Die Mutter der Moderne
Eine Ausstellung im Pariser Musée du Luxembourg zeigt die Freundschaft zwischen Pablo Picasso und Gertrude Stein als eine künstlerische Verbindung, die die Moderne entscheidend mitgestaltete. Stefana Sabin war in der Ausstellung.
Unter den Verlagsanzeigen für die Neuerscheinungen des Herbstes und den Museumsplakaten für laufende Ausstellungen fällt auf den Pariser Litfaßsäulen eine Werbung besonders auf: eine Frau mit breiten Schultern und schmaler Taille blickt mit ernster Miene ins Leere. Der Gestus der sparsamen schwarzen Striche macht es leicht, das Halbporträt Picasso zuzuschreiben. Und tatsächlich ist die Zeichnung auf dem Plakat eine Vorstudie für das Gemälde von 1907 Les Demoiselles d’Avignon, jenes inzwischen kanonische Gemälde von Pablo Picasso, das den Kubismus gewissermaßen begründete und somit die abendländische Malerei veränderte.
Es war dieses Gemälde, das zum Zerwürfnis zwischen Picasso und einem seiner allerersten Sammler, Leo Stein, einerseits und zwischen Leo und seiner Schwester Gertrude andererseits führte. Die Steins waren in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts von der amerikanischen Ostküste nach Paris gezogen: Leo sah sich als Propagandist der modernen Kunst, Gertrude suchte nach neuen Erzählformen. Zusammen legten sie eine bemerkenswerte Kunstsammlung an. Aber dann tat Leo Picassos Experimente ebenso wie die erzählerischen Konstrukte seiner Schwester als Schnickschnack ab und hielt den Kubismus für „den größten Quatsch, den man finden kann“. Gertrude dagegen erkannte in Picassos Abkehr von den üblichen Sehkonventionen eine formal-ästhetische Erneuerung und übernahm die verschobene, gebrochene Perspektive als narratives Gestaltungselement.
Die Demoiselles d’Avignon jedenfalls besiegelten den Bruch zwischen Leo Stein und Picasso, und das Wort-Porträt, das Gertrude Stein von Picasso schuf und das 1912 in der amerikanischen Kunstzeitschrift Camera Work erschien, besiegelte den Bruch zwischen den Geschwister Leo und Gertrude Stein. Als Leo 1913 aus der gemeinsamen Wohnung am Jardin du Luxembourg auszog, wurde die Kunstsammlung auseinandergerissen: er selbst behielt die Renoirs, Gertrude bekam die Picassos.
Die Freundschaft zwischen Gertrude Stein und Pablo Picasso ist der Stoff, aus dem kulturhistorische Studien geschrieben werden: zwei Exilierte aus verschiedenen Weltgegenden, die in Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Austausch miteinander und doch jeder für sich die Kunst und damit die Welt! veränderten. Das ist denn auch die These der aktuellen Ausstellung im Musée du Luxembourg, Gertrude Stein et Pablo Picasso, in der die Entstehung und die Nachwirkung der Moderne anhand dieser Freundschaft gezeigt wird.
Aber wenn es eine Freundschaft unter Gleichen war, so war es dennoch eine ungleiche Freundschaft, denn während Picasso ziemlich schnell Erfolg und Anerkennung fand und schließlich zu einem regelrecht populären Künstler wurde, blieb Stein trotz eines kurzlebigen medialen Erfolgs eine Dichterin für Dichter und ist es bis heute. Gerade diese Bekanntheitslücke will die Pariser Ausstellung schließen und suggeriert schon im Titel und in der Werbung eine Gewichtung zugunsten von Gertrude Stein. Das Porträt der Stein, das Andy Warhol 1980 als Bearbeitung des berühmten Porträts, das Picasso 1905 von ihr angefertigt hat, schmückt die Vorderseite des Katalogs, und auf dem Plakat prangt ihr Name in roten Lettern über demjenigen Picassos. Und die Frauen-Zeichnung auf dem Ausstellungsplakat und auf der Rückseite des Katalogs könnte fast als Stein-Porträtskizze verstanden werden. „Pablo malt abstrakte Porträts“, schrieb sie, sie selbst, fuhr sie fort, wolle abstrakte Wort-Porträts schaffen.
So verweist der Untertitel der Ausstellung, L’invention du Language – Die Erfindung von Sprache, auf Steins inhaltliche und formelle Experimente als grundlegende Erneuerung sprach-ästhetischer Gestaltung, eben als Erfindung einer Sprache der Moderne, über die Sprache der Literatur hinaus. Denn wenn im ersten Teil der Ausstellung durch Spiegelungen in Gemälden und Objekten von Picasso Steins Werk neugedeutet und aufgewertet wird, so wird im zweiten Teil durch Bilder, Fotos und Installationen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der anhaltende Einfluss von Steins sprachlichen Experimenten über die Literatur hinaus vorgeführt.
„Paris Moment“ heißt der erste Teil der Ausstellung, in dem zuerst Erstausgaben von Steins Büchern neben Bildern und Collagen Picassos gezeigt werden; in den weiteren Räumen sind dann Werken von Juan Gris und Georges Braque aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu sehen, die einen Eindruck von der unbeirrbaren Lust am Experiment und von dem Anspruch geben, dass Kunst die Wirklichkeit nicht wiedergeben, sondern eine eigene Wirklichkeit darstellen sollte. Wollte Picasso einen Gegenstand gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln darstellen, so dass das kubistische Bild wie das Übereinander mehrerer Bilder aussah, so wollte Gertrude Stein die vielfältigen Motivationen einer Handlung oder Empfindung in ein und demselben Satz ausdrücken, so dass ihre Prosatexte aus langen Parataxen bestehen.
Es ist eine kluge Entscheidung der Ausstellungsmacher, Texte von Stein vorspielen zu lassen, denn erst dadurch wird deutlich, wie die scheinbare Diskontinuität ihrer Textes der kubistischen Kompositionsweise entsprach: Macht erst die Gesamtheit verschiedener Bildeinheiten die Ganzheit der Komposition aus, so macht erst die Akkumulation mehrerer Erzähl-Sequenzen die Realität des Textes aus. Der Künstler in der Literatur bzw. in der Malerei nahm sich die Freiheit, neue Konfigurationen der Wahrnehmung zu schaffen. Der Betrachter eines kubistischen Bildes von Picasso und der Leser eines Prosastücks von Gertrude Stein muss die Ganzheit in der Gebrochenheit erkennen. Die Moderne, soll Picasso einmal gesagt haben, könne man lernen, wenn man es nur wolle.
Vielleicht war dieses neue Sehen leichter zu lernen als das neue Lesen. Jedenfalls fanden Steins syntaktische und narrative Verrenkungen keine allgemeine Leserschaft, aber sie prägten die nachfolgenden Schriftstellergenerationen. Ob in Thornton Wilders Konzept der Zufälligkeit und in Ernest Hemingways bildarmer Sprache oder in den imagistischen Gedichten von William Carlos Williams und in dem fragmentarischen Erzählen der Beat Generation – Steins Spuren sind überall, und zwar nicht nur in der Literatur.
Dementsprechend heißt der zweite Teil der Ausstellung „American moment“ und zeigt Steins gattungsübergreifenden Einfluß auf die bildende und darstellende Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA. Als Vermittlerfigur zwischen einer schon klassisch gewordenen Moderne und einer aufstrebenden Avantgarde wird der Musiker John Cage ausgemacht, der in Zusammenarbeit mit dem Choreographen Merce Cunningham Wiederholungen und minimalistische Variationen à la Stein als Strukturelemente in Musik und Tanz einsetzte. Nicht zuletzt durch diese Choreographien wurde Stein zur Patin eines neuen Tanz- und Musiktheaters wie es Trisha Brown, das Judson Dance Theater oder das Living Theatre betrieben und schließlich populär machten. Auszüge einiger dieser Inszenierungen werden in der Ausstellung gezeigt, ebenso wie Heiner Goebbels’ Musiktheater Hashirigaki, in dem Texte von Gertrude Stein mit Liedern der Beach Boys collagiert werden und das als Musterbeispiel für die Konvergenz der Gattungen dient.
Wie bedeutend Steins Einfluss auf die amerikanische Kunst wurde, ob auf Neuen Realismus, Fluxus oder Pop Art, zeigen die letzten Räume der Ausstellung. Auf Robert Rauschenbergs Centennial Certificate von 1969, seinem Posterentwurf zum 100. Geburtstag des Metropolitan Museums, taucht Gertrude Stein auf, genauer: das Picasso-Porträt, das im Metropolitan Museum hängt; Nam Jun Paik wiederum nannte 1990 eine Roboter-Skulptur aus sieben Fernsehmonitoren und zwei Victrola-Lautsprechern schlicht Gertrude Stein; Deborah Kass inszenierte in einer Fotomontage von 1994, Let Us Now Praise Famous Women, in der sie den Titel eines berühmten Foto-Buchs von Walker Evans und James Agee umwandelte, Stein und ihre Lebensgefährtin Alice. B. Toklas als lesbische Heldinnen eines modernen, freien Lebens.
Dass so unterschiedliche Künstler mit derart unterschiedlichen Mitteln sich immer wieder auf Gertrude Stein beziehen, belegt eindrucksvoll ihren formidablen Nachruhm. Denn tatsächlich war nicht nur Steins ständiges Bemühen um neue Erzählformen wegweisend, sondern auch ihr strenger Kleiderstil und ihre Kurzhaarfrisur; und nicht zuletzt ihre gelassen offen gelebte Homosexualität machten sie zu einer Vorbildfigur zu „unser aller Mutter“, wie Robert Indiana auf seinem Plakat von 1967 für die Oper „The Mother of Us All“ postulierte.
Gertrude Stein et Pablo Picasso. L’invention du langage. Musée du Luxembourg, Paris. Bis 28. Januar 2024. Katalog, brosch., 200 Seiten, 160 Abbildungen. 40 Euro.
https://museeduluxembourg.fr/en/agenda/evenement/gertrude-stein-et-pablo-picasso
Letzte Änderung: 16.12.2023 | Erstellt am: 16.12.2023
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