Die Kunstbiennale Venedig bietet im Jahr 2022 mehr Kunstwerke an, als man zu sehen vermag. Außerkünstlerische Ereignisse haben immer wieder die Ausrichtung der gewaltigen Schau beeinflusst. Wer sich durch die Giardini und das Arsenale bewegt, wird dennoch die grenzenlose Vielfalt des Angebots wahrnehmen und, wie Walter H. Krämer, sich nachhaltig beeindrucken lassen.
Schau der Superlative
Pandemiebedingt wurde die Biennale um ein Jahr verschoben und lockt Besucher und Besucherinnen aus aller Welt erst in diesem Jahr (2022) noch bis zum 27. November nach Venedig. Es ist wie schon des Öfteren eine Schau der Superlative, und man kann sich vor Kunst im Arsenale und den Giardini kaum retten. Nicht zu vergessen, die über die ganze Stadt noch zusätzlich verteilten Länder-Pavillons – die Giardini reichen dafür längst nicht mehr aus – die „Collaterali“-Ausstellungen und zusätzlich noch die Ausstellungen in Museen und Galerien. Kunst also allerorten und natürlich eine Überforderung für jeden Besucher/jede Besucherin. Lässt man den Anspruch fallen, alles und jedes gesehen und erlebt zu haben, kann es eine vergnügliche Reise werden mit überraschenden Einblicken und neuen Sichtweisen und Erkenntnissen.
Hier zunächst einige Zahlen und Fakten: Die Biennale 2022 glänzt mit 80 nationalen Pavillons. Darunter fünf Länder – Kamerun, Namibia, Nepal, Oman und Uganda – die zum ersten Mal dabei sind. 213 Künstler und Künstlerinnen aus 58 Ländern zeigen auf der Hauptausstellung der Biennale ihre Werke – davon sind 180 zum ersten Mal in Venedig vertreten.
Das älteste Kunstwerk auf der Biennale stammt von Maria Sibylla Merian (1647–1717). Und – ein weiterer Superlativ – 1.433 Werke (so viele wie noch auf keiner Biennale) werden allein in der Hauptausstellung gezeigt. Also auf keinen Fall sollte man als Besucher*in dem Anspruch verfallen, alles sehen zu wollen.
1895 besuchten immerhin schon 224.000 Menschen die Biennale. Im Jahr 2019 – also bei der letzten Biennale vor der Pandemie – wurden rund 590.000 Tickets verkauft. Man darf gespannt sein, wie hoch die Besucherzahlen bei dieser Biennale am Ende sein werden.
Seit 1948 wurde die Biennale 32mal von Männern kuratiert, einmal gab es ein männlich-weibliches Kuratoren Team und einmal eine weibliche Doppelspitze. Cecilia Alemani – die Kuratorin der diesjährigen Biennale – ist somit jetzt erst die dritte Frau, die für die Ausstellung alleine verantwortlich zeichnet.
Der Titel der diesjährigen Biennale „The Milk of Dreams“ (Die Milch der Träume) geht auf ein Kinderbuch von Leonora Carrington (1917–2011) zurück, in dem die surrealistische Künstlerin eine magische Welt beschreibt. Eine Welt, in der sich jeder verändern, verwandeln oder jemand anders werden kann.
Die Kuratorin Cecilia Alemani beschreibt ihre Sicht auf die Welt so: Der Mensch steht nicht mehr länger im Zentrum der Welt, sondern er bildet neue Gemeinschaften mit der Erde, Tieren oder/und Technologien und öffnet sich damit einem magischen Reich voller hybrider Wesen. Getreu dieser Vorstellung hat die Kuratorin auch Werke ausgewählt, die diese Sicht auf die Dinge und die Welt illustrieren/beglaubigen. Und obwohl 80 Prozent der eingeladenen Künstler Frauen sind, ist auf keinen Fall von einer Frauen-Biennale zu reden. Denn wir sprachen in der Vergangenheit auch nicht von „Männerbiennalen“. Auch das Narrativ von der Quote führt in die Irre. Wir sehen Kunst + künstlerischen Ausdruck aller Beteiligten in unterschiedlichen Ausprägungen und Facetten in Auseinandersetzung mit inneren und äußeren Welten.
Posthumanismus ist ein Schlüsselbegriff, der die diesjährige Biennale prägt und, ganz bewusst, die weibliche Kreativität in der Kunst des 20. Jahrhunderts neu bewertet.
Unterbrochen wird die Bilderflut der Ausstellung durch fünf sogenannte Zeitkapseln. Laut Cecilia Alemani sind „das kleine historische Haltestellen, in denen durch Gemälde und Dokumente vernachlässigte Künstlerinnen aus dem Umkreis von Dada, Futurismus, Bauhaus und Surrealismus hervorgehoben werden und Verbindungen zu jungen zeitgenössischen Künstlerinnen aufzeigen.“
Beginnt man im Arsenale mit dem Rundgang, so zieht einem schon der erste Raum in seinen Bann.
Die riesige Skulptur „Brick House“ von Simone Leigh – die im Übrigen auch wesentlich den amerikanischen Pavillon bestückt hat! – steht mitten im Raum. An den Wänden ringsum Werke der Kubanerin Elkis Ayón in schwarz und weiß. Alles gesichtslose Wesen.
Im zweiten Raum fallen einem die großen Gefäße aus einer metallenen Struktur, Lehm und Adobe ins Auge – allesamt gedacht als Portraits der Familie des argentinischen Künstlers Gabriel Chaile.
Die Wanderung durch diesen Teil der Ausstellung ist für mich sehr stimmig und durchdacht. Teils skurril, frech, sexy, queer, manchmal auch unverständlich und gruselig. So zieht beispielsweise ein Achtspänner aus geisterhaften Giraffen das anatomische Querschnittsmodell eines männlichen Geschlechtsorgans. Damit nicht genug, hat Raphaela Vogel auch noch ein von Geschlechtskrankheiten heimgesuchtes Teil ausgesucht.
Auffällig ist, dass es nur sehr wenige Videoarbeiten gibt. „Von digitaler Kunst habe ich erst mal genug. Ich möchte endlich wieder Malerei riechen!“ so die Kuratorin in einem Interview. Und selbst das wenige habe ich übersprungen.
Ganz am Ende dieses ersten Teils der Hauptausstellung dann eine Installation mit Pflanzen – und zwar sogar mit einer, die – so ist es gedacht – bis zum Ende der Biennale alles überwuchert hat: Gemeint ist die japanische Kletterpflanze Kudzu. Aus diesen Pflanzenteppichen der nigerianisch-amerikanischen Künstlerin Precious Okoyomon ragen immer wieder geisterhaft – wie Vogelscheuchen – anmutende Wesen heraus. Die Natur als Ort, der sich gegenüber der Zivilisation zur Wehr setzen kann und der nie ein geschichtsfreier Raum ist.
In der Hauptausstellungshalle in den Giardini beeindruckt besonders die Eingangshalle mit ihrem Kuppelbau und dem in der Mitte platzierten Riesenelefanten. Katharina Fritsch hat ihn als Symbol für das Matriarchat dorthin stellen lassen.
Ansonsten ergibt es Sinn, sich hier von einem Raum in den nächsten treiben zu lassen und sich von immer neuen Blickwinkeln und Werken faszinieren, begeistern oder auch verärgern zu lassen.
Bleibt noch ein Blick auf die Länderpavillons, die „Collaterali“-Ausstellungen, und natürlich lassen sich Museen und Galerien es sich nicht nehmen, zu Biennale Zeiten auch ihre Künstler*innen zu präsentieren. Im Peggy-Guggenheim-Museum ist derzeit die Ausstellung „Surrealismus und Magie. Verzauberte Modernität“ zu sehen und fühlt sich an, wie eine Ergänzung zur Hauptausstellung der Biennale. Unbedingt sehenswert.
Wer Lust hat auf „Big Names“ – Anselm Kiefer im Palazzo Ducale, Heinz Mack in der Biblioteca Nazionale Marciana, Georg Baselitz im Palazzo Grimani, Anish Kapoor in der Gallerie dell‘Accademia, Marlene Dumas im Palazzo Grassi oder Hermann Nitsch in der Fondmenta S. Biagio auf der Insel Giudecca – auch für ihn hält Venedig Ausstellungen bereit. Wobei mich für diesmal besonders die ausgestellte Arbeit von Hermann Nitsch beeindruckt hat. Ausgestellt und geordnet sind bemalte Wände mit seiner Mischung aus Blut und Farbe aus einer Malaktion aus dem Jahre 2000 – ein Video zeigt ihn bei der Erstellung der Farbflächen. Mich erinnerte die Installation stark an einen Kirchen- und/oder Theaterraum.
Bezüglich der „Collaterali“-Ausstellungen haben mich Arbeiten von Kehinde Wiley – die Ausstellung „An Archaelology of Silence“ auf der Isola di San Giorgio Maggiore zeigt eine Reihe von unveröffentlichten monumentalen Gemälden und Bronze Skulpturen des US-amerikanischen Künstlers mit afroamerikanischen Wurzeln – besonders überrascht und begeistert.
Im belgischen Pavillon zeigt Francis Alÿs eine Auswahl seiner dokumentierten Kinderspiele aus aller Welt. Das alles ist wunderbar einfach gemacht und ein berührendes Zeugnis von Menschlichkeit.
Małgorzata Mirga-Tas’ Wandzyklus aus Textilcollagen und Applikationen zitiert u.a. die astrologischen Fresken im Palazzo Schifanoia und ist im polnischen Pavillon zu sehen. Inspiriert von Teildarstellungen alter Gemälde und Fresken übersetzt sie Figuren und Alltagstätigkeiten in das Polen der heutigen Zeit. Eine sehr große, detailreiche Arbeit, die den ganzen Pavillon auskleidet. Sehr bunt, sehr beeindruckend und ebenfalls – wie viele der Länderbeiträge auf dieser Biennale – unterwegs mit dem Vorsatz, Autor*in der eigenen Geschichte zu sein.
Bei Zineb Sedira im französischen Pavillon vermischt sich Filmgeschichte, persönliche Geschichte, Tanz im Film und echte Tangotänzer im akribisch aufgebauten Filmset. Die algerisch-stämmige Französin erzählt in ihrem warmherzigen Film und der aufwendigen Installation eine Geschichte von Aufbruch, Migration und Sehnsüchten. Man hätte gern des Öfteren Live Performances beigewohnt – aber offenbar fanden diese nur einmalig am Eröffnungstag statt. Schade.
Überreste von Kunst empfangen die Besucherinnen und Besucher bereits im Vorgarten des Schweizer Pavillons und nehmen sie mit auf eine Reise. Die Skulpturen werden mehr und mehr von einer sich ausbreitenden Dunkelheit verschluckt. Es sind Szenen, die den Kreislauf des Lebens auf vielschichtige und komplexe Art thematisieren. Sogar das Material, das die Künstlerin Latifa Echakhch für ihre Ausstellung verwendet, ist Teil einer Transformation. Wiederverwertet wurde Material aus bereits vergangenen Biennalen und alle Objekte wegen ihrer Fragilität vor Ort gefertigt.
Für mich ein Highlight im Reigen der Länderpavillons – der Griechische Pavillon. Die Künstlerin Loukia Alavanou entführt mittels Virtual Reality das Publikum in eine Roma-Siedlung am Rand von Athen und verwebt die Realität vor Ort mit der Geschichte von Ödipus: Verbannt aus Theben, gelangt der alte, blinde, zum Bettler gewordene Ödipus nach Kolonos. Dort sucht er Zuflucht, um von Theseus, dem König von Athen, Asyl zu erbitten.
Bequem auf Liegen kann man durch eine VR-Brille dem Geschehen beiwohnen. Schrecklich nur der Anfang, wenn Geier einem virtuell ganz nahekommen.
Verwandelt in eine düstere Scheune, mit schmutziger Erde und Pferdemist gefüllt, wartet der dänische Pavillon auf Besucher und Besucherinnen. Drei hyperrealistische, tote Mischwesen aus Mensch und Pferd liegen darin, einer der Kentauren baumelt mit einem Strick um den Hals von der Decke herab. Verstehe das, wer kann und will. Wobei der Hyperrealismus der ausgestellten Figuren schon furchteinflößenden und beeindruckend zugleich ist.
Der Pavillon der USA ist mit einer Fassade aus Stroh und Holz kaschiert, die an einen westafrikanischen Palast der 1930er Jahre erinnert. Im Innern des Pavillons acht Plastiken von Simone Leigh, die allesamt eigens für diese Ausstellung entstanden sind.
Im Statement der Kuratorin heißt es: „Die Arbeiten in Sovereignty erweitern zusammen die fortlaufende Untersuchung der Künstlerin zum Thema Selbstbestimmung. […] Souverän zu sein bedeutet, nicht der Autorität eines anderen, den Wünschen oder dem Blick eines anderen unterworfen zu sein, sondern vielmehr Autor*in der eigenen Geschichte zu sein.“
Im lettischen Pavillon hat das Künstler*innenduo Skuja Braden – Ingūna Skuja (*1965 in Lettland) und Melissa Braden (*1968 in Sacramento) – eine Wimmelbild-Wohnlandschaft aus grotesken Buntkeramiken gestaltet – sehr vielseitig und detailreich. Es lohnt, sich Zeit für die einzelnen Objekt zu nehmen. Der Titel „Selling Water by the River“ sorgt nicht nur dafür, dass Wasser- und Flusssymbole die Installation durchziehen, sondern erinnert auch an einen Zen-Spruch, der vermittelt, dass ein erleuchteter Lehrer seine Schüler nur ertüchtigt, zu sich selber zu finden.
Ganz sicher lohnt auch der Besuch des, mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten britischen Pavillons – gestaltet von Sonia Boyce.
Der deutsche Pavillon gehört zu den besten Konzeptkunst-Arbeiten der Biennale. Unter Fußböden und Putz findet Maria Eichhorn die Spuren der Nazivergangenheit des Pavillons. Man streift durch einen leeren und freigelegten Pavillon und wirft dabei Blicke hinter die Fassade und in die Vergangenheit.
Der russische Pavillon blieb leer – mehr oder weniger bewacht von einem Sicherheitsmann. Der widerrechtliche Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat es möglich und notwendig gemacht. Gut wäre es gewesen – oder zumindest eine Idee – der Ukraine diesen Pavillon zur Verfügung zu stellen – zumal dieses Land keinen eigenen Pavillon hat, sondern sich einen Raum mit mehreren teilen muss.
Pavlo Makov macht im „ukrainischen Pavillon“ im Arsenale sein Werk „Fountain of Exhaustion“ zum Sinnbild des Krieges.
Der Kurator für den italienischen Pavillon, Eugenio Viola, kommt mit einem hohen Anspruch und Ausspruch daher: „Der einzige Grund für die Existenz von Kunst bestehe darin, sich mit allem Zivilen zu verbinden“. Möglichst alleine und in Stille soll man durch die Räume der Tese delle Vergini im Arsenale spazieren und eintauchen in eine Geschichte des postindustriellen Italiens. Verstaubte und verlassene Industriemaschinen; eine Wohnumgebung, aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, die jetzt nicht mehr benutzt wird, mit dem schwarzen Telefon, das noch an der Wand hängt. Besonders die Stille des Raumes, der mit Dutzenden von inaktiven Nähmaschinen eingerichtet ist, fällt auf. Hier fehlt der Mensch / die Menschen, denn sie wären doch die einzigen Konstanten in dieser „Geschichte der Nacht und dem Schicksal der Kometen: Aufstieg und Fall des italienischen Industrietraums“. Am Ende der Installation gelangt man über einen Steg zu einem riesigen, in Dunkelheit getauchten Wasserbecken, in dem ab und an ein Schwarm kleiner Lichter erscheint, um ein Gefühl von Hoffnung und Optimismus zu vermitteln.
Diese Installation ist Konzeptkunst, einer Kunst, die sich erklären muss. Kennt man nicht das Konzept, das sich der Künstler Gian Maria Tosatti ausgedacht hat, bleibt man ratlos. Was wäre gewesen, wenn beispielsweise Bernhard Mikeska/Raum+ Zeit (Raum+Zeit ist ein Theaterkollektiv, bestehend aus der Dramaturgin Alexandra Althoff, dem Autor Lothar Kittstein und dem Regisseur Bernhard Mikeska.) in diese Installation einzelne Personen gestellt hätte, denen man im Lauf des Parcours begegnet wäre und die in einer Eins-zu-Eins-Situation etwas über „ihr Leben“ im industriellen Zeitalter erzählt hätten?
Ein Besuch Venedigs lohnt immer – besonders auch in Zeiten der Kunst Biennale. Soviel Kunst auf engsten Stadtraum gibt es sonst nirgends und selten zu sehen. Und inspirierend ist es allemal. Auch diese Biennale ist ein Beweis dafür – noch bis 27. November 2022!
Letzte Änderung: 29.06.2022 | Erstellt am: 26.06.2022
https://www.labiennale.org/en/art/2022
https://universes.art/de/biennale-venedig/2022
Leonora Carrington The Milk of Dreams
Random House LCC US, 05/2017
Einband: Gebunden
Sprache: Englisch
Umfang: 56 Seiten
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