das hier an einem Moos-Vegetationsschnitt (“paysage”, 2007). Ihre Zufälligkeit und Materialität stehen dabei nicht nur in Kontrast zur Natur als menschlicher Kunstproduktion, sie sind ihr gegenüber auch im produktionsästhetischen Vorteil.

Auch wenn der im Bröhan Museum gezeigte Ansatz der motivisch-strukturellen Rekombination, von der aus sich auf viel Größeres schließen lässt, sicher kein neuer ist, erstaunt und beeindruckt die Lebendigkeit der Ausstellung. An allen Enden sprießt, glüht und funkt es, Geschichte und Theorie der Malerei werden in einer Weise versinnlicht, wie es wohl selten der Fall ist.

Hagemeister, der das Landleben dem Berliner Kunstbetrieb weitgehend vorzog, dürfte sich angesichts all seiner Wachsamkeit für minimale Verschiebungen aufgehoben fühlen, und besonders erfreulich ist es, wenn eine solche Stoßrichtung wie diese es selbst vollbringt, analytisch zu werden: sich als Installation selbst an der Grenze zum halb begreifenden, halb zweifelnden Kunstwerk zu bewegen, dabei das Problem der ewigen formalen wie inhaltlichen Wiederkehr selbst zu problematisieren und produktiv werden zu lassen. Den Sinnen ist es ein Fest.

Letzte Änderung: 05.07.2023  |  Erstellt am: 05.07.2023

Das Ende der Malerei
Karl Hagemeister und die Malerei heute.
Bröhan-Museum,
noch bis 30. Juli 2023

Bröhan-Museum

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Kommentare

Gurbet schreibt
Ein fulminanter Beitrag der die Ausstellung perfekt analysiert.

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